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Zwangsansiedlung in der UdSSR in den 1940er und frühen 1950er Jahren als Lösung sozial-politischer Probleme (basierend auf Materialien der Region Krasnojarsk)

E.L. Sberowskaja, Kandidat der Geschichtswissenschaft,
Dozentin am Lehrstuhl für allumfassende Geschichte an der
Staatlichen Pädagogischen W.P. Astafjew-Universität, Krasnojarsk

Das Studium der Geschichte des Stalinismus ist, dank der „Öffnung“ von früher für streng geheim erklärten Materialien, in den vergangenen Jahrzehnten in rasantem Tempo vorangeschritten. Die Forscher sind ein beträchtliches Stück bei der Enthüllung des eigentlichen Wesens der „Mobilisations“-Ökonomie und der Umformung sozialer Strukturen innerhalb der Sowjet-Gesellschaft vorangekommen; es ist ihnen gelungen, Beweise für den repressiven Charkter des Regimes zu erbringen, zu dem unter anderem auch das System der Zwangsansiedlung im Rahmen der sowjetischen Strafmaschinerie gehörte.

Nachdem die heutigen Historiker die Wechselbeziehungen zwischen Zwangsansiedlung und Repressionen erkannt haben, merken sie an, daß die Massen-Zwangsumsiedlungen verschiedener sozialer Gruppierungen zum Allerweltsmittel für die Lösung eines ganzen Komplexes von Problemen wurde, die in der sich dynamisch verändernden, jungen Sowjet-Gesellschaft entstanden1. In dem die Staatsmacht Zuflucht zu den Deportationen nahm, neutralisierte sie nicht nur das aus moralisch-politischer Sicht unzuverlässige Kontingent, sondern sorgte damit auch für eine „Entladung“ der sozialen Spannungen an den Vertreibungsorten. Diese Verhältnisse treten besonders deutlich bei den Nachkriegsumsiedlungen aus den der UdSSR angegliederten Rayons zutage. So wurden die Familien derer, die aktiven Widerstand gegen die Bestimmungen der neuen Macht geleistet hatten, aus der West-Ukraine, Weißrußland und den Ländern des Baltikums zur Zwangsansiedlung verschleppt: Verurteilte und Ermordete, die sich im illegalen Status von Nationalisten und Banditen befunden hatten sowie Kulaken. An den neuen Siedlungsorten in Sibirien und Mittel-Asien wurden die deportierten Bürger unter die Aufsicht des bereits seit den 1930er existierenden Sonder-Ansiedlungssystems gestellt. Gerade die Sonderansdiedlungsabteilungen, die in der Nachkriegszeit bei den Verwaltungen des Ministeriums für innere Angelegenheiten in den Republiken, Regionen und Gebieten ihre Funktion ausübten, „beaufsichtigten“ sämtliche Lebensbereiche der Zwangssiedler – vom Problem ihres Arbeitseinsatzes bis hin zu gesellschaftlichen Stimmungstendenzen und der familiären Situation der Deportierten. Heutzutage lassen die teilweise veröffentlichten Materialien der Zentral-Archive und die an regionalen Aufbewahrungsorten entdeckten Dokumente teilweise Mutmaßungen darüber zu, inwieweit das System der Zwangsansiedlung ein Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse des stalinistischen Regimes bei der Liquidierung sozial-politischer Probleme war. Der hier vorliegende Artikel ist der eingehenden Begutachtung dieser Frage gewidmet.

In der Region Krasnojarsk war das System der Zwangsansiedlung eines der größten der Nachkriegszeit: 1952 befanden sich hier unter der Aufsicht von 192 Kommandanturen 174134 Zwangssiedler. Insbesondere handelte es sich bei ihnen um nationale „Sonderkontingente“ – Sowjetdeutsche, Litauer, letten, Esten, Kalmücken und andere2. Die Region war im Hinblick auf diese Merkmale führend unter den anderen sibirischen Gebieten. Eine ebenfalls sehr große Anzahl zwangsverschleppter Staatsbürger gab es ansonsten nur noch in Kasachstan und der Usbekischen SSR3. Auf diese Weise reflektiert das damals in Betrieb befindliche System der Zwangsansiedlung in der Region Krasnojarsk in den 1940er und frühen 1950er Jahren in vielerlei Hinsicht die allgemeine Situation, die für derartige Strukturen charakteristisch ist, und sie gestattet es gleichzeitig, auf die in diesem Artikel gestellte Frage eine Antwort zu geben.

