Vortrag auf der Konferenz "Geschichte gegen Propaganda". Prag, 2015
Aleksej Babij, Krasnojarsker «Memorial»-Organisation
Aleksej Babij – Vorsitzender der Krasnojarsker «Memorial»-Organisation. Er ist seit 1988 in der Organisation tätig, seit 2003 leitet er die Arbeitsgruppe, die die «Bücher der Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen in der Region Krasnojarsk» herausbringt. Regelmäßig hält er Lektionen zu diesem Thema ab und bringt Fachveröffentlichungen. Mitglied des russischen Schriftstellerverbandes.
Ich möchte über die Versuche sprechen, das Gedenken an Stalin in verschiedenen Städten wiederherzustellen. Wir haben drei solcher Versuche in unserer Stadt abgewehrt, das heißt wir sind in einem gewissen Sinne Rekordhalter. Warum ist es so wichtig, es nicht zuzulassen, dass ein weiteres Denkmal errichtet wird? Weil abgesehen von derart großen Kämpfen, die beispielsweise in Perm-36 vor sich gehen, auf dem restlichen Territorium Russlands ein Positionskampf stattfindet. Auf der sich widersetzenden Seite treten Menschen auf, die ich nicht als Nicht-Stalinisten oder Neostalinisten bezeichnen würde, sondern, sagen wir, als Leute, welche den Zustand des vergangenen Staates und die Zukunft auf unterschiedliche Weise verstehen. Sie versuchen ständig, Kästchen anzukreuzen, um sich ein bestimmtes Territorium zu sichern. Wenn in irgendeiner Stadt ein Denkmal zu Ehren Stalins errichtet wird, dann hat das eine symbolische Bedeutung, weil wir in dieser Stadt irgendeinen taktischen oder strategischen Höhepunkt zu verzeichnen hatten, die Gegenseite jedoch dagegen ankämpft. Und das geschieht an ganz unterschiedlichen Orten: gelingt es oder gelingt es nicht, diesen oder jenen Artikel im Buch der Erinnerung abzudrucken, wird es erfolgreich sein, ein Denkmal für die Opfer der politischen Repressionen in dieser oder jener Ortschaft aufzustellen oder nicht – so sieht die Seilzug-Technik aus, der ständige Kampf um die Position.
Zunächst möchte ich etwas ganz Wichtiges sagen, was gestern im Vorbeigehen Alexander Daniel berührte, und ich denke es ist von großer Bedeutung. Als wir zum ersten Mal der Errichtung eines Stalin-Denkmals entgegenwirkten, führten wir dagegen eine Unterschriftensammlung durch. Das war 2005, und etwa 50 Prozent der Bevölkerung unterzeichneten – und ungefähr 50 Prozent nicht. Diese Aktion fand direkt am Bürgermeisteramt statt. Interessant ist folgendes Phänomen: die Leute, die ihre Unterschrift nicht gegen die Errichtung des Denkmals geben wollten, meinten, mit dem Finger auf die Bürgermeisterei weisend: «Wenn Stalin dahin kommen würde, würde er die alle erschießen.» Das heißt, worum geht es hier? Darum, dass in Wirklichkeit eine der Stützen des heutigen Stalinismus bei uns vornehmlich auf einem Mythos basiert, das bereits auf dem 20. Parteitag der KPdSU generiert wurde, darum, dass während der Repressionen vor allem die vielschichtige Elite zu leiden hatte – Wirtschaftsfunktionäre, Parteifunktionäre, die Intelligenzia usw.
In dieser Logik, sofern jetzt eine neue starke Hand , ein neuer Stalin, kommt, soll er eben gerade diese Elite, diese Korruption betreibenden Personen, die an der Macht sitzen, strafen. Das heißt – die Menschen begreifen so eine simple Sache nicht, dass zur Zeit der Repressionen vornehmlich das einfache Volk gelitten hat, und nach unseren Schätzungen etwa 80% Bauern, hauptsächlich enteignete. Deswegen konzentrieren wir seitdem unsere Bemühungen auf die Untergrabung dieser Stützpfeiler: sobald es uns gelingt, in den öffentlichen Bereich zu gehen, was auch immer das Gespräch ist, so werden wir dies nichtsdestoweniger darauf reduzieren, welche Kategorien von Repressionsopfern am meisten von allen gelitten haben. Das heißt, wir versuchen diesen Mythos zu zerschlagen, zu vernichten. Es scheint mir, dass er sehr gefährlich ist. Gerade er schafft die Grundlagen für den alltäglichen Stalinismus.
