Schon immer habe ich mich für die Geschichte meiner Familie interessiert; unlängst bin ich auf einen Aufsatz gestoßen, den ich während meiner Schulzeit geschrieben habe.
„In diesem Jahr werden es sieben Jahre, da mein Großmamachen aus dem Leben schied. Ich denke ganz oft daran, was für ein freundschaftliches Verhältnis wir miteinander hatten. Ständig fühlte ich mich für sie verantwortlich: nach dem Tode des Großvaters erblindete sie, aber sie wollte nicht zu den Hilflosen zählen, sondern blieb stets geduldig und weise. Wir, die Enkelkinder, hielten uns in jeder freien Minute bei ihr auf und gaben diesem geliebten Menschen stets von den leckersten Stückchen etwas ab.
Großmamachen war eine kleine, gebrechliche Frau, liebenswert und uns so vertraut. Wir mochten gern mit ihr über das Leben reden, über die Vergangenheit. Sie erzählte von den Orten, an denen sie aufgewachsen war, von der Wolga, wo sie das Schwimmen erlernte, von den prächtigen Gärten in der Wolga-Region, von ihrer Familie. Sie zitierte Gedichte, sang Lieder, sprach Gebete – und das alles in deutscher Sprache. Mir kam es so vor, als ob ich sie verstand, und ich sprach ihre Worte mit Freude nach. Ich wußte, dass wir Deutsche waren, aber wie kam das, woher waren wir gekommen? Als ich mit Mama an unserem Familienarchiv stöberte, fand ich in Dokumenten auf viele meiner Fragen eine Antwort“.
Die Familie meiner Vorfahren lebte bis September 1941 in der Republik der Wolgadeutschen, in der Ortschaft Kutter, Bezirk Balzer, Gebiet Saratow. Die zahlreiche Verwandtschaft lebte einträchtig miteinander, man pflegte untereinander Kontakte und sorgte sich umeinander. Die Deutschen lebten, wie all die anderen Menschen in der Sowjetunion auch; sie zogen Kinder groß, arbeiteten und freuten sich ihres Lebens. In der Familie von Alexander und Anna-Maria Schmidt gab es 1941 drei Kinder: Sohn Alexander und die Zwillingsmädchen Erna und Irma. Alexander Schmidt arbeitete als Brigadier in einer Traktorenbrigade, Anna-Maria war zu jener Zeit Hausfrau, die beiden Töchter waren gerade erst geboren. In der Familie lebte ferner noch Alexanders Mutter – Amalia Schmidt, geboren 1873.
Am 22. Juni 1941 begann der Große Vaterländische Krieg. Damit endete das friedliche Leben für alle, und für die Deutschen sollte sich dieser schwarze Streifen am Horizont über viele Jahre hinziehen. Den Ausbruch des Krieges verstanden die Deutschen als gesamtnationale Tragödie. Am 28. August 1941 verabschiedet das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR den Ukas „Über die Umsiedlung der in den Wolga-Rayons lebenden Deutschen“, und beschuldigt die Wolgadeutschen damit offiziell der Komplicenschaft mit den deutschen Besatzern.
In Übereinstimmung mit dem Ukas unterlagen die Familie Schmidt und ihre zahlreichen Angehörigen, aus dem Dorf Kutter, Bezirk Balzer, Gebiet Saratow, der Aussiedlung in die Region Krasnojarsk - ebenso wie zahlreiche andere Deutsche. Der gesamte Besitz wurde konfisziert, das Enteignungsprotokoll wurde dem Familienoberhaupt, meinem Großvater Alexander Schmidt, ausgehändigt. Den Umsiedlern wurde gestattet, für jedes Familienmitglied persönliches Hab und Gut sowie Lebensmittel mitzunehmen.
Die Menschen verabschiedeten sich von ihrem Heimatdorf ohne zu wissen, was sie nun erwarten würde. Leere Häuser, brüllendes Vieh, im Stich gelassene Hunde und Katzen. Das Hundegebell, das Weinen und Stöhnen der Menschen war im gesamten Wolgagebiet zu hören. Unter Wachbegleitung wurden die Familien auf Leiterwagen zu den Lastkähnen am Flußufer gebracht, und später ging es dann weiter zur Eisenbahnstation, wo sie auf Viehwaggons verladen wurden – Waggons ohne jeglichen Komfort.
