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Der Anpassungprozeß der Deutschen unter den Bedingungen der Sonderansiedlung in der Region Krasnojarsk

In den 1930er bis 1950er Jahren wurde die Region Krasnojarsk zu einer Region der Massen-Verbannungen von Kulaken (Großbauern) und verschiedenen ethnischen Gruppen. Die Mehrheit der Sonderansiedler wurde von den sogenannten „gestraften Völkern“ gebildet. Ebenso wie auch in anderen Regionen Sibiriens, war die nationale Zusammensetzung der in die Region Deportierten nicht einheitlich, sondern es gab Polen, Letten, Esten, Litauer, Deutsche, Kalmücken, Griechen, usw. Insgesamt befanden sich laut Angaben des Archivs der Staatlichen Verwaltung für innere Angelegenheiten der Region Krasnojarsk im Jahre 1951 über 170 Tausend Umsiedler unter der Aufsicht von Sonderkommandanturen. Das größte Sonderkontingent bildeten die Deutschen – in der Region gab es mehr als 60 Tausend.

Die deutsche Volksgruppe unterschied sich immer durch ihre hohe Anpassungsfähigkeit. Sie hatte im Laufe vieler Jahrzehnte durch ihre in Rußland lebenden Vertreter eine historische Erfahrung in der Anpassungsfähigkeit gegenüber dem andersnationalen Milieu gesammelt. Die Deutschen wurden zu Teilnehmern an den riesigen Migrationsprozessen, die im Lande vor sich gingen: der Kolonisation im 18. Jahrhundert, den groß angelegten Umsiedlungen im Rahmen der Stolypnischen Agrarreform, der Deportation in den Jahren des ersten Weltkrieges, der Kollektivisierung und Entkulakisierung in den 1930er Jahren.

Fleiß, Diszipliniertheit und Verantwortungsbewußtsein waren die großen Unterscheidungsmerkmale bei den deutschen Umsiedlern in der neuen soziokulturellen Umgebung. Diese Eigenschaften halfen ihnen, die klimatischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu überwinden.1 Verbindungen innerhalb der ethnischen Gruppe wurden sorgfältig gepflegt – ein Tatbestand, der es den Deutschen gestattete, sich gegenüber den aus ihrer Umgebung kommenden Einflüssen zu behaupten.2

Die Deportationen der 1940er Jahre unterschieden sich von den vorangegangenen Migrationen besonders deshalb, weil sie in einem derart großen Ausmaß durchgeführt wurden und zudem Zwangscharakter besaßen. Ganz abgesehen von den Erwägungen der „Staatssicherheit“, strebte die sowjetische Leitung danach, die gewaltsame Umsiedlung für die wirtschaftliche Erschließung der östlichen Landesteile zu nutzen. Unter diesen Bedingungen war die Fähigkeit des Sich-Anpassens für die mit historischer Erfahrung  ausgestatteten Deutschen nun von äußerster Aktualität und stellte eine große Herausforderung dar. Von ihrer Anpassungsfähigkeit hing der physische und kulturelle Erhalt des Ethnos ab.

Der Prozeß des Sich-Einlebens in das fremdartige Milieu verlief sehr schmerzlich und leidvoll. Die bekannten Maßnahmen der zweiten Deportation in die Fischfanggebiete, die Mobilisierung des arbeitsfähigen Kontingents beider Geschlechter in die Arbeitsarmee, das Fehlen der gewohnten Alltags- und Lebensbedingungen an den neuen Siedlungsorten, die Nichtanerkennung ihrer beruflichen Qualifikation, unzureichende Aufmerksamkeit und Rücksicht seitens der Behörden – all dies verlangsamte die Eingewöhnung. Sie zog sich für die Deutschen über den gesamten Zeitraum der 1940er Jahre hin.

Wie Betroffene der Deportationen sich noch erinnern können, vollzog sich in den ersten zwei Jahren eine psychologische Eingewöhnung in die neue Lebensweise. Gerade diese Periode war für die Umsiedler vom physischen und moralischen Standpunkt aus die allerschwierigste.

