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S.S. Bukin. Der Norilsker Aufstand 1953: Version der deutschen Kriegsgefangenen

Zum Gedenken an die Tragödie des Volkes, 60 Jahre seit dem Großen Terror,
80 Jahre seit der Kommunistischen Revolution

Wiederherstellung der Erinnerung

Geschichtsarchiv-Almanach

Redakteur-Verfasser
Kandidatin der Geschichtswissenschaft I.W. Pawlowa

Nowosibirsk
Verlag der Sibirischen Filiale der Russischen Akademie der Wissenschaften
1997

Der Artikel wurde mit Unterstützung des Russischen humanitären Wissenschaftsfonds vorbereitet. (Projekt 96-01-00135).

Der Aufstand in den Lagern von Norilsk gehört zu den bedeutendsten Ereignissen, welche die Grundlagen des GULAG-Systems erschütterten. Er war eine unmittelbare Widerspiegelung jener sozial-psychologischen Atmosphäre, die in den Lagerzonen nach Stalins Tod entstanden war. Das Scheiden des Diktators aus dem Leben wurde von den politischen Gefangenen als Wendepunkt im eigenen Schicksal verstanden. In vielen Herzen flammte die Hoffnung auf eine gerechte Überprüfung der Gerichtsakten, die baldige Freilassung auf. Diese Erwartungen von durch Gerüchte genährt, die aus Moskau eintrafen und in denen es um eine Lockerung des grausamen Repressionssystems ging.

Aber schon die erste von L.P. Berija am 27. März 1953 verkündete Amnestie rief bittere Enttäuschung unter den politischen Häftlingen hervor. Sie galt lediglich für Kriminelle und betraf die nach § 58 Verurteilten überhaupt nicht. Dieser Umstand, in Verbindung mit den zunehmenden Erschwernissen und Entbehrungen des täglichen Lagerlebens, schuf eine äußerst angespannte Lage in den Lagerzonen. Bereits der geringste Anlass konnte den Funken zum Zünden bringen und einen Massenausbruch der Empörung auslösen.

Innerhalb der Lager-Kontingente befanden sich nicht wenige Angehörige ausländischer Staaten. In der Regel handelte es sich bei ihnen um Internierte und Kriegsgefangene, die in den Jahren 1948/1949 von Kriegsgerichten verurteilt und in nördliche Lager geschickt worden waren. Die Massen-Repressalien gegen sie wurden drei Jahre später aufgerollt, nach dem Ende des Krieges, und sie hatten offensichtlich einen ganz konkreten Grund. Nachdem die Sowjetunion, wie auch die anderen Länder der Anti-Hitler-Koalition, mit der Repatriierung der Kriegsgefangenen begonnen hatte, fürchtete sie jedoch, die großen Kontingente kostenloser Arbeitskräfte zu erhalten. In allen Lagern kam es zu „Express-Gerichtsprozessen“, in deren Verlauf sich die Kriegsgefangenen in Kriegsverbrecher verwandelten. Über diese Prozesse ist ein großer Komplex an Erinnerungen erhalten geblieben, die sich in einem einzigen gemeinsamen Themengerüst zusammenfassen lassen.

„Das Verhalten des KGB war uns zunächst unklar. Was für ein Ziel verfolgten die Herren mit ihren Fragen? Unter anderem wollten die Peiniger wissen, in welcher Einheit der zu Verhörende gedient und wo er in Russland gekämpft hatte. Anschließend wurde ganz unerwartet die Frage gestellt: wie haben Sie sich versorgt, wenn es in Ihrer Einheit keinen Nachschub an Lebensmitteln gab?