Alexanders ältere Schwester Elisaweta (Elisabeth), die in einem anderen Bezirk wohnte, wurde mit ihrer Familie in die Kasachische SSR deportiert. Dokumenten zufolge fuhr die Familie Schmidt mit fünf Personen am 18. September 1941, mit Zug-Nr. 817, nach Krasnojarsk ab. Bei ihrer Ankunft wurden die Deutschen aufverschiedene Bezirke verteilt,und die Familie Schmidt kam so auf eine Farm in Ischul im Daurischen Bezirk.
Die Ortsansässigen kamen aus ihren Häusern, um sich die hergebrachten Deutschen anzusehen. Es war schrecklich; sie konnten kein Russisch, ihre warme Kleidung reichte für die sibirischen Fröste nicht aus und die Lebensmittel waren bereits zur Neige gegangen. Die Familien wurden in leerstehenden Häusern oder bei russischen Familien untergebracht. Die Familie Schmidt kam zu einer russischen Familie, deren Ehemann und Vater an der Front kämpfte. Anfangs war die Atmosphäre angespannt und abwartend; als erste fanden die Kinder Kontakt zueinander. Die Erwachsenen gingen arbeiten. Die Deutschen waren ohne das Recht auf Bewegungsfreiheit aus ihrer Heimat vertrieben worden, sie befanden sich unter Kommandanturaufsicht und waren gezwungen, sich dort einmal wöchentlich zu melden.
Am 10. Januar 1942 wurde die Verordnung des Staatlichen Komitees für Verteidigungszwecke „Über die Art und Weise des Arbeitseinsatzes vondeutschen Umsiedlern im Einberufungsalter zwischen 17 und 50 Jahren“ verabschiedet.
Im Februar 1942 begann die Massen-Mobilisierung deutscher Männer in Arbeitskolonnen. Großvater Alexander, seine Brüder Jakob und Lokjan kamen in die Einrichtung K-231 im Wjerchnekamsker Bezirk, Gebiet Kirow, wo sie in der Holzbeschaffung arbeiten mußten. Dort hielt man sie hinter Stacheldrahtzaun, unter trostlosesten Bedingungen; sie besaßen keinerlei Rechte, außer dem Recht zu arbeiten. Bei Erfüllung der festgelegten Arbeitsnormen bekamen sie eine Eßration. Der erniedrigenste Umstand bestand darin, dass die Wachbegleiter selber Gefangene waren – Menschen, die wegen ganz realer Verbrechen einsaßen. Diesen Konvois war es erlaubt, die Deutschen nach eigenem Belieben zu verspotten und zu demütigen.
Am 7. Oktober 1942 erging die Verordnung des Staatlichen Komitees für Verteidigungszwecke „Über die zusätzliche Mobilisierung von Deutschen zum Nutzen der Volkswirtschaft er UdSSR“. Im Oktober 1942 fand dann die dritte Massen-Mobilisation von Sowjetdeutschen in Arbeitskolonnen statt, aber diesmal waren davon auch Frauen betroffen, mit Ausnahme derer, die schwanger waren oder Kinder im Alter von bis zu drei Jahren zu versorgen hatten. Amalia Schmidt, die Frau von Alexanders Bruder, wurde diesmal in die Arbeitskolonne einberufen; sie besaß zwei Kinder, die älter als drei Jahre waren. Auf Großmamas Armen befanden sich Sohn Alexander (geb. 1938), Tochter Emma (geb. 1940); außerdem gehörten zur Familie noch Schwiegermutter Amalia Georgiewna (geb. 1873), Neffe Ludwig (geb. 1934) und Nichte Irma (geb. 1937), deren Eltern in Arbeitskolonnen geholt worden waren. Sowohl Russen als auch Deutsche hatten ein schweres Leben. Großmamachen ging, wie alle anderen Frauen auch, zum Arbeiten in die Kolchose, wo sie alle anfallenden Arbeiten erledigen mußte, um nur irgendwie ihre Kinder durchzubringen; sie nagten am Hungertuch. Tagsüber arbeitete sie für sogenannte Tagesarbeitseinheiten, nachts saß sie mit ihrer Schwiegermutter zusammen und strickte und nähte, um die fertiggestellten Sachen gegen Lebensmittel einzutauschen. Dann widerfuhr der Familie neues Unheil: Tochter Emma wurde krank und starb vor ihren Augen. Es war Großmama nicht möglich gewesen, die Tochter zu einem Arzt zu bringen, denn das Krankenhaus befand sich mehrere dutzend Kilometer entfernt, und einen Leiterwagen hatte der Kolchosvorsitzende ihnen nicht zur Verfügung stellen wollen. Die Tochter stirbt, und Großmama gräbt mit ihren eigenen Händen und der Hilfe von Nachbarsfrauen ein Grab; mit dem Schlitten bringt sie das Kind zum Friedhof. Großmama hat oft mit großer Dankbarkeit an die einfache Russin Aksinja zurückgedacht, die selber sechs Kinder hatte, deren Mann an der Front war; und dennoch hatte sie stets eine Möglichkeit gefunden, für das kranke Mädchen einen Krug Milch von der eigenen Kuh zu bringen. Großmutter sagte, dass sie vor dieser Frau in einer mit nichts bezahlbaren Schuld stünde: sie hatte einem fremden Kindchen Milch gebracht und diese Milch damit gleichzeitig ihren eigenen Kindern vorenthalten.
