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Bericht des Volkskommissars für innere Angelegenheiten der RSFSR W.N. Tolmatschew an das Politbüro des Zentralkomitees der WKP (B) über die Unzweckmäßigkeit der Übergabe einiger Häftlingskategorien in den Zuständigkeitsbereich der OGPU

1. Juni 1929 – Vertraulich

Angesichts der Tatsache, dass es mir unmöglich war, an der Sitzung des Politbüros bei der Erörterung der Frage über den Arbeitseinsatz krimineller Häftlinge teilzunehmen (Auszug aus dem Protokoll N° 89 der Sitzung des Politbüros des ZK der WKP (B) vom 13. Mai 1929), halte ich es für absolut notwendig, die Aufmerksamkeit des Politbüros auf folgendes zu lenken:

In letzter Zeit wurde von der Regierung der RSFSR eine Reihe von Verordnungen verabschiedet, welche die Linie der Strafpolitik festgelegt und im wesentlichen die Zustimmung der Partei (ZK) erhalten haben.

In diesen Verordnungen stellte sich dem NKWD nun neben der Anerkennung des Wachstums der Produktionsaktivitäten an den Haftverbüßungsorten und der Notwendigkeit der weiteren Kapazitätserweiterung in den Arbeitskolonien (landwirtschaftlichen, handwerklichen und fabrikbezogenen) die Aufgabe, Häftlinge für den Arbeitseinsatz abzustellen – mit dem Ziel der Kolonisierung zwecks Arbeitsaufnahme an entlegenen Orten, wo infolge der Entlegenheit oder wegen der Schwere der Arbeiten ein erheblicher Mangel an Arbeitskräften herrscht.

Daher liegt die besondere Bedeutung dieser Regierungsbeschlüsse in der Abänderung der Methoden bei der Gefangenenhaltung durch Maßnahmen, die außerhalb der Gefängniseinrichtungen auf die Häftlinge Einfluß nehmen, und zwar durch das Organisieren entsprechender Arbeiten in Lagern mit hinreichender Isolierung im Hinblick auf ihre geographische Lage und natürlich unter Einhaltung eines geeigneten (strengen) Regimes.

In Ausführung dieser Regierungsdirektive erarbeitet das NKWD einen Plan in Verbindung mit Perspektiven für die wirtschaftliche Entwicklung entlegener Gegenden (unserer weit abgelegenen Randgebiete) und unter maßgeblicher Berücksichtigung des Ziels, dass dabei Arbeiten an den Verkehrswegen, auf dem Bau, bei der Förderung von Bodenschätzen und bei der Holzbeschaffung einen positiven Wandel erfahren.

Dazu gehören auch vorbereitende Maßnahmen für die landwirtschaftliche Erschließung noch unorganisierter Grund- und Bodenflächen, die zu Orten der Umsiedlung und Kolonisierung bestimmt werden sollen.

Gleichzeitig führt das NKWD auch mit einer Reihe von örtlichen Organisationen Verhandlungen, die teilweise sogar bereits abgeschlossen sind, sowie Gespräche mit Wirtschaftsunternehmen, ohne deren Mitwirkung eine breitgefächerte und zweckmäßige Konzentration mehr oder weniger undenkbar wäre.

Die Verordnung des Politbüros über den Übergang zum System des Massen-Arbeitseinsatzes von Kriminellen mit einem Strafmaß von nicht weniger als 3 Jahren, bestätigt die Rechtmäßigkeit der von der Regierung auf dem Gebiet der Strafpolitik diesbezüglich festgelegten Maßnahmen. Die gleiche Praxis gilt auch für die existierende Rechtsprechung zu dieser Frage. Allerdings, ungeachtet der Instruktionen des Politbüros, dass von den Kommissionen konkrete Bedingungen für den Einsatz von Häftlingsarbeit zu nennen sind –und zwar „auf Basis der bestehenden Gesetze und Praktiken“, werden zwecks ihrer praktischen Durchführbarkeit (Volkskommissariat der Justiz und Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung des Rates der Volkskommissare) die Funktionen des NKWD im Hinblick auf die organisatorischen Probleme des Strafvollzugs und die durchzuführenden Arbeiten selbst an die Organe der OGPU übertragen, während das Volkskommissariat für Justiz, obwohl sein Vorschlag bezüglich der Übertragung der Haftverbüßungsorte in ihren Zuständigkeitsbereich erst vor kurzem abgelehnt wurde, versuchen wird, diesen (Vorschlag) umzusetzen und dabei die Übergabe der Untersuchungshäftlinge in seinen Kompetenzbereich zu fordern.

Indessen entbehrt eine derartige Fragestellung jeglicher Grundlage, denn die ganze Direktive des Politbüros soll ganz speziell hierfür, durch den existierenden NKWD (GUMS)-Apparat, verwirklicht werden – ohne jedwede organisatorischen Umgestaltungen auf Basis der bestehenden Gesetze und in Übereinstimmung mit unserer allgemeinen strafpolitischen Linie.

Was die Repressionssysteme in Bezug auf die vergleichsweise kleinen Gruppen (etwa 10000 Personen in der RSFSR) von Verbrechern (Klassenfeinde, moralisch heruntergekommene, berufsmäßige Wiederholungstäter) betrifft, so sollen durch das OGPU-Sonderkollegium zusätzliche Maßnahmen eingeführt werden, was ebenfalls bereits durch hinreichend lange praktische Erfahrung bestätigt wird.