Das eingetroffene Kontingent stellte für die Kolchoz-Vorsitzenden eine große Hilfe dar, denn die Mähdrescherfahrer, Mechanisatoren und Traktoristen aus der ASSR der Wolgadeutschen ersetzten die an die Front gegangenen ortsansässigen Männer. So machten die Deutschen im Herbst 1941 in einigen Kolchosen des Bolschemurtynsker Bezirks bis zu 50% der vorhandenen Arbeitskräfte aus.3 In den Rechenschaftsberichten der Bezirkskomitees werden sie als gewissenhafte Arbeiter erwähnt.4 Fleiß und Diszipliniertheit halfen den Umsiedlern, ihrer eigenen Meinung nach, damals erneut zu überleben.

Schwere Prüfungen entfielen auf das Los jener Deutschen, die, entsprechend der Anordnung des Rates der Volkskommissare der UdSSR und des Zentralkomitees der Allrussichen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) „Über die Entwicklung der Fischindustrie an den Flußufern Sibiriens und des Fernen Ostens“, zum Fischfang geschickt wurden. In den Jahren 1942-43 wurden in den nördlichen Bezirken der Region aus den Reihen der Sonderumsiedler Fischfang-Kolchosen organisiert. Hervorragende Sachkenntnisse gestatteten es den Deutschen in den administrativen Personalbestand der neu entstandenen Wirtschaften zu gelangen. Nach Angaben der Turuchansker Fischerei-Kolchosvereinigung waren 1944 insgesamt 23 Deutsche Mitglieder des Kolchos-Vorstandes, weitere 29 waren in Revisionskommissionen tätig. In zehn der neuen Wirtschaften übernahmen Deutsche den Vorsitz.5

Die Behörden beeilten sich keineswegs, die Arbeitserfolge der Umsiedler anzuerkennen. Erst in der Nachkriegszeit fallen Vertreter des Sonderkontingents unter die Zahl der Produktionsbestarbeiter, der sogenannten Stachanow-Arbeiter. So findet beispielsweise die hohe Arbeitsproduktiovität der Deutschen Sonderumsiedler im Rechenschaftsbericht der Taijmyrsker Fischerei-Kolchosvereinigung für das Jahr 1945 Erwähnung, wo sie durch Übererfüllung des Plansolls um 160-230% in der Tat 90% der besten Fischer ausmachten.6

1949 sind in der Krasnojarsker Ziegelfabrik N°.1 unter den Bestarbeitern, die „ein Musterbeispiel an selbstaufopfernder Stachanow-Arbeit gegeben“ hatten, 13 Deutsche aufgeführt.7 Einige Sonderumsiedler wurden mit Medaillen „Für tapfere Arbeit während des Großen Vaterländischen Krieges 1941-1945“ ausgezeichnet.8 Wir dürden an dieser Stelle anmerken, daß die Anerkennung solcher Tatsachen keinen Massencharakter besaß. Nicht selten schloß Gebietsexekutivkomitee Sonderumsiedler aus den Ehrenlisten aus, weil sie der deutschen Nationalität angehörten, was wiederum bei diesen eine gerechtfertigte Empörung auslöste.

Am anspruchsvollsten waren jene Umsiedler, die mittlere oder höhere Bildung genossen hatten oder den Reihen der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) angehörten. In der zweiten Hälfte der 1940er Jahre fingen sie nach und nach an, zwar keine leitenden, aber dennoch verantwortungsvolle Posten in verschiedenen Organisationen einzunehmen – als Buchhalter, Ökonomen, Statistiker, Berechner, Brigadeführer oder Gruppenleiter. In vielen Bezirken der Region waren Deutsche innerhalb des Volksbildungssystems tätig, wenngleich man sie nur ungern für pädagogische Aufgaben einstellte und auch nur, weil Mangel an ortsansässigen Lehrkräften herrschte. Die Eingewöhnung von Kommunisten-Umsiedlerm unterschied sich prinzipiell nicht von der Situation des parteilosen Kontingents. Man nahm ihre Partei-Mitgliedsausweise in Verwahrung und verpflichtete sie, die Parteiversammlungen an den neuen Siedlungsorten zu besuchen. Von den NKWD-Organen wurde diese kleine Gruppe von Umsiedlern als ideologisch standhaft und daher für operative Agenturarbeit geeignet gewertet. Die Organisierung der Arbeit und die guten Arbeitsergebnisse nahmen nur in einem unwesentlichen Maße Einfluß auf die materielle Seite im Leben der Sonderansiedler, das durch den Krieg und die Entbehrungen der Nachkriegsjahre, ebenso sowie das große Defizit an männlichen Arbeitskräften, sehr erschwert wurde.

