Die Deportation der deutschen Bevölkerung, die im Jahr 1941 einsetzte, war die logische Fortsetzung der Politik grundloser Massenrepressionen in den 1930er Jahren und die Verletzung grundlegender, in der Verfassung verankerter Rechte sowjetischer Bürger.
Als Gegengewicht zu den in der Verfassung der UdSSR festgelegten Gesetznormen wurde im Grunde genommen eine parallele Gesetzgebung geschaffen, die sich in illegalen Gesetzesakten ziviler und militärischer Behörden äußerte und über das Schicksal ganzer Völker entschied.
Unter den Gesetzesverordnungen, die als Grundlage für die Anwendung von Massenverfolgungen gegenüber der deutschen Bevölkerung dienten muß vor allen Dingen das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR vom 28. August 1941 „Über die Umsiedlung der im Wolgagebiet lebenden Deutschen“ erwähnt werden, das traurige Berühmtheit erlangte. Danach hielt man es für „... erforderlich, die gesamte im Wolgagebiet lebende deutsche Bevölkerung in andere Bezirke umzusiedeln, wobei ihnen Grund und Boden zugeteilt und ihnen staatliche Hilfe beim Sich-Einrichten an den neuen Wohnorten zu gewähren ist“.
Wie aus den informativen Notizen des Krasnojarsker Regionskomitees der WKP (B) vom 8. Januar 1942 „Über die wirtschaftliche und arbeitsmäßige Unterbringung der aus den Wolga-gebieten eingetroffenen deutschen Umsiedler“, waren bis zum 1. November 1941 insgesamt 77 359 Personen von dort in der Krasnojarsker Region angekommen. Sie waren in verschiedenen Bereichen der Volkswirtschaft tätig, darunter: in Kolchosen – 15 037 Familien, in Sowchosen – 716, an Maschinen- und Traktoren-Stationen – 25, bei regionalen Einrichtungen und Unternehmen – 1 529 Familien.
Aktennotizen und –aufzeichnungen, die im Bestand N°. 26 („Krasnojarsker Regionskomitee der WKP (B)“) verwahrt sind, gestatten einen Einblick in die verstreute Ansiedlung und Unterbringung der Deutschen im Mansker, Karatussker, Minusinsker, Biriljussker, Pirowsker und anderen Bezirken der Region. Die Rechenschaftsberichte aus den Bezirken enthalten wiederholt Mitteilungen darüber, daß alle Sonderumsiedler eine Arbeit haben und in separaten, guten eingerichteten Wohnungen untergebracht sind. In den beschönigenden Berichten bleiben allerdings die schwierigen Bedingungen, in die die Deportierten geraten waren, unerwähnt.
Die Dokumente konstatieren, daß die Mehrheit der Sonderumsiedler nicht auf ein Leben in Sibirien vorbereitet war und erhebliche materielle Schwierigkeiten erfahren und hinnehmen mußte. In dem Gesuch einer Gruppe deutscher Sonderumsiedler aus der Kolchose „1. Mai“ im Tjuchtetsker Bezirk lesen wir: „Angesichts der Tatsache, daß sie uns täglich zur Arbeit treiben, bitten wir darum, uns in unserer Lebenssituation zu helfen, sonst gehen wir zugrunde. Vom 20. September bis 8. Oktober 1941 hat man uns aus der Kolchose pro arbeitsfähiger Person täglich 700 Gramm Roggenmehl zugeteilt – und an unsere nichtverdienenden Familienmitglieder jeweils 300 Gramm pro Tag. Es ist nur gut, daß wir zu dem Zeitpunkt, als man uns hierher brachte, etwas Geld in den Jackentaschen hatten, sonst wären wir hier schon längst umgekommen. Schon seit dem 8. Oktober gibt man uns jetzt 1 kg Mehl pro Arbeiter, aber das kann man überhaupt nicht als Mehl bezeichnen – das ist die reinste Spreu“.
In einem Briefwechsel zwischen dem Regionskomitee und den Bezirkspartei-Komitees geben die leitenden Mitarbeiter der letztgenannten Komitees zu, daß „die Stimmung der Menschen nicht unbedingt maßgeblich (nicht schlecht) ist; in letzter Zeit habe die Arbeitsdisziplin abgenommen. Außerdem gäbe es jetzt häufig Arbeitsverweigerungen, und das läge daran, daß nur wenige Tagesarbeitseinheiten verdient würden und die Arbeiter für diese geleisteten Einheiten auch keine Lebensmittel bekämen – kein Brot, keine Kartoffeln, kein Vieh“.