Für die Regionen hatte die verstreute Ansiedlung von Deportierten gewisse Folgen. Auf der einen Seite bekamen sie zusätzliche Arbeitskräfte, an denen unter den Bedingungen einer schnellen Erschließung Sibiriens und Mittel-Asiens dringender Bedarf bestand. Andererseits stellte die Ankunft derartiger Menschenmassen die örtlichen Behörden und die NKWD-MWD-Organe im Hinblick auf deren Aufnahme, Unterbringung, das allererste Sich-Einrichten der „Sonderkontingente“ vor Ort, usw. vor eine ganze Reihe von Problemen.

Die Lebensbedingungen der Umsiedler in die Deportationsgebiete wurden vom Moskauer Zentrum in diversen Direktiven bestimmt und definiert. Der von der Sowjet-Regierung beabsichtigte Maßnahmen-Komplex zog die Schaffung von materiellen und allgemeinen Lebensbedingungen in Betracht, die ein Überleben der Menschen unter den neuen klimatischen Verhältnissen und ihre künftige Einbeziehung in den Produktionsprozeß garantieren würden.

Die lange in den Archiven der Region Krasnojarsk zurückgehaltenen Materialien belegen, daß die örtlichen Leiter nicht alle im Zusammenhang mit den Zwangsumsiedlern entstandenen Probleme lösen konnten. Die Hauptgründe für diesen Entscheidungsmangel im Bereich der materiellen und allgemeinen Lebensbedingunen waren die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Kriegs- und Nachkriegszeit und die Gewissenlosigkeit einiger örtlichen Führungskräfte. Insgesamt gesehen erwiesen sich die deportierten Familien als schwächster und verwundbarster Teil innerhalb der entstandenen Situation. Die Fakten der ganzen Unorganisiertheit im Alltag wurden von Zeit zu Zeit von Prüfungskommissionen schriftlich festgehalten. Insbesondere konnte man in einer dieser Notizen aus dem April 1949 lesen: „In der „Kemskoje“-Sowchose, im Kasatschinsker Bezirk, leben 250 Familien von ausgesiedelten Sondersiedlern – Deutsche, Kalmücken, Vertreter der Organisation ukrainischer Nationalisten – in ausschließlich schlechten Verhältnissen. Im Durchschnitt hat 1 Person nicht mehr als 1,5 qm Wohnfläche zur Verfügung, die in denmeisten Fällen auch noch nicht einmal zum Wohnen geeignet ist; außerdem hausen 20 Personen in halb verfallenen Unterständen. Infolgede der Enge und den zum Wohnen denkbar ungeeigneten Räumlichkeiten, leben die Menschen unter unzumutbaren, völlig unhygienischen Bedingungen“4. Die Mitarbeiter der Sondersiedlungsabteilungen, unter deren Aufsicht die Deportierten standen, waren prinzipiell nicht in der Lage die Situation zu verändern. Besorgt um den Erhalt der eingetroffenen Arbeitskräfte, konnten sie an die örtlichen Leiter mit dem Anliegen herantreten, die Schuldigen wegen „der Enthüllung von Mängeln und Mißständen bei der Versorgung der Umsiedler“ eine Verwaltungsstrafe aufzuerlegen.

Indem die sowjetische Leitung auf diese Weise die sozial-politischen Aufgaben zur Neutralisierung des „politisch unzuverlässigen“ Kontingents in den Aussiedlungsgebieten erledigte, provozierte sie praktisch das Auftreten neuer Probleme an den Deportationsorten. Die langandauernde Unorganisiertheit im Alltagsleben bremste die soziale Adaptation der Umsiedler und verstärkte bei ihnen das Gefühl sozialer Schutzlosigkeit und Ungerechtigkeit.

Im Verlauf all der Jahre, in denen die Sondersiedlungssysteme existierten, bestand die Möglichkeit der Entstehung von sozial-politischen Konflikten in den Regionen, in denen „Sonderkontingente“ reichlich vorhanden waren.