Die Lebensumstände der Deutschen änderten sich erst gegen Ende der 1940er Jahre, als die Männer, welche die Trudarmee überlebt hatten, zurückkehrten, denn dies bedeutete eine Verbesserung der Möglichkeiten bei der Regelung der wirtschaftlichen Verhältnisse in den Familien. Insbesondere war das Krasnojarsker Gebietsexekutivkomitee im Jahre 1948 gezwungen, einen Anstieg an Gesuchen seitens der sonderumgesiedelten Deutschen festzustellen, in denen sie die Bitte äußerten, ihnen eine Entschädigung im Werte des bei der Umsiedlung zurückgelassenen Besitzes zu zahlen. Die regionalen Behörden wandten sich wegen der Bereitstellung der hierfür erforderlichen 14500 Tausend Rubel aus dem Sowjetbudget an den Rat der Volkskommissare der UdSSR.9

Die wirtschaftliche Aktivität der Sonderumsiedler gab auch den Anstoß für das am 26. November 1948 verabschiedete Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR „Über die strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Flucht aus den Orten der obligatorischen Daueransiedlung“, an die die nationalen Kontingentet aus ihren vorherigen Lebensräumen zur ewigen Ansiedlung verschleppt worden waren.10

Nach und nach lebte unter den Sonderumsiedlern das Bestreben auf, einen Beruf zu erlernen und eine Ausbildung zu erhalten. In den Personal-Unterlagen der Deutschen finden sich Gesuche an die Siedlungs- und Bezirkskommandanten, in denen darum gebeten wird, ihnen die Möglichkeit einzuräumen in die Stadt zu fahren, um dort Lehreinrichtungen für eine mittlere Spezial- oder höhere Ausbildung zu besuchen.

Die junge Generation der deutschen Sonderumsiedler im Alter bis zu 25 Jahren wuchs unter den Bedingungen der Deportation auf und war erheblich empfänglicher für den Einfluß des andersnationalen Milieus. Laut Angaben der Volkszählung von 1959 besaßen die junden Altersgruppen der deutschen Bevölkerung die auffälligsten Merkmale sprachlicher Assimilation – bis zu 40% der jungen Deutschen bezeichneten Russisch als ihre Muttersprache.11

Eines der Anzeichen für die Anpassung der Sonderumsiedlergruppen an die neuen Lebensbedingungen war der Anstieg der Geburtenrate. Die Volkszählung von 1959 verzeichnete die Folgen einer verdreifachten Neugeborenenrate in den deutschen Familien erst in den Jahren 1949-1953 , d.h. zehn Jahre nach der Deportation des Volkes nach Sibirien.12

Das Leben im andersnationalen Milieu veränderte die kulturellen Traditionen der Deutschen nur geringfügig. Mit der Anpassung entstanden erneut konfessionelle Verbindungen – an den Wohnorten entstanden kleine Gemeinden (15-20 Personen) von Gläubigen.13 Sie wurden zu Zentren der Wahrung der religiösen und volksmusikalischen Kultur. In den 1950er Jahren schufen die Deutschen ihre eigenen Chöre und Instrumental-Kollektive.

Ein wichtiges Element der Aufrechterhaltung des nationalen Kulturmilieus war die Muttersprache. Mehr als 70% der Deutschen galten aufgrunddessen Ende der 1950er Jahre auch als solche.14 In diesem Zusammenhang halten wir die Meinung E.R. Barbaschinas für berechtigt, daß die Prozesse der aktiven Assimilierung sich nach Aufhebung des Sonderumsiedlungsregimes noch verstärkten, als nämlich den Deutschen das Recht auf Wiederherstellung ihrer Autonomie verweigert wurde. 15

Auf diese Weise erhält der Adaptationsprozeß, der ursprünglich auf das physische Überleben des Ethnos ausgerichtet war, gegen Ende der 1940er Jahre eine andere Bedeutung – das Sichanpassen an die andersnationale Umwelt auf lange Sicht, unter Wahrung der eigenen nationalen Besonderheiten. Wir meinen, daß die Anpassung der deutschen Sonderumsiedler nur notgedrungen als ein materielles und arbeitsmäßiges Sich-Einrichten gewertet werden kann, jedoch keineswegs als Ersatz für irgendwelchen kulturellen Werte.