Und nun zur Taktik. In verschiedenen Städten wird versucht, ein Stalin-Denkmal zu errichten, und das geschieht vor allem dann, wenn der Tag des Sieges gefeiert wird, also 2005, 2010, 2015. Überall vollzieht sich dasselbe: jemand verkündet, dass ein Denkmal zu Ehren Stalins aufgestellt wird, sogleich fangen TV-Leute an, zu verschiedenen runden Tischen und Diskussionen aufzurufen, Internet-Veröffentlichungen schließen Online-Abstimmungen mit ein, Soziologen sind bemüht, Umfragen abzuhalten. Stalin – ein beliebter Name. Die Massenmedien führen Ratings durch, politische Funktionäre versuchen sich darauf zu stützen, noch einmal im Fernsehen zu glänzen, Internet-Agenturen verstärken ihre Präsenz usw.
Das heißt, in Wirklichkeit geraten wir in eine sehr dumme Situation, denn wenn wir jettzt damit beginnen, mit eben jenen Kommunisten für oder gegen Stalin zu streiten, werden wir einfach am Spiel eines anderen teilnehmen, an Public Relation um Stalin – mehr nicht. Das ist nicht das, was wir möchten. Dieser Streit ist hinreichend unsinnig, weil eine Seite über all die Errungenschaften reden wird, die andere über die Millionen von Repressionsopfern, doch das macht keinerlei Eindrücke auf jene Leute, die schon seit langem ihre Meinung dazu festgelegt haben; und wenn bei ihnen der Staat Priorität hat, dann werden sie für Stalin sein, falls ihnen die Menschen wichtiger sind – stimmen sie dagegen.
Der schlimmste Fehler, den man in den Städten zulässt, ist, dass man den lokalen politischen Konstellationen keine Beachtung schenkt, die Macht hält sich für homogen – die Macht – das ist ein blutiges Regime, das heißt, wir sind verpflichtet... usw., usw. In Wahrheit ist dort gar nicht alles so homogen. Und es gibt dort unterschiedliche Strömungen und unterschiedliche Aufstellungen, unabhängig davon, welche Haltung sie gegenüber Stalin oder einem Denkmal einnehmen; sie haben irgendwelche eigenen Ziele, und man muss dafür all diese Konstellationen nutzen.
Was wir normalerweise machen. Ich sage «normalerweise», weil das für uns bereits eine ziemlich routinierte Prozedur ist, weil wir uns recht regelmäßig bei diesen Streitgesprächen mitmischen. Das Erste, was wir tun, ist, den Fokus verschieben, wir führen die Frage, das Problem von Stalin und dem Denkmal weg. Das bedeutet: wir sagen, dass es in Wirklichkeit gar nicht um ein Denkmal und um Stalin geht, sondern die Kommunisten vor den Wahlen nur den Versuch unternehmen, für sich zu werben, dass die Partei der Patrioten Russlands die Stärke des Bürgermeisters erprobt; wir verschieben also den Fokus und leiten das Gespräch um.
Oder wie es beim ersten Mal war, als sie 2005 versuchten, ein Denkmal aufzustellen. Der Bürgermeister gab sein Versprechen, dass er das ohne breite Diskussion nicht tun würde, dennoch huschte bei Radio Swoboda die Nachricht durch, dass es eine Übereinkunft gäbe und man das Denkmal errichten würde. Wir fanden das bereits fertige Fundament für dieses Denkmal im Park und – schon klopften wir beim Bürgermeisteramt an. Wir sagten: «Der Bürgermeister hat ein versprechen gemacht, er hat die Wähler betrogen». Als die Kommunisten herankamen und versuchten, über Stalin zu streiten, meinten wir: «Jungchen, hau ab! Wir haben hier unsere eigene Demontage, der Bürgermeister hat sein Versprechen nicht gehalten und die Wähler betrogen. Wir klären das jetzt hier mit dem Bürgermeister, und ihr mit eurem Stalin geht mal beiseite, das ist völlig irrelevant.» Das war der richtige Weg: nachdem wir die Leute überzeugt hatten, dass der Bürgermeister betrogen hatte, erhielten wir mehr Unterstützung, als im Streit für oder gegen Stalin.
Als man das zweite Mal versuchte, ein Stalin-Denkmal in Kureika zu errichten, sagten wir, dass in diesem Fall die Feinde des Gouverneurs beschlossen hätten, es aufzustellen, um sein eigenes Image und das der Region zu schädigen, aber dort haben wir ein Wirtschaftsforum, eine Universiade usw. Im Großen und Ganzen untergraben sie unseren Gouverneur, es sind halt solche schlechten Menschen. Und, in der Tat, haben wir uns nicht durchgesetzt, weil Gouverneur Chloponin über das Image eines zeitgenössischen, geschäftsmäßigen, nicht politisierten Beamten verfügte. 2006 beweisen wir dem Gouverneur, dass ein Denkmal dem Image der ganzen Region schadet, dass das nicht geschehen darf, dass – er es für sich selber nur noch schlimmer macht, wenn er es aufstellen lässt, wenn er eine solche Aktion zulässt.
