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L.W. Sandanowa, S.A. Metlin Die Sonderumsiedlung der Deutschen aus dem Wolgagebiet und aus Leningrad in die Baikal-Region: Deportationspolitik, Umsiedlungs- und Adaptionsprozesse (1941–1945)

Autor: Sewerjan Anatolewitsch Metlin
 Larissa Viktorowna Sandanowa

Das Studium der Geschichte der sibirischen Verbannung in der Sowjetzeit stellt heute eine aktuelle Forschungsaufgabe dar, was vor allem dadurch bedingt ist, dass an der Wende vom 20. Zum 21. Jahrhundert landesweit eine Menge getan wurde, um die Gründe, wichtigsten Tendenzen, Ausmaße, Folgen der vom Staat durchgeführten Repressivmaßnahmen gegenüber verschiedenen Bevölkerungskategorien in unserem Lande verständlich zu machen. Auch bei den regionalen Forschungen ließen sich bedeutende Erfolge verzeichnen, allerdings ist es zur genaueren Bestimmung der Ausmaße und der Geografie der Sonderumsiedlungen erforderlich, auf die lokalen Dimensionen zurückzugreifen, die statistischen Angaben von ganz konkreten Personen und Schicksalen zu sehen, die ganze Tragik der Situation nachzuempfinden, in welche die Menschen gerieten, als sie zu Opfern der Repressionsmaschinerie wurden.

In den Sowjetjahren wurde Sibirien erneut ein Ziel für Vertriebene und Zwangsarbeiter, wie es schon zuvor der Fall gewesen war. Nach den riesigen Territorien Kasachstans, des Urals, West-Sibiriens begann man ab Anfang der 1930er Jahre in die östliche Region verschiedene «Kontingente» «potenziell gefährlicher Elemente» aus unterschiedlichen Ecken des Landes zu schicken. Auch das Angara-Gebiet – einzigartig in seiner historischen Entwicklung und geografischen Lage, Teil der Region Krasnojarsk und des Irkutsker Gebiets, am Angara-Fluss gelegen – entging diesem Los nicht. Seine Einzigartigkeit besteht darin, dass seine Besiedlung und Urbarmachung der Ländereien im Verlauf von vier Jahrhunderten vor sich ging – als Ergebnis freiwilliger und gewaltsamer Migration von Völkern, wodurch eine besonderes soziokulturelles Umfeld in dieser Mikroregion entstand, was in der Wahrung ureigener Lebenspraktiken zum Ausdruck kam. Auf dem Territorium des Angara-Gebiets lebt eine große Anzahl von Vertretern von Völkern und Volksgruppen unseres Landes, wobei trotz der Vermischung der verschiedenen Kulturen die Urtümlichkeit der Mikroregion erhalten geblieben ist.

Als eines der zahlenmäßig größten gewaltsam umgesiedelten Völker treten die Deutschen in Erscheinung, die 1941 bis 1942 aus der Autonomen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen, der Stadt Leningrad und seiner Umgebung deportiert und verstreut in den Bezirken der Region Krasnojarsk, an der unteren Angara angesiedelt wurden. Auch heute leben ein erheblicher Teil der Sonderumsiedler und ihre Nachfahren auf diesem Territorium, das in naher Zukunft in die Flut-Zone des Bogutschansker Wasserkraftwerks geraten wird, was unausweichlich zum Verlust der meisten Denkmäler der materiellen und geistigen Kultur der Angara-Bewohner führt, unter anderem auch die der deutschen Nationalität.

Ziel unserer Forschungsarbeit ist das Studium der Deportationspolitik des Staates in Bezug auf die Deutschen der UdSSR sowie ihr weiteres Leben in Sibirien. Für die Rekonstruktion eines konkreten historischen Bildes der Geschehnisse benutzten wir Archiv-Dokumente, Zeitungsveröffentlichungen und Erinnerungen von unmittelbaren Teilnehmern der Ereignisse – Deutschen aus dem Wolgagebiet und aus Leningrad. Einen Großteil der Materialien konnten wir im Verlauf von vier Expeditionen durch Sibirien und das Gebiet der Unteren Angara sammeln und bearbeiten, die von einer Mitarbeiter-Gruppe des Wissenschaftlichen Forschungslabors für humanitäre Studien der Staatlichen Universität Bratsk organisiert wurde.

Gegenstand der Forschung sind die Deportationspolitik des Sowjetstaates, die Schicksale der deportierten deutschen Familien, Strategien und Praktiken des Überlebens unter den neuen Bedingungen. Die Feststellung des Kenntnisgrades über dieses Problem brachte uns zu dem Verständnis, dass die Fragen zur sowjetischen Nationalpolitik, den Deportationen, Sondersiedlungen und dem weiteren Lebensverlauf der Deutschen zuerst von ausländischen Autoren erhoben wurden, unter denen die Arbeit von B. Pinkus und F. Fleischhauer «Die Deutschen in Sowjetunion: Geschichte einer nationalen Minderheit im 20. Jahrhundert» besonders hervorzuheben ist, die 1987 veröffentlicht wurde.1 B. Pinkus untermauerte die Gründe für die Deportation, erarbeitete eine Chronologie des Prozesses, beschrieb das Leben der Deportierten in Arbeitsarmee und Sonderansiedlung. Außerdem unternahm er den Versuch, praktisch alle Lebensbereiche der Russland-Deutschen bis in die 1980er Jahre zu beschreiben.
Den Anfang offener Gespräche über Motive und Verlauf der Deportationen machten in den 1980er Jahren in unserem Lande Journalisten und Publizisten, öffentliche und politische Funktionäre, die als erste den versuch unternahmen, Materialien über die Deportationen zu analysieren, wobei sie unter anderem auch über die Schicksale der Deutschen in der UdSSR diskutierten. Die Publizistik motivierte Wissenschaftler zu einer ernsthaften Forschung. Bei der Beantwortung der wichtigsten Frage, wie die Politik der Sowjetmacht gegenüber dem deportierten Volk zu bewerten sei, neigte die Mehrheit zu der Ansicht, dass die Geschehnisse nichts anderes waren als klarer Genozid2.