Die harmlose Antwort lautete in den meisten Fällen: „Uns blieb ja nichts anderes übrig, als in den Dörfern Lebensmittel, Schweine, Geflügel usw. zu requirieren“. Nach dieser Aussage kam der Offizier, der das Verhör leitete, zu dem kurzen Schluss: „Sie haben sozialistisches Eigentum geplündert. Dafür ist nach sowjetischen Gesetzen eine Strafe von 10 bis 20 Jahren vorgesehen. In diesem Zusammenhang verurteilten wir Sie zu so und so vielen Jahren Freiheitsentzug“. Diese schnellen grotesken Prozesse waren im Nu in den Lagern bekannt, so dass die „zweite Welle“ der Verhörten sich bemühte geschickter zu antworten. Doch viele von ihnen blieben in den Netzen der sowjetischen „Rechtskundigen“ hängen1.

Nachdem sie in den sibirischen Norden geraten waren, wurden diese Leute nicht zu unmittelbaren Teilnehmern an der Protestaktion, sondern traten vielmehr als deren aufmerksame Betrachter in Erscheinung.. Nach der Rückkehr in die Heimat in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre schrieben viele von ihnen ihre detaillierten Erinnerungen über das, was sie in Sibirien gesehen und erlebt hatten, nieder. In der BRD befasste sich eine spezielle wissenschaftliche Kommission von Historikern mit dem Sammeln solcher Memoiren, die auf Beschluss der Regierung 1956 geschaffen wurde. Das Ergebnis ihrer Aktivität war die mehrbändige „Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs“, sowie ein riesiger Komplex unveröffentlichter Quellen2. Im vorliegenden Artikel wird auf Grundlage dieser in Russland praktisch unbekannten Materialien der Versuch unternommen, den Ursprung, Verlauf und die Niederlage des Norilsker Aufstands im Jahre 1953.

Man muss jedoch sogleich anmerken, dass einzelne Erinnerungen lediglich ein ganz allgemeines Bild der Ereignisse beschreiben oder nur Teil-Episoden enthüllen, die sich in diesem oder jenem Lager ereignet haben. Ihre Autoren machen leider äußerst selten Aussagen über ihre eigene Einstellung zu den Ereignissen, sondern konzentrieren vielmehr und vor allem die Aufmerksamkeit auf Beschreibungen konkreter Fakten. Hier nun ein Beispiel dafür, wie sich eine solche Erinnerung anhört: „ Es kam der Mai des Jahres 1953. Zu dieser Zeit begannen auch die hauptsächlich von West.-Ukrainern organisierten Streiks und Aufstände in allen Lagern des Gorlag. Gleichzeitig stellten etwa 25.000 Häftlinge die Arbeit ein und forderten eine Kommission aus Moskau. Alle Lager waren von Truppen des NKWD umstellt, die als Feuerlinie gedacht waren; nach Moskau hatte man ein Gesuch geschickt, mit der Bitte um Erlaubnis Waffen einzusetzen. Anfangs hatte Moskau eine solche Genehmigung nicht erteilt. Tatsächlich traf auch eine Kommission ein, zu der Vertreter der General-Staatsanwaltschaft der Sowjetunion, des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, der Regierung, Generäle und andere gehörten. Einige Forderungen der Häftlinge wurden angenommen, darunter auch die Strafbefreiung für die Anführer des Ausstands. Die Arbeit sollte wieder aufgenommen werden. Aber sofort verhafteten sie die Anführer. In den Lagerzonen wurden Gefangene erschossen, was zum offenen Aufstand führte. Schwarze Fahnen auf den höchsten Gebäuden, Flugblätter gegen die Sowjetregierung, Bewaffnung der Häftlinge mit Messern, Lanzen, Steinen, usw. Das war gerade im Juni, das heißt zur selben Zeit wie die Ereignisse in Ost-Deutschland3. Doch die Regierung gab den Truppen zunächst nicht die Erlaubnis das Feuer zu eröffnen. Allerdings wurde geschossen und erschossen, aber nur in begrenztem Umfang.