Wir benutzen diese politischen Ausgangslagen, die jedes Mal anders waren, sehr flexibel, weil die regionale Macht die Entscheidung nicht formell treffen kann (es ist ein Vorrecht der Stadtregierung, ein Denkmal zu errichten oder nicht), aber sie kann ein wenig Einfluss nehmen, behilflich sein und stören, und so fallen wir 2005 ins Bürgermeisteramt ein – in dem Wissen, dass es der Regionalregierung zum Vorteil gereicht, bei ihnen gibt es zu der Zeit Reibungen, und deswegen erhalten wir heimliche, inoffizielle Unterstützung. Wir waren im Grunde genommen ein Werkzeug im Kampf der Regional-Macht gegen die städtische. Wir haben beschlossen, dass es unsere Aufgabe ist, dem Denkmal entgegen zu wirken. Sollen die Herren sich doch untereinander bekriegen, wir können uns das zunutze machen. 2015 haben wir hingegen buchstäblich den Bürgermeister (inzwischen einen anderen) verteidigt. Wir wissen, dass der Bürgermeister kein Stalin-Denkmal errichten will, aber man übt einen erheblichen Druck auf ihn aus, weil um ihn herum Patriotismus herrscht, eine bekannte Linie, das Siegesjubiläum, wobei sich die Situation in den letzten zehn Jahren gravierend verändert hat, und deswegen ergibt sich hier schon eine ganz andere Rhetorik. Wir sprechen davon, dass wir daran glauben, dass Sie, Herr Bürgermeister, sich dem Druck nicht ergeben, wir glauben an Sie usw. Da können Sie mal sehen, was für zynische Menschen wir in Krasnojarsk sind.
Aber wenn es nicht gelang, sich aus den Diskussionen herauszuhalten, dann fangen wir wieder an, alle Kräfte einzusetzen, um uns von den Debatten um Stalins Persönlichkeit zu entfernen. Wir erwähnen Stalin nicht, wir erwähnen den Begriff «stalinistisch» nicht. Die Rede ist von einem totalitären System als solches. Des Weiteren, wenn wir die Zeitrahmen auseinanderziehen, sprechen wir nicht generell über die stalinistischen Repressionen der 1930er, 1950er Jahre. Von 1917 bis in unsere Tage gab es den totalitären Staat in unterschiedlichen Phasen, in verschiedenen Formen. Wenn wir auch noch die geographischen Rahmen auseinanderziehen, sprechen wir nicht mehr nur über die UdSSR, sondern von ähnlichen Regimen, unter anderem vom deutschen Nationalsozialismus. Das heißt wir vermeiden die Diskussion über eine Persönlichkeit in jeder Hinsicht. Sobald wir über die Persönlichkeit Stalins urteilen, machen wir auch schon Werbung für ihn, weil es unerheblich ist, ob wir ihn rühmen oder über ihn schimpfen – wir sorgen für seine Public Relations.
Wenn die Diskussion erst einmal angelaufen ist, fängt man auf jeden Fall auch an von Zahlen zu reden. Die Stalinisten sagen, dass die Memorialisten die Zahlen der Repressionsopfer in die Höhe treiben. Ich habe für diesen Fall einen guten Weg gefunden, indem ich sie frage: «Wie viele benötigen sie denn, um dieses Regime als Blut-Regime anzuerkennen? Nennen Sie mir Ihre Zahl, bis zu dieser Ziffer ist es per se ein normales Regime, alles, was darüber hinaus liegt, ist ein blutiges Regime. Nennen Sie mir diese Zahl, dann streiten wir darüber, wie hoch die Zahlen tatsächlich sind». Seltsamerweise führen solche Fragen den Gegner in eine Sackgasse, er kann diese Zahl nicht benennen, und es stellt sich heraus, dass Zahlen in Wirklichkeit nicht wichtig sind. – Es ist sinnlos, besonders im Fernsehen, Zeit dafür zu verschwenden, irgendwelche Gedanken darzulegen; sie gelangen gar nicht erst bis zum Zuschauer. Der Fernsehzuschauer ist so gepolt, dass er mehr den Gesichtsausdruck verfolgt, wer wen in die Sackgasse geführt hat, aber mehr oder weniger komplizierte Materie im Fernsehen darzulegen – das ist ganz einfach sinnlos.
Aber wir haben eine gute Zahl – die Krasnojarsker Million, eine Million Menschen, die mit den Repressionsmaßnahmen in der Region Krasnojarsk im Zusammenhang stehen; und diese Anzahl können wir stets beweisen – und das nicht nur anhand irgendwelcher Statistiken, denn sie sind nach Familiennamen aufgelistet, unter anderem in unseren Büchern der Erinnerung. Es wird daher sehr schwierig sein, um diese Zahl zu streiten.