Die bis zur Verzweiflung getriebenen Deutschen befaßten sich eigenmächtig mit dem Roden von Kartoffeln und Mohrrüben in den Gemüsegärten der Kolchosbauern. So nahm in der Kolchose „Zur Erinnerung an Lenin“, im Suchobusimsker Bezirk, der Diebstahl von Kartoffeln durch deutsche Familien Massencharakter an. Fast alle 25 Familien rodeten drei Tage lang Kartoffeln in den Nebenwirtschaften der Kolchosbauern, bis die örtlichen Behörden ihnen schließlichEinhalt geboten.
Ähnlichen Fakten wurde oft keine Aufmerksamkeit geschenkt: alles ließ sich mit den kriegsbedingten Gegebenheiten erklären.
Die Schicksale der Wolgadeutschen standen völlig zu Unrecht, aber konsequent mit den Beziehungen unseres Landes zu Deutschland nach Ausbruch des Krieges in Zusammenhang. Dies wurde den Siedlern selbst bewußt, die zunächst angenommen hatten, daß sie einzig und allein aufgrund ihrer Herkunft, aber aus keinem anderen Grund, nach Sibirien verschleppt worden waren. Trotz der erheblichen Schwierigkeiten reihten sich die Umsiedler überall mit in die Produktionsaktivitäten ein und „erwiesen große Hilfe bei der Erledigung der Ernte-, Feld- und anderer Arbeiten“.
Die deutschen Sonderumsiedler fanden auch als Arbeitskräfte beim Bau der in die Region Krasnojarsk evakuierten Fabriken, in der Bergbau-Industrie, auf den Schifsswerften in Jenisejsk und Prediwinsk, im Kansker Holzverarbeitungswerk in der Waldwirtschaft des „Krasles“-Trustes u.s.w. Verwendung.
Zeugnis über die schwierige wirtschaftliche und alltägliche Situation der Sonderumsiedler, die Industrie-Unternehmen zugeteilt waren, insbesondere derer, die in der Arbeitsarmee arbeiten mußten, gibt eine Notiz „Über die Arbeitsdisziplin in den wichtigsten Betrieben im Jahre 1943“, wo besonders erwähnt wird, daß ein erheblicher Teil der in der Fabrik „Rote Profintern“ arbeitenden Umsiedler an die lokalen Verhältnisse nicht angepaßt ist und für sie nicht die ihnen zustehenden Alltagsbedingungen geschaffen wurden.
Per Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR vom 27. März 1953 wurde ein großer Teil der Deutschen amnestiert. Eine Feststellung der genauen Zahl der Personen, die aufgrund dieses Dokuments auf dem Territorium freigelassenen wurden, ist anhand der im Aktenbestand No. 26 vorliegenden Materialien nicht möglich. 1955 wurden die Einschränkungen in den Rechten der Deutschen und ihrer Familienmitglieder, die sich im Status der Sonderansiedlungbefanden, aufgehoben. Allerdings wurde den Deutschen, die weiterhin unter administrativer Aufsicht blieben, das Recht auf freie Wahl des Wohnortes entzogen.
1953 weigerte sich eine Gruppe von 3000 amnestierten Sonderumsiedlern , als sie – aus Jermakowo kommend – in Krasnojarsk eintraf, sich unter Bewachung an ihren Wohnort zu begeben, mit der Begründung, daß sie „freie Bürger seien und niemand das Recht habe, solche Maßnahmen gegen sie anzuwenden“.
Erst 1972 wurde es den Deutschen gestattet, in andere Bezirke des Landes umzuziehen und in ihre Heimatorte zurückzukehren. Aber das autonome Gebiet der Wolga-Deutschen wurde nicht wiederhergestellt.
1. Zentrum für die Aufbewahrung und das Studium von Dokumenten der neuzeitlichen
Geschichte, Fond 26, Verz. 4, Akte 22, Blatt 21-22.
2. Ebenda, Verz. 3, Akte 105, Blatt 3.
3. Ebenda, Blatt 2-7.
4. Ebenda, Verz. 3, Akte 248, Blatt 56.
5. Ebenda, Fond 2816 „Jenisej-Bau“-Verwaltung des MWD der UdSSR für die Jahre
1949-1953; Fond 4620 „Norilsker Arbeits- und Erziehungslager“ des MWD der UdSSR für
die
Jahre 1941-1953; Fond 5482 Verwaltung des „KrasSpezLes“ des MWD der UdSSR für
die Jahre 1951-1953 u.a.
6. Ebenda, Fond 26, Verz. 4, Akte 15, Blatt 114.
7. Fond 2816, Verz. 42, Akte 1, Blatt 54.
Archiv-Bestand der Reguion Krasnojarsk: Fragen der wissenschaftlichen und
praktischen Nutzung von Dokumenten.
Thesen aus den Vorträgen der wissenschaftlich-praktischen Konferenz in der Stadt
Krasnojarsk am 20. Oktober 1995 – Krasnojarsk, 1995.