Der Reihe nach wurde der Aufstand in den meisten Lagern niedergeschlagen. Und nur im Lager N° 3 kehrte keine Ruhe ein. Nach dem beinahe drei Monate andauernden Aufstand kam der Befehl aus Moskau Waffengewalt anzuwenden. Den Gefangenen des Lagers N° 3 wurde ein kurzes Ultimatum gestellt, dann begann der Sturmangriff. Die mit Maschinenpistolen bewaffneten Soldaten drangen in die Lagerzone vor und eröffneten das Feuer. Gleichzeitig erfolgten Schüsse aus Maschinengewehren, die außerhalb der Lagergrenzen aufgestellt waren. Die Bilanz – mehrere hundert Tote und hunderte Verwundete. So endet der erste Aufstand in Sowjet-Russland. Nach Norilsk kam es noch an sechs anderen Orten zur Aufruhr, unter anderem in Workuta und Kengir (Mittel-Asien). Nach diesen Aufständen verbesserte sich die Lage in allen Lagern merklich4.

Trotz der Anschaulichkeit dieser Erinnerungen gestattet ihre Gegenüberstellung eine ziemlich deutliche Enthüllung der konkreten Gründe und des Verlaufs des Norilsker Aufstandes, der Forderungen seiner Teilnehmer, seine blutige Niederschlagung mit Waffengewalt. Der Blick von Seiten der ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen, die lange Jahre in den Stalinistischen Lagern verbrachten, die russische Sprache erlernten und sich ganz gut in den Gegebenheiten orientierten, bereichert zweifellos unsere Kenntnis über diesen Aufstand.

Die Norilsker Ereignisse begannen am 7. Mai 1953 und dauerten bis einschließlich August, insgesamt ungefähr 100 Tage. Ausgangspunkt der Unruhen war das Sonderlager N° 5, das im nördlichen Teil von Norilsk lag. Im Frühjahr 1953 befanden sich dort mehrere tausend Gefangene, darunter auch hundert Ausländer: Deutsche, Ungarn, Italiener, Japaner.

Die Organisatoren des Aufstands waren Zugereiste aus der West-Ukraine – wahrscheinlich Nationalisten, die gegen die dort eingerichtete Sowjetmacht bewaffneten Widerstand geleistet hatten. Zuvor waren sie in Zwangsarbeitslagern in Karaganda gehalten worden, wo sie ebenfalls in eine der Protestaktionen verwickelt gewesen und dann in den Norilsker Norden geschickt worden waren. In den Erinnerungen sind ihre Namen nicht genannt, aber hervorgehoben sind der Zusammenhalt, die Entschiedenheit und Tapferkeit dieser Menschen. Und genau sie waren es auch, die zu den Anführern des Aufstands wurden.

Eines Nachts, bald nach Ankunft der ukrainischen Gruppe, wurden im Lager N° 5 vier Häftlinge getötet, welche als Zuträger und Agenten der Lagerverwaltung galten.

Als Tötungswaffe diente eine Spitzhacke, die heimlich in die Wohnzone hineingeschmuggelt worden war – und zwar trotz der sorgfältigen Durchsuchung, die täglich beim Betreten durchgeführt wurde. Es gelang nicht die Initiatoren und Vollstrecker der Aktion zu ermitteln. Der vorliegende Fall besaß weitreichende Folgen. Er schwächte die Kontrollfunktion der Verwaltung über das innere Lagerleben, flößte den noch nicht entlarvten Denunzianten Angst ein, die sich im Verborgenen hielten und es nicht riskierten, mit den operativen Bevollmächtigten in Kontakt zu geraten.

Das Kontingent des Lagers N° 5 arbeitete vorwiegend beim Bau eines sechststöckigen Gebäudekomplexes unweit der Wohnzone. Sie selbst war mit einem doppelten Stacheldrahtzaun umgeben, deren innere Teil 4 m Höhe maß – der äußere 1,7 m. Die süd-westliche Seite der Einzäunung grenzte unmittelbar an die Ziegelfabrik. Die Wachen patrouillierten innerhalb des Areals zwischen den inneren und äußeren Stacheldrahtreihen, die als verbotene Zone galten.