Das wissenschaftliche Studium der Geschichte der unterdrückten Völker in unserem Lande wurde lediglich durch die Öffnung der Archivbestände möglich. In der vaterländischen Wissenschaft tauchte eine Reihe von Arbeiten auf, die auf Dokumenten basierten, welche zum ersten Mal in den wissenschaftlichen Kreislauf eingebracht wurden; unter ihnen muss besonders die Forschungsarbeit von W.N. Semskowa und N.F. Bugai erwähnt werden.3 Klassifizierung und Periodisierung der Zwangsmigration, Probleme bei der Rehabilitation wurden Gegenstand des Forschungsgebiets von P.M. Poljan. In der Monografie mit dem Titel «Nicht aus eigenem Willen: Geschichte und Geografie der Zwangsmigrationen in der UdSSR», führte der Autor mit Hilfe von Archivdaten und veröffentlichten Materialien eine tiefgehende Analyse der Repressivpolitik des Sowjetstaates, angefangenen mit den 1920er Jahren, durch, wobei die Deportationen in den Jahren des Zweiten Weltkriegs und auch nach dessen Ende, bis hin zum Jahr 1953, einen besonderen Stellenwert einnahmen.4

Die regionale Wissenschaft steht auch nicht still. In den vergangenen zehn Jahren wandten sich auch Wissenschaftler Sibiriens dem Studium der deutschen Ethnie zu, in erster Linie in Bezug auf den westlichen Teil, weil sich gerade hier die größte Anzahl der deportierten Deutschen in der RSFSR befand. Unter den Autoren, die diese Problematik erforscht haben, müssen auf jeden Fall L.I. Oberdörfer, T.A. Tschebykin, W.I. Brühl, A.A. Schadt erwähnt werden, in deren Arbeiten sich die sozialpolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aspekte der Deutschen unter den Bedingungen der Sondersiedlung und der Arbeitsarmee widerspiegeln. Ihre Forschungen wurden zur Grundlage des Sammelwerks «Das gestrafte Volk», das anhand von Materialien der Konferenz «Repressivmaßnahmen gegen die Russland-Deutschen in der Sowjetunion im Zusammenhang mit der sowjetischen Nationalpolitik» (Ìoskau: «Swenja», 1999) entstand.

In Ost-Sibirien war es J.L. Sberoweskaja, die sich als erste an das Studium der Geschichte der Deutschen machte und die ihr Interesse auf die sozial-ökonomische Lage der Jenisseisker Deutschen konzentrierte, welche vorwiegend im Norden der Region Krasnojarsk lebten5. Ihre Forschung basiert hauptsächlich auf Archiv-Dokumenten. Eine ebensolche Vorgehensweise bei der Untersuchung der deutschen Sonderumsiedler und Arbeitsarmisten in Burjatien realisiert auch L.P. Saganowa6. Mit der Frage der Zwangsumsiedlungen als Hauptstudie – dem Umsiedlungsprozess in Ost-Sibirien – befasst sich L.W. Sandanowa7.

Somit hat die Analyse der historischen Literatur gezeigt, dass die Erforschung der Sonderumsiedlung, bei großem Interesse an diesem Thema, sich im Anfangsstadium befindet, so dass der von uns vorgenommene Versuch, die Geschichte der Deportation der Deutschen und den Prozess ihrer Adaptation in den Angara-Dörfern zu erforschen, es in einem gewissen Maße gestattet, das fehlende Wissen aufzufüllen.

Die Studie ist aufgebaut auf einem Komplex historischer Quellen, der sich in veröffentlichte und nicht veröffentlichte Archivmaterialien, mündliche Quellen sowie Material aus periodisch erscheinenden Zeitschriften unterteilen lässt. Zu den veröffentlichten Quellen gehört in erster Linie das Sammelwerk «Die Geschichte der Russland-Deutschen in Dokumenten», verfasst von W.A. Auman(n) und W.G. Tschebotarewa8. Gleichzeitig enthält die Monografie von P.M. Poljan «Nicht aus eigenem Willen: Geschichte und Geografie der Zwangsmigrationen in der UdSSR» eine elementare Liste offizieller Akte der Staats- und Parteiorgane der UdSSR, welche die Zwangsmigrationen oder ihre Folgen betreffen.

Einen besonderen Platz in der Forschungsdatenbase nehmen die unveröffentlichten Archivangaben ein. Für die Arbeit wurden die Bestände der Archivagentur der Verwaltung der Region Krasnojarsk hinzugezogen. Die darin enthaltenen Informationen vermitteln eine Vorstellung von der allgemeinen Zahl der Umsiedler in der Region, der Ansiedlung in den einzelnen Bezirken, der Probleme der Unterbringung sowie der Lebens- und Arbeitsbedingungen.

Wichtig für uns waren die Materialien aus den Beständen des Archivs des Wissenschaftlichen Forschungslabors für humanitäre Studien der „Staatlichen Universität Bratsk“, die als erste in den wissenschaftlichen Kreislauf aufgenommen wurden und ein bedeutenden Teil an Informationen enthalten, die im vorliegenden Artikel vorgestellt werden. Darauf beziehen sich Quellen persönlichen Ursprungs: zahlreiche Interviews mit Bewohnern der Angara-Dörfer, persönliche Dokumente sowie ethnografisches Material. Dabei bestätigen die Informationen, die im Verlauf der Interviews zu Tage kamen, nicht nur die allgemein bekannten Fakten, sondern tragen auch dazu bei, dass die Daten in den wissenschaftlichen Umlauf zuvor unbekannter Zeugnisse über die geschehenen Ereignisse Eingang finden, und, was äußerst wichtig für das Verständnis der Situation in der Vergangenheit ist, vermitteln eine Vorstellung von über Meinungen, Stimmungen und Eindrücke der Menschen selber – der Teilnehmer an den Ereignissen. Leider verfügen wir hauptsächlich über Informationen über Sonderumsiedler aus der Wolgarepublik und viel weniger über Repressalien an den Deutschen im Gebiet Leningrad.