Insgesamt hatten sich zum Zeitpunkt der Liquidierung des Sondersiedlungsregimes bereits viele Deutsche in der Region eingerichtet, besaßen hier Häuser und Wirtschaften. Zudem blieb der Wunsch nach einer Rückkehr an die Wolga auch weiterhin ein wichtiger und sogar dominanter Punkt in ihrem ethnischen Selbstbewußtsein.

Zum Schluß möchten wir noch anmerken, daß die deutsche Volksgruppe unter den Bedingungen der Sonderansiedlung einen schwierigen Prozeß der Anpassung durchlief. Aber, wie die Volkszählung des Jahres 1959 zeigt, gelang es den Deutschen, in der Verbannung ihre ethnischen Besonderheiten zu bewahren. Das wiederhergestellte Bild der Anpassung der deutschen Sonderumsiedler in der Region kann nicht alle spezifischen Merkmale konfessioneller, familiärer und individueller Besonderheiten im Erscheinungsbild des hier geschilderten Prozesses widerspiegeln. Insgesamt gesehen reproduzierten die Deutschen unter den Bedingungen der Deportation in ihrem ganzen Verhalten und Auftreten jedoch das frühere ethnische Stereotyp.

Anmerkungen

  1. P.P. Wibe. Zur Frage der Faktoren, die die Kolonisationsmöglichkeiten der deutschen Kolonisten in Sibirien (Ende des 19./ Anfang des 20. Jahrh.) bestimmten // Die Rußland-Deutschen: Probleme von Geschichte, Sprache und heutiger Situation. Internationale wissenschaftliche Konferenz, Anapa, 20.-25. Sept. 1995. Moskau, 1996, S. 238.
  2. W.I. Brul. Die Deutschen in West-Sibirien. Toptschicha, 1995, S. 18.
  3. Zentrum für die Verwahrung und das Studium von Dokumenten der neuzeitlichen Geschichte der Region Krasnojarsk, Fond 869, Verz. 1, Akte 19, Bl. 5.
  4. Ebenda, Fond 26, Verz. 3, Akte 107, Bl. 153, 155.
  5. Staatsarchiv der Region Krasnojarsk, Fond-Reg. - 1445, Verz. 2, Akte 5, Bl. 15-20; Fond-Reg. - 1444, Verz. 1, Akte 16, Bl. 61.
  6. Ebenda, Akte 8, Bl. 13.
  7. Ebenda, Fond-Reg. – 2116, Verz. 1, Akte 29, Bl. 49.
  8. Ebenda, Fond-Reg. – 1386, Verz. 1, Akte 3202, Bl. 20-22.
  9. Ebenda, Fond-Reg. – 1386, Verz. 4, Akte 113, Bl. 9-10.
  10. Die Geschichte der Rußland-Deutschen in Dokumenten (1763-1992). Moskau, 1993,  S. 176.
  11. L.N. Slawina. Die Deutschen in der Region Krasnojarsk (einige Ergebnisse der  demografischen und soziokulturellen Entwicklung unter den Bedingungen der Sonderansiedlung) // Die Deutschen Rußlands in der UdSSR (1900-1941). Materialien  der internationalen wissenschaftlichen Konferenz. Moskau, 2000, S. 515.
  12. Ebenda, S. 506.
  13. Staatsarchiv der Region Krasnojarsk, Fond-Reg. – 2384, Verz. 1, Akte 105, Bl. 2-3.
  14. L.N. Slawina. Ukaz. sotch. …, S. 514.
  15. E.R. Barbaschina. Probleme der Assimilierung der Deutschen in Sibirien (1941-1955) // Die Deutschen Rußlands in der UdSSR (1900-1941) …, S. 483-501.

Autorin – Jelena Leonidowna Sberowskaja, Hauptdozentin am Lehrstuhl für allgemeine Geschichte an der Staatlichen Pädagogischen Universität Krasnojarsk. E-Mail-Adresse:
zberovskiy@mail.ru.

Veröffentlicht im Sammelband: „Die geschichtliche Erfahrung der wirtschaftlichen und kulturellen Erschließung West-Sibiriens: Materialien der vierten wissenschaftlichen
Vorlesungsreihe zur Erinnerung an A.P. Borodawkina. – Barnaul, 2003. – S. 332-336.


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