Für die Bauarbeiten wurden auch politische Gefangene aus dem Lager N° 4 sowie dem Frauenlager N° 6 eingesetzt. Sie versuchten miteinander in Kontakt zu kommen, wobei sie sich der Methode der „postalischen Verbindung“ bedienten. Die Notizzettel wurden mit Bindfaden an Steine gebunden, die dann durch den Stacheldrahtzaun geworfen wurden. Wenngleich solche Handlungen verboten waren, maßen die Wachen ihnen keine besondere Bedeutung bei. Aber um einer möglichen Bestrafung zu entgehen, warfen die Gefangenen ihre Zettel nicht einzeln, sondern immer in Gruppen, denn in diesem Fall gab es keinen konkreten Schuldigen.

Der Funke, der schließlich den Aufstand entfachte, war ein Vorkommnis, das sich während eines der gewöhnlichen Informationsaustausche am 7. Mai um die Mittagszeit ereignete; wie gewohnt warfen viele Häftlinge des Lagers N° 5 ihre an Steinen festgebundenen Mitteilungen den Frauen zu, die in der Ziegelfabrik arbeiteten. Die Antworten kamen auf dieselbe Art und Weise. Aber da die Wurfkraft der Frauen schwächer war, viel ein Teil der Steine genau in die verbotene Zone, zwischen die Stacheldrahtreihen. Die Männer versuchten sie mit ihren Händen und mit Hilfe von Stöckchen zu sich heranzuziehen. Es entstand ein Durcheinander, das einen der Posten zu dem Befehl veranlasste: „Weg vom Zaun“. Eine Gefangene maßen der Anordnung jedoch keine Aufmerksamkeit bei und fuhren fort, die Steine zu sich heran zu bewegen. Ein Aufseher näherte sich ihnen. In diesem Augenblick steckte einer der Häftlinge den Stock durch den Stacheldraht, um einen Stein heranzurollen. Der Posten zog die Pistole, schoss und verwundete den Gefangenen am Arm.

Die Häftlinge liefen z7usammen und beugten sich über den Verletzten. Um den Haufen zu zerstreuen, schoss die Wache mehrfach in die Luft. Doch das half nicht. Da wurde eine neue Salve abgefeuert, aber nun schon auf den Boden. Ein weiterer Häftling wurde verwundet. Erst danach gingen die von Zorn ergriffen Lagerinsassen auseinander.

An demselben Tag wurde im Lager N° 5 ein Generalstreik verkündet. Die Behörden versuchten seine Teilnehmer zu besänftigen. Vertreter der Leitung des Norilsker Bergbau- und Metallhütten-Kombinats und der Verwaltung des Gorlag führten mit ihnen Verhandlungen. Allerdings führten diese nicht zu konkreten Ergebnissen, sondern verschärften die Verbitterung nur noch. Die Streikenden forderten eine Kommission aus Moskau an. Am 14. Mai 1953 traf aus dem Landeszentrum ein General-Major des MWD ein, um mit ihnen zusammen zu treffen und die Situation zu untersuchen.

Ihm wurde eine Liste mit Forderungen übergeben. In den verschiedenen Memoiren weichen sie ein wenig voneinander ab, aber insgesamt kann man sich folgendes Bild vorstellen:

1. Ausweitung der Amnestie auf die politischen Gefangenen.
2. Einführung des Acht-Stunden-Arbeitstags (anstelle der üblichen 13 Stunden, einschließlich der Zeit für den Weg hin und zurück).
3. Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Abschaffung der „privilegierten“ Arbeitsplätze.
4. Einführung eines genauen und streng kontrollierten Systems der Buchführung für das Kombinat und seine Unterabteilungen.
5. Die bedingungslose Einstellung der Diskriminierung der nationalen Minderheiten.
6. Absetzung des Lager-Kommandanten.
7. Entfernung der Nummern von der Häftlingskleidung.
8. Entfernung der Gitter von den Fenstern der Baracken und anderer Wohnräume.
9. Einstellung des In-Ketten-Legens von Häftlingen.
10. Auszahlung von nicht weniger als 450 Rubel Arbeitslohn monatlich und Erhöhung der Größenordnung der Geldsumme, die nach Hause überwiesen werden darf.
11. Die Erlaubnis, häufiger Briefe an die Angehörigen schreiben zu dürfen (früher konnten die Gefangenen nur zweimal im Jahr Post versenden).
12. Die Bewilligung des Rechtes, eigene Vertreter zur Klärung von Konflikten mit der Lager-Administration zu wählen.


Kolargon. Straf-Isolator.
Foto: W. Kamyschew

Diese Forderungen betrafen nicht nur die Wirtschafts- und Alltagssituation der Gefangenen, sondern sie berührten auch die Grundlagen des GOLAG-Systems. In ihnen klang klar und deutlich das Bestreben durch, die eigene Menschenwürde zu schützen und zu verteidigen. Offenkundig trat der erste Protest gegen die Extreme des Lagersystems zutage. was sich in der Forderung äußerte, Ordnung in die Statistiken der geleisteten Arbeit, ihrer Bezahlung sowie der Verteilung von Lebensmitteln, Kleidung und Schuhwerk zu bringen.

Nach der Übergabe der Liste mit den Forderungen in die Hände des MWD-Vorsitzenden ging das Lager N° 5 am 16. Mai 1953 wieder zur Arbeit. Aber als am 20. Mai ein Teil des Kollektivs eines der Arbeitstrupps aus dem Lager geführt und an einen neuen Haftverbüßungsort geschickt wurde, loderte der Streik mit einer noch viel größeren Verbissenheit wieder auf.

Bereits in den ersten Tagen wurde die Protestaktion in den Nachbarlagern bekannt. Zwischen ihnen existierte eine gut organisierte Verbindung, die hauptsächlich mittels der freien Angestellten realisiert wurde. Als allererste erklärten die Frauen aus dem Lager N° 6 ihre Solidarität, indem sie am 8. Mai 1953 den Streik verkündeten – zur Unterstützung und verbunden mit einem zweiwöchigen Hungerstreik. Danach sprangen die Ereignisse auf das Lager N° 4 über, aber auch auf die Regime-Lager N° 1, 2 und 3. Anfang Juni traten insgesamt mehr als 20.000 Gefangene nicht zur Arbeit an.

Anfänglich versuchte die MWD-Leitung im Kampf gegen die Politischen so erprobte Methoden anzuwenden, wie das Entsenden von Kriminellen-Gruppen in die meuternden Lager, um mit Gewalt und Terror ihren Willen zum Widerstand zu bezwingen. Doch dieser Versuch zerbrach am Zusammenhalt der politischen Gefangenen. Im Lager N° 2 wurde auf Beschluss des Streik-Komitees eine Liquidierung der Funktionshäftlinge durchgeführt und in der Nacht sechs von ihnen mit Messern erstochen; die übrigen verließen in aller Eile die Zone. Die Macht ging vollständig in die Hände der Gefangenen über.

Auf Beschluss der Streik-Komitees wurden die entlarvten Denunzianten und auch diejenigen, die sich geweigerte hatten mit zu streiken, in Isolierzellen hinter Schloss und Riegel gebracht. An den Lagertoren sowie am Lebensmittel-Vorratslager, bei der Küche, dem Krankenhaus und anderen Objekten wurden Posten aufgestellt. In großem Maße wurden die Vorbereitungen für den bewaffneten Widerstand ins Rollen gebracht. In den Lagerzonen legte man sich einen Vorrat an Messern, Pieken, Dolchen, Flaschen und Zündgemischen an, füllte Benzinkanister, baute Barrikaden. Sogar Angriffshandlungen wurden vorbereitet, darunter auch die Eroberung der streng bewachten Norilsker Radiostation und das Elektrokraftwerk.