Wie bekannt, wurde in der Anfangsphase des Großen Vaterländischen Krieges, am 28. August 1941, das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR ¹ 20-160 «Über die Umsiedlung der in den Wolgarayons lebenden Deutschen» herausgebracht, dessen Opfer einfache Sowjetbürger deutscher Nationalität wurden. Allerdings wurde bereits zwei Tage zuvor, am 26. August 1941, was ein uns zur Verfügung gestelltes Archivdokument bezeugt, eine Anordnung des Rates der Volkskommissare der UdSSR und des Zentralkomitees der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewisten) verabschiedet, demgemäß «in der Region Krasnojarsk 75000 deutsche Umsiedler eintreffen» sollten9. Auf diese Weise legitimierte und bekräftigte das Dekret vom 28. August 1941 die Beschlüsse, die bereits zuvor in Moskau gefasst und verabschiedet worden waren.

Der Mechanismus zur Realisierung der Umsiedlung wurde vom Repressionssystem bereits in den 1920er-1930-år Jahren entwickelt, als der Prozess der Bauernenteignungen im Gange war. Zur Durchführung der Aktion der Deportation der Deutschen wurde eine Umsiedlungsbehörde beim Rat der Volkskommissare der UdSSR, dem Volkskommissariat für Landwirtschaft, dem Volkskommissariat für Sowchosen, Finanz- und Machtorgane eingesetzt. Für die Erstellung von Listen mit den Namen der zu deportierenden Personen fuhren operative Bezirksgruppen in die Kolchosen, Siedlungen und Städte, wo sie Meldekarten für jede Familie ausstellten, indem sie alle Mitglieder einzeln aufführten. Anschließend erarbeiteten die Gebietstroikas auf Grundlage der von den Bezirksgruppen übermittelten Angaben Zeitpläne für die Lieferung von entsprechenden Waggons.

Neben den operativen Troikas wurden überall Kommissionen zur Annahme des Eigentums der Umzusiedelnden in den Kolchosen und der Schätzung des persönlichen Besitzes der Deutschen gegründet. Die Schätzung des persönlichen Eigentums wurde von einer Bewertungskommission, bestehend aus einem Bevollmächtigten des Volkskommissariats für Landwirtschaft der UdSSR, dem Kolchosvorsitzenden und eines Bankvertreters in Anwesenheit des umzusiedelnden Kolchosbauern, vorgenommen. Die ihren Besitz abgegeben hatten, erhielten eine Urkunde mit Hinweis auf die Summe, die sie am neuen Siedlungsort zurückerhalten sollten, und zwar in Form von Gebäuden oder der Versorgung mit Materialien, um diese zu errichten. Wie Emma Filippowna Schnaider, gebürtig aus dem Dorf Guck in der ASSR der Wolgadeutschen, sich erinnert: «Als wir von der Wolga fortfuhren / unseren ganzen Hof haben wir dort zurückgelassen / und sie haben uns gesagt, dass sie uns hier (in Panowo) alles geben // 1942 haben wir auch eine Kuh bekommen // Denen, die einen Haushalt zurückgelassen hatten, gaben sie wohl auch einen»10. «Zuhause konnten wir noch rechtzeitig alles Korn abgeben, 700 kg Fleisch, Haus und Hof ließen wir zurück, wir kamen hierher / und sie gaben uns nur eine Kuh, und später mussten wir auch noch das Fell abgeben…»11. Aus den Erinnerungen von F.G. Krikau wurde bekannt, dass sie «als wir nach Panowo kamen – Dokumente erhielten, was wir abgegeben hatten – Vieh, Land, das Haus an der Wolga, nichts bekamen wir zurück – bis heute nicht…»12.

Tabelle 1
Antragsliste, eingegangen von wolgadeutschen Umsiedlern über die Ausgabe von Getreide und wie vom 20. Dezember 1941.13

¹ ¹ Bezirksname Getreide Vieh
1 Bogutschansker  - -
2 Karatussker 20 2
3 Keschemsker - -
4 Nasarowsker 35 19
5 Tassejewsker - -

 Analysiert man die Angaben aus der offiziellen Quelle - «Antragsliste, eingegangen von wolgadeutschen Umsiedlern über die Ausgabe von Getreide und wie vom 20. Dezember 1941», kann man zu dem Schluss kommen, dass Vieh und Getreide lediglich in geringen Mengen ausgegeben wurde, und das auch nicht in allen Bezirken. Zudem ging von den Bewohnern des Bogutschansker und Keschemsker Bezirk kein einziges Gesuch ein. So oder so, am 18. November 1943 brachte das Volkskommissariat für Beschaffung der UdSSR eine Direktive heraus, nach der die Verfügung vom 11. November 1941 über die Annahme und Rückerstattung von Getreide an die Wolgadeutschen außer Kraft gesetzt wurde; die Direktive schrieb vor, den Deutschen die Herausgabe von Getreide für die Dauer ihrer Aussiedlungszeit zu verweigern14.