Ende 1943 kehrte Großvater Alexander schwerkrank nach Hause zurück; er hatte die offene Form der Tuberkulose. Großmama und die Urgroßmutter taten alles, um sein Leben zu retten: in den Nächten nähten sie, strickten und häkelten Schals, Tischtücher und Bettdecken, um all diese Gegenstände gegen Milch, Butter und Brot für den Kranken einzutauschen.
Das hausgemachte Essen und die Fürsorge der Verwandten halfen dem Großvater wieder auf die Beine zu kommen. Der Großvater erinnerte sich nur selten and die Jahre, die er in er Einrichtung K-231 verbracht hatte, aber in der Familie erinnert man sich noch sehr gut an eine Ärztin, die ihm half zu überleben und nach Hause zurückzukehren. Der Großvater war einmal ein gesunder, körperlich kräftiger Mann gewesen. In der Trudarmee mußte er viel und hart arbeiten; sie lebten dort unter unmneschlichen Bedingungen, bekamen wenig und schlecht zu essen, und zusätzliche Rationen erhielten nur diejenigen, welche die Norm übererfüllten. Der Großvater begann an völliger Erschöpfung zu leiden, und dann bekam er offene Tuberkulose. Man brachte ihn ins Lazarett. Unter den Ärztin war eine georgische Frau, eine politische Gefangene. Sie bekam aus Georgien immer Pakete mit Lebensmitteln, und die verteilte sie dann fast vollständig unter den Kranken, und bei der ärztlichen Visite sagte sie zum Großvater jedesmal: „Du bist noch jung und stark, du mußt überleben und zu deiner Frau und deinen Kindern zurückkehren!“ Ihre Güte und Anteilnahme flößten den Menchen Hoffnung auf das weitere Leben ein. Nach den Erzählungen der Großmama, hatte der Großvater immer davon gesprochen, dass es gute und schlechte Menschen gibt, aber dass man sie niemals nach ihrer Nationalitätenzugehörigkeit unterscheiden dürfe. Und Großmama meinte, dass sie ein glücklicher Mensch wäre, dass sich um sie herum nur gute Menschen befänden, dass nur dank deren Güte und Mitleid die Familie hatte überleben können.
Die einen waren dabei, den Sieg an der Front zu schmieden, die anderen gingen ihrer Arbeit im Hinterland nach. Die Menschen verschiedener Nationalitäten hatten doch alle die gleiche Heimat, und nur gemeinsam konnten sie diese harte Schicksalserprobung durchstehen. Das Jahr 1945 – der Sieg! Diese Neuigkeit brachte der Brigadier mit aufs Feld. Alle umarmten sich, weinten. Die helle Frühlingssonne versprach ein neues, freies, glückliches Leben, aber die Deutschen hatten fremde Schuld auf sich geladen.
Es gelang nicht die Träume von einem freien Leben zu verwirklichen.
1945 erging eine Verordnung des Rates der Volkskommissare der UdSSR „Über die rechtliche Lage der Sonderumsiedler“, 1948 wurde der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die strafrechtliche Verantwortung bei Flucht aus den Orten dauerhafter Ansiedlung durch Personen, die während des Vaterländischen Krieges in entlegene Bezirke der Sowjetunion ausgesiedelt wurden“ verabschiedet. „Für eigenmächtiges Sichentfernen (Flucht) aus den Orten der Zwangsansiedlung werden diese Aussiedler für „schuldig befunden und unterliegen damit der Heranziehung zu strafrechtlicher Verantwortung. Das Strafmaß ist auf 20 Jahre Zwangsarbeit festgesetzt“.