In allen Lagern wurden regelmäßig Versammlungen abgehalten, auf denen die Ziele und Programme des Streiks erörtert und erklärt wurden. Um die Aufmerksamkeit der Einwohner von Norilsk auf sich zu ziehen und ein Gefühl der Unterstützung bei ihnen zu wecken, wurden Luftschlangen und Kugeln mit Flugblättern in Umlauf gebracht, in denen die Forderungen der Aufständischen dargelegt wurden. In allen Lagern wurden schwarze Flaggen als Zeichen des Streiks aufgehängt.

Auch die gegnerische Seite begann Vorbereitungen zu treffen. Im Radio wurden die Gefangenen regelmäßig zur Arbeit aufgerufen und versprochen, dass die Organisatoren des Streiks und seine Aktivisten keine Strafe zu erwarten hätten.


Kolargon. Straf-Isolationszelle.
Foto: W. Kamyschewa

Der Staatsanwalt und die MWD-Generäle unternahmen mehrfache Versuche Verhandlungen aufzunehmen, doch sie erwiesen sich als erfolglos.

Gleichzeitig wurden in aller Eile militärische Verbände mit Flugzeugen aus Krasnojarsk in den Norilsker Bezirk verlegt. Alle Lager waren von einem doppelten oder dreifachen bewaffneten Ring umzingelt. Man bereitete sich auf einen Sturmangriff vor. Und der erste Schlag war auf das Frauenlager N° 6 gerichtet, in dem sich etwa 3000 Personen befanden.

Am 10. Juli erfuhren sie, dass Soldatenabteilungen aus Krasnojarsk eingetroffen waren. Vor den örtlichen Soldaten empfanden die Frauen keine Furcht. Viele der Norilsker Kriegsdienstleistenden besaßen eine „Lager-Frau“, und hatten sich mit ihr mitunter sogar ein Kind zugelegt; daher lösten sie bei der Leitung kein Vertrauen aus. Die Krasnojarsker Einheiten waren einer sorgfältigen ideologischen Bearbeitung gegen die meuternden „Volksfeinde“ ausgesetzt.

Am 11. Juli besetzten bewaffnete Soldaten den Eingang und die Zufahrt zum Lager. Am Abend verlangte man von den Frauen das Lagerterritorium zu verlassen. Die Antwort war ein Ausbruch der Entrüstung. Tausende Flüche richteten sich gegen die Soldaten. Neben dem Lager hatte sich eine große Menge Einwohner aus Norilsk versammelt, die ganz offen ihr Sympathien gegenüber den Streikenden und dem Protest in Bezug auf die Behörden zum Ausdruck brachte. Und so setzte sich das bis vier Uhr morgens fort. Im Verlauf der gesamten Nacht wurden die Frauen beharrlich dazu aufgerufen, sich in einen Bereich außerhalb der Lagerzone zu begeben. Um 4 Uhr und 30 Minuten ging der Sturmangriff los. Die mit Knüppeln, Feuerwehr-Äxten und Pionierspaten bewaffneten Soldaten drangen ins Lager ein. Es gab eine ungleiche Kräfteverteilung, und der erbitterte Widerstand wurde erbarmungslos niedergeworfen. 30 Frauen wurden getötet, 80 schwer verwundet. Die vom Lager-Territorium fortgejagten wurden sogleich einem akribischen Sortierverfahren ausgesetzt. Die mutmaßlichen Aktivisten wurden ins Norilsker Gefängnis gebracht.