Bei der Realisierung der Deportation gingen die staatlichen Organe mit aller Härte vor: bei Entziehung oder Widerstand war Verhaftung und Zwangsumsiedlung vorgesehen. Es wurden entsprechende Instruktionen für die Durchführung der Deportation erarbeitet, nach denen «die Deutschen prinzipiell das Recht besaßen, Proviant, Kleidung und andere nützliche Dinge mit einem Gesamtgewicht von bis zu einer Tonne pro Familie mitzunehmen»15. Die Realität sah jedoch ganz anders aus. So berichtet beispielsweise A.A. Sitner über diesen tragischen Tag folgendes: «Meine Mama / aus dem Dorf Guck / hat erzählt / dass sie die Deutschen in der Nacht abgeholt haben // erst auf der einen Straßen Seite, in der zweiten Nacht waren wir an der Reihe. Wir konnten rechtzeitig ein paar Sachen zusammenpacken, Fleisch kochen – haben alles in eine Truhe gelegt. Mehr durften wir nicht mitnehmen – es waren zu viele Menschen!»16.

Trotz einiger Störungen verlief die Aussiedlungsoperation im Großen und Ganzen nach Plan, innerhalb des vorgegeben Zeitraums – zwischen dem 3. Und 20. September. Für die Aussiedlung wurden Bezirke im Gebiet Omsk, Nowosibirsk, Irkutsk, das Altai-Gebiet und die Region Krasnojarsk gewählt, wohin man im Herbst 1941 etwa 400000 Personen, hauptsächlich Kinder, Frauen und alte Leute, abtransportieren wollte.

Nur die Erinnerungen der Menschen ermöglichen ein Verständnis dafür, wie die von den Behörden verabschiedeten Beschlüsse tatsächlich verwirklicht wurden. «Sie haben uns aus dem Dorf weggebracht – drei Tage und Nächte lagen wir am Ufer der Wolga / dann brachte man uns auf Schubkähnen nach Engels. Wie Vieh verluden sie uns auf Güterwaggons / alle waren mit Menschen vollgestopft. An den Bahnstationen tauschten wir unsere Sachen gegen Essen. Sie gaben uns Brot, aber nur sehr wenig. Wir fuhren bis nach Ufa, dann nach Barnaul, und am 26. Oktober brachten sie uns zur Station Reschoty / Von dort mit Kuttern nach Bogutschan / Und dann von Bogutschan aus verteilten sie uns mit Ilim-Booten auf sämtliche Dörfer an der Angara. Wer starb – wurde an Ort und Stelle in den Fluss geworfen», - erinnert sich K.K. Schwabenland17. «Für die Kinder bauten sie unter der Decke Pritschen. Wenn man seine Notdurft verrichten musste: nehmen sie die Decke / dort ist der Eimer / in der Ecke / später öffnen sie das Tor und alle raus auf die Straße. Wir waren lange unterwegs, die Kälte hatte bereits eingesetzt, sehr viele Kinder und alte Leute starben. Außer meiner einjährigen Nichte starben alle Kinder, die jünger als sechs Jahre alt waren, keins überlebte», - bezeugt A. Mjasnikowa-Schultheiß18.

Die Geografie verblüfft einen durch ihre Größenordnung – Saratow, Ufa, Alma-Ata, Semipalatinsk, Barnaul, Chakassien, Krasnojarsk und dann weiter entsprechend der Zuweisung – in Kolchosen und Forstwirtschaften am Fluss Angara und seiner Nebenflüsse – die Flüsse Tschadobjez und Kowa.

Vor den leitenden Organen in den Regionen stand eine schwierige Aufgabe – sie sollten innerhalb kürzester Zeit eine riesengroße Anzahl Neuankömmlinge in den Siedlungen unterbringen. Wie bereits weiter oben erwähnt, sollte die Region Krasnojarsk 75000 deutsche Umsiedler aus den Wolga-Rayons aufnehmen19. Tatsächlich trafen am 1. November 1941 17307 Familien in einer Gesamtzahl von 77359 Personen ein, die auf 42 Bezirke der Region verteilt wurden20, darunter der Kemerowsker, Keschemsker und Bogutschansker Bezirk. Leider verfügen wir über keine exakten statistischen Angaben zur Größenordnung zur Bevölkerungszahl der Deutschen, die in die zu erforschenden Bezirke geschickt wurden, allerdings ist bekannt, dass die Zahl der tatsächlich in der Region Krasnojarsk eingetroffenen Personen das Plansoll überstieg. Nachdem wir Berichte von Augenzeugen analysiert hatten, kamen wir zu dem Schluss, dass die Deutschen zur weiteren Arbeit in Kolchosen, Sowchosen und Forstwirtschaften in folgenden Dörfern untergebracht wurden: Klimino, Saledejewo, Ussolzewo, Selengino, Dworez, Aleschkino, Saimka, Panowo, Mosgowaja, Keschma, Prospichino, Tschadobjez, Irba, Wideja, Ust-Kowa.

Ein wichtiger Moment im Leben eines jeden Sonderumsiedlers war ihre erste Begegnung mit der örtlichen Bevölkerung an den neuen Aufenthaltsorten, wie sich im weiteren Verlauf ihre Beziehungen zueinander gestalteten, wenngleich das Zusammentreffen mit den Ortsansässigen für die Mehrheit der in den Siedlungen eingetroffenen Familien schon keine Schicksalsherausforderung mehr darstellte: während der langen Fahrt hatten sie bereits hinreichend Ablehnung und Abneigung gegenüber ihrer Person erfahren. Wie die Deutschen sich erinnern, war das anfängliche Verhalten der Angara-Bewohner ihnen gegenüber negativ («Feinde», «Verräter», «Faschisten»). So berichtet J.I. Becker: «Als sie uns nach Ussolzewo brachten / versammelten sich Kinder am Ufer und warfen mit Steinen – wir waren alle sehr gekränkt und verletzt // Ein Großvater trat heran, jagte alle auseinander und sagte, dass wir genau solche Menschen wären wir sie!»21. «Als man sie nach Saimka brachte, - Deutsche, Deutsche / Sie verhielten sich sehr schlecht / Sie schickten uns los, um die schwersten Arbeiten zu verrichten: Brunnen graben, Bäume fällen, Silage-Gruben vorbereiten…»22 – berichtet eine Bewohnerin des Angara-Gebiets und Augenzeugen der Ereignisse W.P. Kem. Der Sonderumsiedler K.K. Schwabenland erinnert sich: «Die Ortsansässigen in Kamenka benahmen sich uns gegenüber normal / nur hatten sie vor unserer Ankunft Angst – in der Zeitung «Iswestija» hatten sie die Deutschen so dargestellt / 3 Zeichnungen waren da abgedruckt – ein Kohlkopf, Hörner, Eselsohren, anstelle von Händen – Hufe, ein langer Schwanz, wie bei einer Springmaus / Was sind das für Leute – diese Deutschen? // Einer sagt: das sind Menschen wie wir…»23. Einige der befragten Angara-Bewohner halten es auch heute noch für ungerecht, dass ihre Verwandten im Krieg umkamen, «und direkt hier nebenan leben Deutsche»24.