Es gibt noch andere, nicht standardisierte Züge. Es ist sehr wichtig, die Tagesordnung zu brechen. Das heißt sie warten, bis wir um die Figur Stalins streiten. Die Tagesordnung muss komplett durchbrochen werden, man muss davon wegkommen.
Wir organisierten 2005 eine Unterschriftensammlung unter den Fenstern des Bürgermeisteramtes, nicht so sehr aus dem Grund Unterschriften zu sammeln, sondern um eine Aktion zu zeigen, die man nicht als Demonstration vorher abstimmen muss und die eine Gelegenheit für neue Nachrichten in den Massenmedien bietet. Wichtig war, dass etwas direkt vor den Fenstern des Bürgermeisters vor sich ging. In dieser Zeit organisierten wir mit Hilfe unserer Webseite einen Ansturm von Journalisten auf die Bürgermeisterei sowie Anrufe aus anderen Städten und Ländern.
Und außerdem: hatten wir im Netz eine Seite eingerichtet, die über den Widerstand gegen die Errichtung des Denkmals aufklärte und der wir ständig frische Neuigkeiten, Dokumente und Fotos hinzufügten. Diese Seite wurde zeitweise zur Titelseite unserer Website. Sie wurde in drei Sprachen veröffentlicht: Russisch, Deutsch und Englisch. Damals waren die sozialen Netzwerke noch nicht so entwickelt, aber im Internet gab es das Forum «Reklama-mama», in dem sich rund um die Uhr Krasnojarsker Journalisten, Werbetreibende usw. trafen. Es hat sich gelohnt, dass Thema dort mit hineinzubringen und den Link auf unsere Website zu geben – schon erhielten die Journalisten einen Kanal mit vollständigen, frischen Informationen zum Ereignis. Und diese Möglichkeit nutzten sie. Drei Leute sammeln Unterschriften, während dessen schwärmen die Journalisten aus, die versuchen, beim Bürgermeister etwas zu erreichen, Beamte laufen vor den Journalisten über die Korridore davon, weil man sie fragt: «Für wen ist dieser Sockel gedacht. Sie haben versprochen, dass es eine Diskussion darüber geben wird, wessen Sockel ist das also? Ist das nun für Stalin oder nicht?» Es gab einen Riesenlärm, aber mit sehr geringen Kräften.
Später wollten wir schon selber eine Prügelei organisieren, weil wir den Bürgermeistern warnten, dass die Errichtung des Denkmals eine Zerspaltung der Gesellschaft auslösen würde. Doch hier erwiesen uns die Kommunisten einen Dienst. Zwei junge Kommunisten kamen an, entrissen uns die Unterschriftenblätter und fingen an, sie in die Urne zu stopfen. Da kamen irgendwelche Leute angerannt, die versuchten, sie ihnen wieder wegzunehmen. Es kam zu einem Handgemenge. Es wurde von den Fernsehleuten gefilmt. Später sagten wir: «Na so was, es gibt noch gar kein Denkmal, aber die Rangeleien haben bereits angefangen. Braucht ihr das oder braucht ihr das nicht?» – Das war sehr erfolgreich.
Als die Kommunisten in diesem Jahr Unterschriften für das Stalin-Denkmal sammelten und sie etwa 40000 zusammen bekamen – na, was sollten wir tun? Wieder eine Unterschriftensammlung durchführen? Ich schleppte ganz einfach 12 Bände unseres Buches der Erinnerung zum Bürgermeisteramt, wo diese Frage geklärt werden sollte; in diesen 12 Bänden sind fast 100000 Menschen, Familien genannt - und erklärte vor laufender Kamera, dass, wenn diese Leute am Leben wären, sie dagegen gestimmt hätten, und wir also unsere gesammelten Unterschriften-Listen gegen das Stalin-Denkmal hiermit abgeben würden.
Ich fasse zusammen: es ist noch nicht der letzte Versuch, ein Stalin-Denkmal in Russland aufzustellen, und ich hoffe, dass das, was ich gesagt habe, meinen Kollegen in anderen Städten hilft. Mischt euch nicht in die Diskussion um Stalin ein, brecht die Diskussionsagenda, wendet mutig die nicht standardmäßigen Abläufe an und macht euch die örtliche politische Ausgangslage zunutze.
Die Illustration zum Vortrag, der auf der Konferenz gehalten wurde - ist ein Video vom 20.03.15. Diskussion über das Stalin-Denkmal.(Bedarew - Babij) auf dem TV-Kanal Jenissei. (Fragment)