Die Sondersiedler nahmen die soziale Ungerechtigkeit unmittelbar nach ihrer Ankunft an den Siedlungsorten besonders heftig wahr. In der Regel wurden die ehemaligen Bürger in ländlichen Gegenden untergebracht, die früheren Berufe der Sondersiedler (an denen es in Sibirien häufig mangelte) fanden bei ihrem Arbeitseinsatz keinerlei Berücksichtigung, und sie konnten auch nicht in ihrer Muttersprache sprechen. Die Realität des neuen Alltags wurde von den Umsiedlern als eine Erscheinungsform von Diskriminierung seitens des Staates in Verbindung mit einzelnen sozialen Gruppen verstanden. In ihren Rechenschaftsberichten vermerkten Mitarbeiter der Bezirkskomitees der WKP (B) im Herbst 1941 die scharfen Ansichten deutscher Umsiedler: „Man hat uns nicht zum Leben hierher nach Sibirien gebracht, sondern zum Sterben; in unserer Republik haben wir im Wohlstand gelebt, und als wir hierher fuhren, da hat man uns versprochen, daß man uns „an eurem neuen Wohnort Getreide und Vieh“ gibt „und ihr dort genau so leben werdet, wie ihr hier gelebt habt“, aber gar nichts bekommen wir hier, und wie wir in Zukunft hier zurechtkommen sollen ist fraglich“6.

Die sozialen Spannungen entstanden durch rechtswidrige Aktionen der Behörde, die den Deportierten das Recht auf Bewegungsfreiheit innerhalb der Regionen ihres neuen Siedlungsgebiets entzogen hatte (Anordnung des Ministerrates vom 8. Januar 1945). Jeder Ortswechsel von Menschen sollte bei der Sonderkommandantur registriert werden. Gemäß Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 26. November 1948, konnte bei Fluchtversuch eine Strafe von 20 Jahren Zwangsarbeit verhängt werden8. Die Sondersiedler werteten die Verschlechterung des Regimes auf unterschiedliche Weise. Aber in ihrem Milieu kursierte stets dr negative Ausspruch: „Wir haben genug von der Sowjetmacht, sie versetzt uns mit ihren Ukasen in Angst und Schrecken, aber wir werden trotzdem so leben, wie wir es wollen“9

Die Feindlichkeit des für sie neuen Sondersiedler-Status und des Sowjet-Regimes traten am deutlichsten bei den deportierten Bewohnern der baltischen Republiken zutage. Viele von ihnen traten auch 5-7 Jahre nach der Umsiedlung ganz demonstrativ nicht den örtlichen Kolchosen bei10. Ihre Position brachten die Litauer Mitte der 1950er Jahre hinreichend offen in Briefen an ihre Verwandten im Ausland zum Ausdruck: „Man muß alle Russen schön im Auge behalten ...; man müßte wirklich manchmal so weit gehen, daß man ihnen alles wegnimmt, was sie besitzen; aber man muß sich wieder beruhigen und die geballte Faust in der Jackentasche lassen“11.

Archivdokumente belegen, daß die Behörden im Moskauer Zentrum und an den betreffenden Orten die Gefährlichkeit des Entstehens sozialer Konflikte im Sondersiedlermilieu sehr wohl begriffen. Um sie zu vermeiden, wurden verschiedene Maßnahmen ergriffen. Alle angekommenen „Sonderkontingente“ wurden über das Territorium der Region förmlich „zerstäubt“: von den Wolgadeutschen wurden jeweils 30-50 in eine Siedlung gesteckt, von den Kalmücken 60-100, von den als politisch „besonders unzuverlässig“ geltenden „Wlassow-Leuten“ nur jeweils 10-2012. Die Sonderkommandanten und ihre Helfershelfer warben aktiv Agenten aus den Reihen der Sondersiedler an. Das weit verzweigte Agentennetz zog sich zusammen und meldete den Aufsichtsorganen das Auftreten von Unmutsäußerungen unter den Deportierten oder Sondersiedler, die gerade dabei waren, sich auf ihre Flucht vorzubereiten.Die Kommandantur-Mitarbeiter merkten in ihren Denunzierungen an, daß die Anwerbung von Agenten und Informanten am schlechtesten bei den Umsiedlern aus dem Baltikum voranging13