Man mußte sich mit dem Schicksal abfinden und nur der Glaube an die Freiheit, die Träume von einem besseren Leben, der Rückkehr in die Heimat an der Wolga und die Sorge um die Familie halfen den Menschen in Würde zu leben und zu arbeiten. Das Leben ging weiter; im Mai 1947 wird Sohn Jakob geboren, aber in der Geburtsurkunde wird als Tag der Geburt der 14. Juni angegeben. Warum? Der Dorfrat befand sich in der Bezirksstadt Daursk. Der Mai war der Monat der Aussaat. Der Kolchosvorsitzende war nicht bereit, ein Pferd für die Fahrt nach Daursk zur Verfügung zu stellen, um das Kind dort registrieren zu lassen, und um einer Bestrafung wegen verspäteter Meldung der Geburt zu entgehen (laut Verordnung aus dem Jahre 1945 waren die Familienoberhäupter verpflichtet, innerhalb von drei Tagen der Sonderkommandantur des NKWD Veränderungen innerhalb des Familienbestands mitzuteilen), war die Familie Schmidt gezwungen, das tatsächliche Geburtsdatum des Kindes vor den NKWD-Organen geheimzuhalten.
1955 wird der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die Aufhebung der Beschränkungen in der Rechtslageder Deutschen und ihrer in Sonderansiedlung befindlichen Familienmitglieder“ verabschiedet.
Es begann ein neues, freies Leben, und um der schrecklichen Vergangenheit zu entkommen, zieht die Familie von Alexander und Anna-Maria Schmidt zur Nowosjelowsker Schafzucht-Sowchose um. Es begann eine neue Zeitrechnung, und in dieser Zeit nehmen mein Großvater und meine Großmama einen würdigen Platz ein: man bezeugt ihnen gegenüber Achtung und Ehrerbietung. 1951 wird Tochter Emma geboren, 1955 Tochter Maria, 1961 Olga. Innerhalb der Familie sprach Urgroßmutter Amalia nur Deutsch, und sie fand immer genügend Zeit, um die deutschen Traditionen zu wahren und sie auch aihre Enkelkinder weiterzugeben. In der Familie wurden die Erwachsenen ausschließlich mit „Sie“ angeredet, was die anderen Dorfbewohner in großes Erstaunen versetzte; aber die Autorität des Älteren warunbestreitbar, und Großvater Alexander war der Herr im Haus. Großmama war eine sehr weise, bemerkenswerte Frau; sie konnte hervorragend deutsche Gerichte kochen; bis heute existieren in der Familie noch deutsche Rezepte..... Nach den Erzählungen der Großmama war Alexander Schmidt ein kluger und zielstrebiger Mann, und er hatte einen Traum – er wollte so gern eine gute Ausbildung bekommen, aber leider wurde dieser Lebenswunsch durch den Krieg, die schlechte Gesundheit und die Nachkriegsereignisse grundlegend korrigiert. Sein Traum wird nun in seinen Kindern ist mit dem Leben anderer Rußlanddeutscher vergleichbar.
Das Leben meiner Familie und aller Rußlanddeutschen in der Sowjetunion wurde durch folgende Ereignisse beeinflußt: Krieg, Deportation, Repressionen. Die Folge davon waren moralische Erniedrigung, physische Vernichtung, der Abbruch verwandtschaftlicher Beziehungen, Veränderungen in der Familienordnung. Des weiteren der Verlust von Kultur, Sprache und Traditionen.
Alexander Schmidt starb 1994, Anna-Maria Schmidt im Jahre 2000. Die Erinnerung an das Schicksal meiner Vorfahren ist in unserer Familie heilig. Die Geschichte unserer Familie besagt – für Repressionen darf in der Gesellschaft kein Platz sein. Das Leben des Menschen ist unantastbar, und nur er selbst trifft die Entscheidung über Veränderungen in seinem Schicksal. Ewiges Andenken den Umgekommenen, eine tiefe Verbeugung gegenüber denen, die diese schreckliche Tragödie durchgemacht haben.
Der Artikel wurde auf Grundlage des Sammelwerks „Die Geschichte der Rußlanddeutschen in Dokumenten“ und des Privatarchivs der Familie Schmidt verfaßt.