Die eingetroffenen Deutschen wurden in den Häusern der Kolchosbauern sowie in «eigens vorbereiteten Häusern und Wohnungen», in Klubs und Lesestuben-Hütten untergebracht, man zog sie zur Arbeit heran, was durch ein offizielles Dokument bezeugt wird25. Archiv-Dokumente, die uns zugänglich waren, sind größtenteils sehr kurz gehalten und spiegeln nur dürftig wieder, wie es wirklich war. Diese oberflächlichen Zeugnisse erfordern eine detaillierte Präzision und Richtigstellungen dessen, wie die Unterbringung der Menschen in Wirklichkeit vor sich ging und was der Begriff «spezielle Häuser und Wohnungen» eigentlich bedeutet. So ist bekannt, dass insbesondere Umsiedler in kleinen Häusern einquartiert wurden, in der Regel mit jeweils zwei bis drei Familien. Wie E.F. Schnaider sich erinnert, «lebten wir mit drei Familien in einem Haus: unsere, die Roots und noch eine weitere, an deren Nachnamen ich mich nicht mehr erinnern kann. Wir waren sechs, die Roots fünf, die dritte Familie bestand ebenfalls aus fünf Personen. Es gab ein einziges Zimmer und eine Küche mit einem großen Ofen / es war immer kalt // So lebten wir drei oder vier Jahre»26. J.I. Becker sagt aus: «Sie brachten uns in einem Haus mit zwei Wohnungen bei Andrej Ussolzew unter / Einen Gemüsegarten gaben sie uns nicht, und überhaupt hatten wir in der ersten Zeit keinen Haushalt // Menschen halfen uns zu überleben…»27.

Eine untypische Erscheinung für das Gebiet an der Unteren Angara war die Unterbringung der Umsiedler in Erd-Hütten, Schuppen, auf Viehhöfen. Die einzige Tatsache, die von Nachfahren der Deutschen und Einwohnern des Dorfes Wideja bekannt gegeben wurde, bezeugt, dass den Deutschen auf Beschluss des Dorfrats vorgeschlagen wurde, sich außerhalb des Dorfes eine Behausung zu errichten. Die hilflosen Frauen, alten Menschen und Kinder konnten für sich lediglich Laubhütten bauen, was zu ihrem unausweichlichen Tod geführt hätte. Nachdem die Dorfbewohner gesehen hatten, in was für eine elende Lage die Menschen geraten waren, holten sie die Deutschen auf eigenen Initiative in ihre Häuser, um sie dort wohnen zu lassen. Schmarotzertum war keine Lebensregel für die Vertreter dieser ethnischen Gruppe, deswegen bemühten sie sich aus Dankbarkeit ihren Rettern im Haushalt zu helfen. Auf diese Weise starben die Zwangsumsiedler, trotz des rauen Klimas, an der Angara nicht durch Hunger und Kälte, wie es zu derselben Zeit nicht selten an den anderen Siedlungsorten der Deutschen in Sibirien der Fall war. Diese Erscheinung kann man als Besonderheit im Leben der Deutschen im unteren Angara-Gebiet definieren.

Damit einhergehend war die Sicherstellung einer Arbeit für die Sonderumsiedler ein großes Problem. Trotz des Mangels an Arbeitskräften in den Kolchosen wurden sie, laut den Erinnerungen zahlreicher Befragter, lange Zeit (bis zum Beginn der Aussaat) nicht eingestellt. Da die Familien größtenteils ohne Männer und mit bereits betagten Verwandten eintrafen, befanden sie sich in einer sehr schwierigen Lage. Um irgendwie zu überleben, zogen viele Kinder „wie Landstreicher mit einem Sack“ durch die Dörfer und bettelten um Almosen, mitunter mussten sie sich sogar in benachbarte Dörfer begeben.

Die meisten Angara-Bewohner waren hilfsbereite Leute; sie bemühten sich, den Neuankömmlingen zu helfen, so gut sie es vermochten: «Eine alte Frau wohnte allein am Rande des Dorfes – sie rief mich zu sich, um mir etwas zu essen zu geben // Aber Mama wollte nicht, dass ich hinging / Ich bin aber trotzdem hingerannt / sie gab mir zu essen / vieles gab sie mir mit / Brot, Milch, Fisch, und sie meinte: «Esst, damit ihr gesund bleibt!»28. Die erwachsenen Frauen und Mädchen gingen in die Haushalte zum Saubermachen, wofür sie Essen bekamen, sie wuschen Wäsche, nähten und strickten Kleidung. Die Rettung war, dass die meisten Deutschen auch schon vor der Deportation in ländlichen Gegenden gewohnt hatten, und natürlich besondere Merkmale ihrer Mentalität wie Geduld, Diszipliniertheit und Fleiß.