Eine besondere Rolle bei der Beseitigung sozialer Probleme wiesen die Behörden der „verstärkten politischen Erziehungsarbeit“ zu. Gespräche, Vorlesungen, sowjetische Kinofilme über die Vorzüge des Spzialismus sollten zum wichtigsten Werkzeug in der Arbeit mit den Sondersiedlern werden. Zur Durchführung der Aufklärungsarbeit betzten die örtlichen Parteiorgane Kommunisten und Komsomolzen aus den Reihen der Sondersiedler. Die in den Archiven verwahrten Dokumente erlauben die Aussage, daß die Propaganda-Kampagne träge verlief und sich hauptsächlich in den Städten entfaltete. Auf diese Weise hatten die an den Orten durchgeführten Maßnahmen zur Neutralisierung der sozialen Unzufriedenheit der Umsiedler einen unterschiedlichen Effekt. Vermutlich erwies sich die ständige totale Kontrolle von Seiten der Sondersiedlungsbehörden über die Deportierten als wirksamstes Mittel, die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit. Insgesamt wurden öffentliche Massenerscheinungen sozialen Protestes under den Sondersiedlern in Krasnojarsk nicht vermerkt. Ihre Unzufriedenheit nahm passive Formen des Widerstandes an – Flucht aus den Zwangsansiedlungsorten, Organisation illegaler religiöser Gruppierungen, Weigerung, sich an den Arbeitsplatz zu begeben, usw. – die keine besondere Gefahr darstellten.

Auf diese Weise sah die sowjetische Führung in der Verschickung deportierter Kontingente in die Zwangsansiedlung eines der Mittel zur Lösung sozial-politischer Probleme. Aber der gewaltige Strom der Deportierten brachte an den neuen Siedlungsorten neue Schwierigkeiten hervor, und die Sondersiedler, weit entfernt von ihren heimatlichen Gefilden, zeigten sich gegenüber den sie unterdrückenden Behörden nicht loyal.

Dadurch, daß sie sich unter strikter Kontrolle seitens der Sonderkommandanturen befanden, waren die Umsiedler gezwungen, sich mit dem Verlust ihres vorherigen Sozialstatus und der neuen „nicht gleichberechtigten“ Lage abzufinden.

Anmerkungen:

1. W.N. Semskow: Sonderansiedlung in der UdSSR, 1930-1960 / W.N. Semskow – Moskau, 2003, - S. 280; N.F. Bugaj: Die Völker der Ukraine in „Stalins Sonderakte“ / N.F. Bugaj – Moskau, 2006, - S.7.
2. Abteilung für Sonderfonds und Rehabilitation (ASFuR) des Informationszentrums der GUWD der Region Krasnojarsk, Zusammenstellung der Verteilung der Siedlungsgebiete der Sondersiedler, Verbannten und Ausgewiesenen in der Region Krasnojarsk am 1. Januar 1952.
3. W.N. Semskow, Sondersiedler in der UdSSR ... – S. 213.
4. Archiv-Agentur der Verwaltung der Region Krasnojarsk, Fond P-1386, Verz. 4, Akte 134, Blatt 14.
5. ASFuR des Informationszentrums der GUWD der Region Krasnojarsk, Fond 6, Akte 2, Blatt 1. Befehle der UNKWD im Jahre 1941, S. 36.
6. Archiv-Agentur der Verwaltung deer Region Krasnojarsk, Fond 26, Verz. 3, Akte 105, Blatt 8.
7. Die Geschichte der Rußland-Deutschen in Dokumenten (1763-1992) // Verfasser: W.A. Auman(n), W.G. Tschebotarewa, Bd. 1 – Moskau, 1993 – S. 176.
8. Ebenda.
9. W.N. Semskow, Sonderansiedlung in der UdSSR, ... S. 163.
10. Archiv-Agentur der Verwaltung der Region Krasnojarsk, Verz. 29, Akte 4, Blatt 35.
11. Ebenda, Verz. 30, Akte 2, Blatt 328.
12. Ebenda, Fond R-2137, Verz. 1, Akte 99, Blatt 101, 102, 105; Fond R-1386, Verz. 4, Akte 71, Blatt 34; Zusammenstellung der Verteilung der Siedlungsgebiete der Sondersiedler, Verbannten und Ausgewiesenen in der Region Krasnojarsk am 1. Januar 1952.
13. Staatsarchiv der Russischen Föderation, Fond R-9479, Verz. 1, Akte 471, Blatt 234.


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