Anschließend kamen die Männer-Lager an die Reihe. Unter Anwendung von Feuerwaffen wurde der Streik in den Regime-Lagern N° 1, 4 und 5 niedergeschlagen. Etwa 60 Gefangene wurden getötet. Mitglieder der Streik-Komitees, andere Organisatoren der Unruhen wurden in eilig geschaffene Straflager verschickt, um dort ein Ermittlungsverfahren gegen sie einzuleiten.

Unblutig endeten die Ereignisse lediglich im Regime-Lager N° 2, das sich in 30 km Entfernung von Norilsk befand. Dank einer geschickten Falschinformation darüber, dass der Streik in anderen Lagern bereits freiwillig beendet worden war, sowie auch der Durchführung einiger Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeits- und Alltagsbedingungen der Häftlinge gelang es, ihren Willen zum Widerstand zu brechen. Mehr als 80 der aktivsten Streikenden wurden verhaftet, die übrigen machten sich wieder an die Arbeit.

Viel dramatischer entwickelten sich die Ereignisse im Lager N° 3. Über 1000 Soldaten, die aus Krasnojarsk eingetroffen waren, blockierten am 3. August vollständig das Territorium. Am 4. August um 3 Uhr morgens wurde über Lautsprecher ein Ultimatum gestellt: innerhalb von 15 Minuten sollten alle die Lagerzone verlassen haben. Die Häftlinge lehnten diese Forderung ab und rüsteten sich für den Widerstand, indem sie die wichtigsten Plätze einnahmen. Nach Beschuss wurden die Lager-Tore aufgebrochen, und die Soldaten drangen auf das Lagerterritorium vor, indem sie ein völlig unkoordiniertes Feuer aus Automatikgewehren eröffneten. Ungefähr 120 Gefangene wurden getötet, 200 schwer verwundet. Nach der Niederschlagung des Widerstands begann ein sorgfältiges „Durchsieben“ am Haupt-Eingang, das bis 18 Uhr andauerte. Für die herausgefilterten 500 „Anstifter“ wurde sogleich ein rasches Massaker organisiert. Man jagte sie durch ein Spalier von Soldaten, die mit Bajonetten und Knüppeln bewaffnet waren. Während dieser Exekution starben nicht weniger als 50 Mann.

Insgesamt dauerten die Norilsker Ereignisse ungefähr drei Monate. Sie sprangen von Lager zu Lager über, klangen wieder ab, um dann erneut mit aller Macht zu entflammen. Zuerst versuchten die Machtorgane Gewalt zu vermeiden. Vertreter des Zentralkomitees der KPdSU, der Staatsanwaltschaft der UdSSR, hochrangige Beamte des MWD führten mit den Streikenden Verhandlungen. Sie leiteten aktive Maßnahmen ein, um eine Ausweitung des Streiks auf die gesamte Norilsker Region zu verhindern, denn eine Stockung bei den Lieferungen von Nickel, Kobalt und Kupfer hätte sich auf die sowjetische Rüstungsindustrie auswirken können. Wahrscheinlich diente dieser Umstand als Grundlage für den Beschluss schließlich doch von den Waffen Gebrauch zu machen.
Doch der grausam niedergeschlagene Norilsker Aufstand, neben den Meutereien in Workuta, Kengir und anderen Orten, versetzte dem ganzen GULAG-System einen spürbaren Schlag. Die sowjetische Regierung war gezwungen, Reformen in Gang zu bringen. Das bedeutendste Ergebnis war die Umbildung der staatlichen Regime-Lager in gewöhnliche Erziehungs- und Arbeitskolonien mit ihren spezifischen Bedingungen beim Tagesablauf, bei der Arbeit und im Alltagsleben. Man hörte auf, die Gefangenen nachts in ihren Baracken einzuschließen, von den Fenstern wurden die Gitter entfernt, von der Kleidung die Häftlingsnummern5. Sie erhielten das Recht einmal im Monat einen Brief nach Hause zu schreiben - anstatt zwei pro Jahr. Bei Übererfüllung der Norm und Nichtverletzung der Lagerordnung gestattete man den Besuch von Angehörigen; zu diesem Zweck begann man in den Lagerzonen mit dem Bau von Räumlichkeiten im Gasthaus-Stil. Auf bis zu 300 Rubel, anstatt 100, erhöhte sich die Geldsumme, die man ihnen nun für persönliche Zwecke zubilligte. Den besten Arbeitern wurde ab jetzt im Verlauf des Jahres ein dreiwöchiger Urlaub innerhalb des Lagers bewilligt. Dem Personal war es untersagt, sich unflätig gegenüber den Häftlingen zu äußern und mit anderen Mitteln und Methoden ihre Menschenwürde zu verletzen. Den Häftlingen wurde die Möglichkeit zugestanden, sich mit schriftlichen Beschwerden an die höchsten Partei- und Staatsorgane zu wenden, wobei eine Antwort in jedem Fall zu erfolgen hatte. Bei der Einreichung einer Beschwerde musste von der entgegennehmenden Instanz eine beglaubigte Quittung ausgegeben werden. Ein weiteres wichtiges Resultat war auch die Verbreitung des sogenannten Anrechnungssystems. Bei Erfüllung der Produktionsnorm von 100 – 130% zählte ein Tag der Haftstrafe für zwei, bei über 130% - für drei. Vorzeitige Entlassung war schon früher praktiziert worden, doch erfolgte sie immer aufgrund einer Begnadigung seitens der sowjetischen Justiz. Jetzt hatte man dafür eine fest definierte rechtliche Voraussetzung geschaffen.