Trotz des recht toleranten Verhaltens seitens der Ortsbevölkerung an der Angara, stießen die Umsiedler an ihrem neuen Aufenthaltsort auf immense Schwierigkeiten. In erster Linie war die Situation von ihrem Hungerdasein, dem Fehlen eines regelmäßigen Einkommens, den ungewohnten Gegebenheiten der Natur und ihrer unbestimmten Rechtslage geprägt. Das letztgenannte Problem war sowohl für die Umsiedler, als auch für die lokalen Behörden besonders akut. Hinzu kam die negative Einstellung einiger Dorfbewohner, die Unkenntnis der russischen Sprache (in den Familien wurde nur Deutsch gesprochen, besonders innerhalb der älteren Generation, und so hatten viele der Verschleppten überhaupt kein Russisch gelernt).

Eine große Katastrophe war für viele Familien die Tatsache, dass sie 3-4 Monate nach ihrer Ankunft an der Angara eine neue Welle von Zwangsmigrationen durchmachen mussten, die mit der Anordnung des Staatlichen Verteidigungs-komitees vom 10. Januar 1942 in Zusammenhang stand und in der folgender Beschluss gefasst worden war: «Zum rationellen Einsatz der deutschen Männer, die zu körperlicher Arbeit tauglich sind… 120000 von ihnen während der gesamten Dauer des Krieges in Arbeitskolonnen zu mobilisieren. Die Mobilisierung hat unverzüglich zu erfolgen und soll bis zum 30. Januar 1942 abgeschlossen sein.»29. Das bedeutete eine erneute Umsiedlung, nur wurden die Deutschen diesmal innerhalb der Region verlagert, in die sie deportiert worden waren. Grund für die wiederholte Deportation war der dringende Bedarf an Arbeitskräften. Wie die Befragten bezeugen, wurden praktisch alle Männer in die Arbeitsarmee eingezogen, obwohl es in zahlreichen Familien sowieso schon kein Familienoberhaupt mehr gab: «Papa holten sie 1942, er war unweit der Station Son / in Chakassien / Er schrieb uns Briefe / Er kehrte zurück / aber auch lange Zeit nach der Freilassung ließen sie ihn noch nicht fort»30; «Unser Vater, Philipp Philippowitsch war in der Arbeitsarmee im Altai-Gebiet, nach seiner Freilassung blieb er dort / Einmal trafen wir uns, aber über sein Leben im Lager wurde nicht gesprochen»31.

Einige Zeit später ergingen noch zwei weitere Dekrete, nach denen am 14. Februar 1942 eine zusätzliche Mobilisierung von Männer zwischen 15 und 55 Jahren und am 7. Oktober 1942 von Frauen im Alter von 16 bis 45 Jahren verkündet wurde.32 Und das stellte die nächste Tragödie des deutschen Volkes dar. «Am 26. Januar 1942 holten sie Papa und den ältesten Bruder fort – sie bauten die Bahnstrecke Reschoty- Bogutschany. Das war wie im Konzentrationslager. Und am 15. Juni mobilisierten sie die Schwester in den Norden – in den Bezirk Dudinka. Der Vater kehrte 1943 zurück, den Bruder verlegten sie 1944 in den Ural. Mich wollten sie ebenfalls mobilisieren, aber der Vorsitzende ließ mich nicht gehen – wer sollte dann die Arbeit machen? Zu guter Letzt holten sie mich dann doch / So geriet ich in die Kolchose nach Kamenka », - erinnert sich K.K. Schwabenland33.

Im Verlauf der Expeditionsreise von 2007 wurde von uns in den Siedlungen Nedokura und Bolturino die Tatsache geklärt, dass an die Mittlere und Untere Angara nicht nur Wolgadeutsche, sondern auch Deutsche aus Leningrad deportiert worden waren. Leider verfügen wir über keine offiziellen Dokumente, die sich auf eine Aussiedlung von Deutschen aus der unter Blockade stehenden Stadt beziehen, lediglich in der Monographie des deutschen Historikers B. Pinkus «Die Deutschen in der Sowjetunion» wurden von den Autoren eine einzige Erwähnung dieses Ereignisses entdeckt: «Ab 17. März wurden rund 26000 Deutsche aus dem Raum Leningrad in plombierten Güterzügen nach Sibirien abtransportiert34. Allerdings zeigen die wenigen Erinnerungen in detaillierter Form, wie dieser Prozess ablief: «Sie gaben an uns Evakuierungszettel aus, die wir ausfüllen sollten – ich gab alle Namen an, und die ganze Familie wurde abtransportiert // Zum Packen gaben sie uns vierundzwanzig Stunden Zeit / es herrschte Krieg // Sie sagten uns: 32 kg pro Person, den Rest konfiszieren wir, aber nichts wurde mitgenommen / Evakuiert wurden wir über den Ladoga-See / es herrschte schreckliche Kälte – bis minus 30 Grad // Und anschließend fuhren wir in offenen Waggons bis Krasnojarsk. Unterwegs bekamen wir zu essen, es gab viel zu essen, die Menschen bekamen Ödeme an den Beinen / schrecklich – viele starben. Unser Opa starb auf dem Weg nach Tjumen / Wie bestatteten ihn in Krasnojarsk» - so haben sich jene tragischen Tage ins Gedächtnis von A.F. Ergardt (Erhardt?) eingeprägt. 35

Es lässt sich vermuten, dass es dennoch für viele Deutsche, vor allem diejenigen, die nicht in den Hohen Norden und nach Jakutien geschickt wurden, eine «lebensrettende» Evakuierung war, wenngleich ihnen später alle Rechte entzogen und sie dem Status der Sonderumsiedler aus der ASSR der Wogadeutschen gleichgestellt wurden. Aus dem Interview mit J.I. Sapega: «Mama hätte in den Norden verschickt werden sollen und nicht an die Angara // Das Kind erkrankte schwer – an Ruhr; und die Großmutter starb auch noch / Man ließ sie in Krasnojarsk // Und den Lastkahn, mit dem sie hätten fahren sollen, – ließen sie untergehen // So kamen wir nach Ust-Kowa»36.