Umfang und Organisationsmethoden für die Lösung der Aufgabe, die durch die Direktive des Politbüros vorangebracht werden sollen, sind durch folgende Angaben über den Häftlingsbestand charakterisiert:

Am 1. Februar 1929 in den dem staatlichen Budget unterliegenden Haftverbüßungsorten der RSFSR:

Verurteilt zu Haftstrafen von:
bis zu 1 Jahr: 23 088 Personen
1-3 Jahren: 29 511 Personen
3 Jahren und mehr: 23 924 Personen
Insgesamt: 76523 Personen

Es muß angemerkt werden, dass Häftlinge mit Haftsrafen von 3 Jahren und mehr in drei Gruppen eingeteilt werden können:

1. Die erstmalig, zufällig oder infolge der herrschenden Lebensumstände, ein Verbrechen begangen haben: 40%

2. Wegen konterrevolutionärer Verbrechen, Massenunruhen, Banditismus, Raubüberfällen u.ä. Verurteilte: 40%

3. Dazwischenliegende Kategorien: 10%

Andererseits befindet sich unter den Häftlingen mit einer Strafe bis zu 3 Jahren die bedeutende Kategorie der Rezidivisten und überhaupt von personen, deren Rückkehr in ein normales Arbeitsleben äußerst zweifelhaft erscheint. So sind von den 23 088 bis zu 1 Jahr Verurteilten 45% Wiederholungstäter, und von den 29 511 Personen, die eine Strafe von 1-3 Jahren verbüßen sollen, 23% Rezidivisten, Berufsverbrecher, u.ä.

Also beinhaltet scheinbar auch diese viel leichtere Kategorie Verbrecher bis zu 17 000 Personen, deren Haltung im Gefängnis weniger zweckmäßig ist, als vielmehr ihre Verwendung in Konzentrationslagern, und die Ausweitung der Direktiven des Politbüros auch auf sie wäre zwar zweitrangig, aber doch vollkommen gerechtfertigt.

Aus dem angeführten Zahlenmaterial geht hervor, dass sich zwischen 23 000 und 45 000 Gefangene für die Anwendung dieser Direktive eignen und dass die Aufgabe ihres Arbeitseinsatzes in entlegenen Gebieten mit entsprechendem Produktionseffekt sich als ziemlich bedeutsam darstellt, sowohl vomorganisatorischen Standpunkt, als auch im Hinblick auf das Einbringen recht umfangreicher finanzieller Mittel.

Es genügt zu sagen, dass der Einsatz von nur 10 000 Gefangenen, die jetzt an die OGPU zu übergeben sind, bei bereits vorhandenem OGPU-Lager eine Geldzuteilung in Höhe von 1 200 Rubel erforderlich machen würde, und zwar nur zur Deckung der Anfangskosten.

Es ist ganz offensichtlich, dass die Übertragung dieser Aufgabe an die OGPU einerseits ihre Aufmerksamkeit und Kräfte von ihren eigentlichen, viel wichtigeren Funktionen ablenken würde, und andererseits die speziell vom NKWD (GUMS) für diesen Apparat festgelegten Kräfte ohne jeglichen Nutzen blieben.

Ich spreche gar nicht erst davon, dass ganz allgemein die Übertragung dieser Fragen und Probleme auf der Ebene eines primitiven Streits über die Umverteilung der Funktionen zwischen zwei Behörden ihre prinzipielle und politische Bedeutung nur in den Hintergrund verschiebt, ebenso wie die Frage über das sowjetische Strafvollzugssystem, das sich in puncto Klassenerhalt und von seiner ganzen Form her von Grund auf von denen aller kapitalistischen Länder unterscheidet, und dessen Entwicklung unser Parteiprogramm schon vorausgesehen hat.

Man darf sich auch nicht jenes Aufsehen vorstellen, das verächtliche Gerede und all die Verleumdungen, die sich im Ausland in Zusammenhang mit der Übertragung dieser Funktionen an die OGPU ergeben.

Ausgehend von dem hier Gesagten, erbitte ich die Angaben des Politbüros darüber, ob beabsichtigt ist, mit der Verabschiedung seiner Verordnung vom 13. Mai 1929 die Urteilsvollstreckungen für Freiheitsentzug an die OGPU-Organe zu übertragen, oder ob diese Tätigkeiten weiterhin vom NKWD ausgeführt werden sollen, und zwar auf Basis der bestehenden Gesetze und im Rahmen der festgesetzen Einschränkungen der Funktionen, was natürlich die oordination von maßnahmen zwischen NKWD und OGPU in allen unumgänglichen Fällen bei der Durchführung er Direktive des Poltbüros über den Einsatz bestimmter Häftlingskategorien zu Arbeiten außerhalb der Haftanstalten nicht ausschließt.

Mit kommunistischem Gruß
Wl. Tolmatschew
Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation, Fond 3, Verz. 58, Akte 165, Blatt 76-77 und Rückseiten. Original.

Veröffentlicht in

DIE GESCHICHTE VON STALINS GULAG. Ende der 1920-er Jahre bis zur ersten Hälfte der 1950-er Jahre
Band 4
"Die Bevölkerung des Gulag: Häftlingszahl und Haftbedingungen"
Verantwortliche Redakteure D. B. Besborodow, W. M. Chrustalew
Verfasser I. W. Besborodow (verantw. Verfasser), W. М. Chrustalew
Moskau, ROSSPEN, 2004


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