Im Wesentlichen wurde ein Minimal-Programm an Forderungen realisiert, welche die Streikenden vorangetrieben hatten. In einigen Memoiren deutscher Gefangener Stalinistischer Lager stellt sich die prinzipielle Frage, ob die bedeutsame Milderung der Lager-Ordnung ein Ergebnis des Kampfes der Häftlinge war oder ob sie lediglich zeitlich mit der Durchführung bereits erarbeiteter und geplanter Reformen zusammenfiel. Ehemalige kriegsgefangene Augenzeugen der Ereignisse neigen zu der zweiten Version, denn sie sind der Ansicht, dass die Reformierung des GULAG-Systems zu der damaligen Zeit an der Tagesordnung war. Als definierter Grund wird die niedrige Effektivität der Zwangsarbeit unterstrichen, was die sowjetische Leitung allmählich erkannt hatte. Dabei wäre es unrechtmäßig gewesen, die Wirkung der Portestaktion in den Lagern auf Veränderungen des totalitären Regimes zu unterschätzen. Chruschtschows Kritik am Personenkult Stalins und der Rehabilitierung von Repressionsopfern waren nicht nur ein Ergebnis der politischen und ökonomischen Berechnungen, sondern auch das Resultat des verbitterten Widerstands der Häftlinge.

Anmerkungen

1. D. Bach, Y. Leyendecker. Ich habe geweint vor Hunger. Deutsche und russische Kriegsgefangene in Lagern des Zweiten Weltkriegs. Wuppertal, 1993. S. 88-90.
2. Erinnerungen deutscher Kriegsgefangener über Ereignisse in sowjetischen Regime-Lagern,
konzentriert im 5. Band dieser Geschichte, die aus drei Büchern besteht. Deutsche in Straflagern und Gefängnissen der Sowjetunion. Verlag Kurt Barens. Band 5/1, 5, 5/3. München, 1965.
3. Gemeint ist der Aufstand in Ost-Berlin im Juni 1953.
4. K. Barens. B. 5/2. S. 198-199.
5. Die nach Norilsk verbrachten Häftlinge erhielten eine Nummer beginnend mit dem 1. Buchstaben des russischen Alphabets: A-001bis A-999, danach B-001 bis B-999 usw. Ausländer wurden überwiegend mit dem Buchstaben O, beginnend mit O-001, gekennzeichnet.


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