Die Fahrt bis nach Krasnojarsk nahm etwas mehr als einen Monat in Anspruch. Von dort wurde die Mehrheit der Sonderumsiedler gemäß einem Verteilungsschlüssel nach Jenisseisk oder Strelka und auch noch weiter geschickt – in die Dörfer: Klimino, Dworez und Ust-Kowa. «Zuerst kamen wir nach Jenisseisk / Region Krasnojarsk // Dort lebten wir zwei Jahre in einer Baracke // Mama hatte fünf Kinder. Und Vater war stellvertretender Direktor der Sowchose / sie hatten ihn schon in Leningrad nach § 58 verhaftet, er gilt als vermisst // Und hier haben sie die Schwestern des Ehemannes fortgeholt – Lisa und Faina, als wir in Jenisseisk waren // Dann holten sie uns nach Kowa– und auch hier haben wir was abgekriegt…», – erzählt M.I. Sisych37.

Ab den ersten Kriegsmonaten nahm ein Forstbetrieb seinen Betrieb am Fluss Kowa auf, zu dem die Holzverarbeitungsreviere Sisaja und Tschemba gehörten, welche etwa 100 km von der Angara entfernt lagen. Die Befragten erwähnen, dass sie dort unter schwersten Bedingungen lebten und arbeiteten: «Wir hausten in einer Baracke – wir schliefen auf Pritschen, darauf breiteten wir Heu aus / es gab einen Kanonenofen, aber zum Abend hin wurde es immer kalt. 1943-45 gaben sie den Frauen keine Arbeit / Mama wusch für einen Laib Brot Wäsche an der Angara / Die Menschen verhielten sich uns gegenüber sehr, sehr schlecht // "Deutsche! Komm in mein Bett!" / … Es gab ein gemeinsames Badehaus / die Deutschen mussten für alle das Wasser dorthin schleppen – nicht mit Pferden, sondern mit ihren eigenen Händen! // Nach Kriegsende ging Mama arbeiten – sie fällte Bäume, flößte die Stämme ab / bekam dafür nur eine Essensration»38. Als Bestätigung für diesen mündlichen Bericht zitieren wir den Inhalt eines Archiv-Dokuments: «Trotz eines Beschlusses und einer Reihe von Instruktionen seitens des Regionskomitees der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewisten) sowie des Exekutivkomitees des Regionsrats haben die Leiter der Trusts für Forstwirtschaft, des Regionskontors, und des Unternehmens für Chemie- und Holzrohstoffe keinerlei Maßnahmen ergriffen, um normale Wohn- und Alltagsbedingungen für die Sonderumsiedler zu schaffen (in den Unterkünften ist es kalt, feucht, es gibt keine Fensterrahmen, es fehlt an Möbeln). Gänzlich unbefriedigend und unzureichend ist der Arbeitseinsatz der Sonderumsiedler organisiert, besonders bei Arbeiten in den Nebenwirtschaften. Infolge der Unterbringung der Sonderumsiedler in Gemeinschaftsbaracken (jeweils 2-3 Familien in einem Raum) sowie der unhygienischen Zustände in den Siedlungen und Wohnunterkünften, breiteten sich unter den Sonderumsiedlern, besonders den Kindern, ansteckende Krankheiten aus»39.

Auf diese Weise hat die gewaltsame Umsiedlung, die in der Anfangsphase des Großen Vaterländischen Krieges realisiert wurde, die Lage der Deutschen aus dem Wolgagebiet und aus Leningrad von Grund auf verändert. Die Menschen verloren all ihre Bürgerrechte, ihren gesamten Besitz. Nach Meinung der Autoren war der Evakuierungsprozess für die Deutschen aus Leningrad der rettende Moment, sie entgingen dem sicheren Hungertod und dem Leid in der unter Blocklade stehenden Stadt, und an der Angara halfen die Alteingesessenen ihnen dabei, sich in die neuen Bedingungen einzugewöhnen. Die Deportation zog ein kompaktes Miteinanderwohnen ethnischer Minderheiten an Orten nach sich, wo sich nicht ihre historische Heimat befand – an der Unteren Angara.

An ihrem vorherigen Wohnort hatten bei den Sowjetdeutschen andere Methoden bei der Führung des Haushalts, des Hofes, der ökonomischen Traditionen existiert. In Folge der gewaltsamen Migration wurde die vorherige Struktur der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Organisation des Alltagslebens der Deutschen zerstört, es bildeten sich andere Praktiken und Strategien des Überlebens heraus, es kam zu einem Prozess der Zwangsadaptation an die neuen soziokulturellen Bedingungen. Aber das Wichtigste ist, dass die Deutschen es, trotz aller Schwierigkeiten, verstanden, am Leben zu bleiben und ihren moralischen Status zu wahren.

Anmerkungen

1 Pinkus, B. Die Deutschen in der Sowjetunion: Geschichte einer nationalen Minderheit im 20. Jahrhundert / B. Pinkus, I. Fleischhauer. - Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 1987. – 599 S.
2 Wormsbecher, G. Die Deutschen in der UdSSR / G. Wormsbecher // Verlag Snamja. – 1988. - ¹ 11; Kitschichin, À.N. Die Sowjetdeutschen: woher, wohin und warum / À.N. Kitschichin // Militärgeschichtliches Journal. – 1990, ¹ 8. - S. 12.
3 Semskow, W.N. Gefangene, Sondersiedler, Verbannungssiedler, Verbannte und Deportierte (statistisch-geografischer Aspekt) / W.N. Semskow // Geschichte der UdSSR. – 1991, ¹ 5. - S. 151-165; Ebenda. Zur Frage des Ausmaßes der Repressionen in der UdSSR / W.N. Semskow // Sozis. - 1995, ¹ 5. – S. 3-13; Bugai, N.F. Zur Frage der Deportationen von Völkern in den 1930er-1940er Jahren / N.F. Bugai // Geschichte der UdSSR. - 1991, ¹ 2. – S. 23-28.
4 Poljan, P.M. Nicht aus freiem Willen… Geschichte und Geografie der Zwangsmigrationen in der UdSSR / P.M.Poljan. - Ì.: O.G.I. – Memorial, 2001. – 312 S.
5 Sberowskaja, J.L. Sonderumsiedler und sozial-ökonomische Erschließung der nördlichen Bezirke der Region Krasnojarsk in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges / J.L. Sberowskaja // Geistig-geschichtliche Lesungen: Materialien der interuniversitären wissenschaftlich-praktischen Konferenz (26. April 2002) – Krasnojarsk: KrasGASA, 2002. – S. 257-262.
6 Saganowa, L.P. Deutsche Sonderumsiedler in Burjatien (1941-1956): Autoreferat dis. … Kand. D. Gesch.-Wiss. – Ulan-Ude, 2001. – 24 S.
7 Sandanowa, L.W. Die sibirische Verbannung der Stalin-Epoche: Sonderumsiedlung 1930-1950-er Jahre. / L.W. Sandanowa // Sibirische Verbannung: Sammelwerk wissenschaftlicher Artikel. – Ausg. 3 (15). – Irkutsk, 2006. – S. 130-142.
8 Geschichte der Russlanddeutschen in Dokumenten (1763-1992) // Verf. W.À. Auman(n), W.G. Tschebotarewa. - Ì.: NIGUP, 1993. – 244 S.
9 Archivagentur der Administration der Region Krasnojarsk (ÀÀÊÊ). Fond 26. Verz. 4. Dos. 22. Bl. 5.
10 Archiv des Wissenschaftlichen Forschungslabors der operativen Hauptverwaltung der «Universität Bratsk». Fond 1. Verz. 9. Dos. 2. Interview mit E.F. Ussolzewa.
11 Ebenda. Fond 6. Verz. 1. Dos. 1. Interview mit K.K. Schwabenland.
12 Ebenda. Dos. 1. Interview mit F.G. Krikau.
13 Archiv-Agentur der Region Krasnojarsk. Fond 26. Verz. 4. Dos. 22. Bl. 178.
14 Die Deutschen Russlands: Enzyklopädie in drei Bänden / Chefred. W. Karew. – Bd. 2 - Ì.: ERN-Verlag, 2004. – S. 497.
15 Pinkus, B. Die Deutschen in der Sowjetunion / B. Pinkus, I. Fleischhauer. - S 309.
16 Archiv des Wissenschaftlichen Forschungslabors der operativen Hauptverwaltung der «Universität Bratsk». Fond 6. Verz. 11. Dos. 1. Interview mit À.À. Sitner.
17 Ebenda. Verz. 1. Dos. 1. Interview mit K.K. Schwabenland.
18 Mjasnikowa-Schulthaiß, À. In den Abgrund geworfen: über die Umsiedlung der Deutschen nach Sibirien / À. Mjasnikowa-Schulthaiß // „Krasnojarsker Arbeiter“. – 1992, 18. Juli.
19 Archiv-Agentur der Region Krasnojarsk. Fond 26. Verz. 4. Dos. 22. Bl. 5.
20 Ebenda.
21 Archiv des Wissenschaftlichen Forschungslabors der operativen Hauptverwaltung der «Universität Bratsk». Fond 1. Verz.11. Dos. 1. Interview mit J.I. Bekker.
22 Ebenda. Verz.13. Dos. 2. Interview mit W.P. Kem.
23 Ebenda. Verz. 9. Dos. 2. Interview mit K.K. Schwabenland.
24 Ebenda. Verz.13. Dos. 1. Interview mit N.A. Sisych.
25 Archiv-Agentur der Region Krasnojarsk. Fond 26. Verz. 4. Dos. 22. Bl. 5.
26 Archiv des Wissenschaftlichen Forschungslabors der operativen Hauptverwaltung der «Universität Bratsk». Fond 1. Verz. 9. Dos. 2. Interview mit E.F. Ussolzewa.
27 Ebenda. Verz.11. Dos. 1. Interview mit J.I. Bekker.
28 Ebenda.
29 Geschichte der Russlanddeutschen in Dokumenten (1763-1992). – S. 168-169.
30 Archiv des Wissenschaftlichen Forschungslabors der operativen Hauptverwaltung der «Universität Bratsk». Fond 1. Verz. 11. Dos. 1. Interview mit J.I. Bekker.
31 Ebenda. Verz. 9. Dos. 2. Interview mit E.F. Ussolzewa.
32 Geschichte der Russlanddeutschen in Dokumenten (1763-1992). – S. 170-173.
33 Archiv des Wissenschaftlichen Forschungslabors der operativen Hauptverwaltung der «Universität Bratsk». Fond 1. Verz. 9. Dos. 2. Interview mit Ê.Ê. Schwabenland.
34 Pinkus, B. Die Deutschen in der Sowjetunion / B. Pinkus, I. Fleischhauer. - S 311.
35 Archiv des Wissenschaftlichen Forschungslabors der operativen Hauptverwaltung der «Universität Bratsk». Fond 6. Verz. 1. Dos. 1. Interview mit A.F. Ergardt (Erhardt).
36 Ebenda. Fond 1. Verz. 13. Dos. 1. Interview mit J.I. Sapega.
37 Ebenda. Dos. 2. Interview mit M.I. Sisych.
38 Ebenda. Dos. 1. Interview mit J.I. Sapega.
39 Archiv-Agentur der Region Krasnojarsk. Fond 26. Verz. 4. Dos. 22. Bl. 100.

Sibirien und die Verbannung: Siberia and the Exile
Geschichte der Strafpolitik des russischen Staates und Sibirien im XVIII–ÕÕI Jahrhundert


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