Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

Brief einer Gruppe von Deutschen an den Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR L.I. Breschnjew als Reaktion auf seinen Artikel in der Zeitung „Iswestija“ N° 308 vom 30.12.1962 „Triumph der Leninschen National-Politik“ (Anhang zur Information vom 27.08.1963 N° 15/9-1418)

12. Februar 1963
Geheim

In der Zeitung „Iswestija“ N° 308 vom 30. Dezember 1962 wurde Ihr Artikel „Triumph der Leninschen National-Politik“ veröffentlicht. Es geht darin um die Frage der nationalen staatlichen Autonomie. Im Artikel heißt es: „Durch wagemutiges Mißbilligen des dem Marxismus-Leninismus fremden Stalinschen Personenkultes hat die Partei die Leninschen Prinzipien wiederhergestellt und ihre weitere Entwicklung im Hinblick auf die Wechselbeziehungen zwischen den sozialistischen Nationen sichergestellt, indem sie alle vorhandenen Stellen schlechter Einflüsse aus der Vergangenheit und die bürokratischen Einschränkungen im Leben der nationalen Republiken beseitigt hat. Die in den Jahren des Personenkultes verletzte national-staatliche Autonomie der Tschetschen, Inguscheten, Balkarier, Karatschewo-Tscherkessen und Kalmücken wurde wiederhergestellt“.

Genau damit versichern Sie den Lesern der „Iswestija“ selbst, dass alle in der Vergangenheit während des personenkultes zugelassenen schlechten Einflüsse und bürokratischen Einschränkungen im Leben der nationalen autonomen Republiken vollständing beseitigt sind, wobei sie einige Nationalitäten aufzählen, die von Partei und Regierung rehabilitiert wurden und deren autonome Lenkung man tatsächlich wiederhergestellt hat.

Dabei haben sie aber stillschweigend das 1,6 Millionen Menschen zählende Volk der Sowjet-Deutschen umgangen, als ob es gar nicht existieren würde - und wenn es doch existiert, dann war offenbar die von Stalin durchgeführte Vertreibung eine korrekte Entscheidung; dem deutschen Volk ist damit wohl ganz recht geschehen, und demzufolge gibt es auch nichts zu korrigieren.

Es ist jedoch nicht nur dem gesamten Sowjetvolk, sondern der ganzen Welt bekannt, dass unter denen, die analogen Verbrechen angeblicher Ergebenheit gegenüber dem faschistischen Deutschland, beziehungsweise der Komplicenschaft mit diesem Land, angeklagt wurden, auch die Autonomie der ehemaligen, seit 1918 zum Bestand der RSFSR gehörende ASSR der Wolga-Deutschen, während der Zeit des Stalinschen Personenkultes gröblichst verletzt wurde und dass die gesamte deutsche Wolga-Bevölkerung, ebenso wie alle verfolgten Sowjet-Deutschen, sich bis heute unter bürokratisch eingeschränkten Bedingungen und den Auswirkungen des verleumderischen Ukas des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 sowie des Ukas vom 13. Dezember 1955 befinden.

Wer kann leugnen, dass die deutsche Bevölkerung in der Sowjetunion sich immer noch nicht von der durchgemachten Angst und den Grausamkeiten der jüngsten Vergangenheit befreien kann, sondern auch weiterhin unter ihrem Einfluß seelische Leiden erfährt?

Indessen ergeben die von Ihnen in dem zitierten Absatz aufgezählten wiederhergestellten Volksautonomien: Tschetschenen (418 000 Personen), Inguscheten (106 000 Personen), Balkarier (42 000 Personen), Karatschewo-Tscherkessen (81 000 Personen) und Kalmücken (106 000 Personen) eine Größenordnung (laut Angaben der gesamtrussischen Volkszählung des Jahres 1959) von insgesamt 753 000 Personen, was im Hinblick auf die Anzahl der Sowjet-Deutschen (mit 1,62 Millionen Personen) nicht einmal die Hälfte ausmacht.

Wie kann die „Kunstkammer“ der verleumdeten und repressierten Völker den „Elefanten“ unter all den „Käferchen“ nicht bemerken und das Problem der Wiederherstellung der verleumdeten, mit Schande bedeckten Völker als vollständig gelöst betrachten, wenn sie dabei das 1,6 Millionen Menschen zählende deutsche Volk völlig ignoriert und die Augen vor den in der Vergangenheit geschehenen, himmelschreienden Ungesetzlichkeiten einfach verschließt?

Auf dem 22. Parteitag der KPdSU sagte N.C. Chruschtschow anläßlich der Enthüllung des Personenkultes: „Es ist unsere Pflicht, sorgfältig und allumfassend jene Art des Mißbrauchs der Machtbefugnisse zu untersuchen und aufzudecken. Die Zeit vergeht, wir sterben, wir sind alle sterblich, aber so lange wir arbeiten, können und müssen wir vieles klarstellen und der Partei und dem Volk die Wahrheit sagen“.

Wie kann man nach all dem die Wahrheit über das schuldlos in Schande geratene 1,62 Millionen Menschen zählende Volk der Sowjet-Deutschen immer noch verschweigen, ein Volk, das aus nicht bekannten Gründen repressiert, in den unermeßlichen Weiten des Territoriums der Sowjetunion zwangsangesiedelt, dem seine Heimat, seine Autonomie, seine Gemeinschaftlichkeit entzogen, das zur Assimilation und zum sicheren Tod als sozialistische Nation verurteilt wurde, ein Volk, das einst den Aufbau von Sozialismus, Wirtschaft und Kultur so gut vorangetrieben hat?

Wie kann man diese Wahrheit mit düsterer Vergessenheit verschleiern, wenn sie doch beharrlich an alle Türen der Sowjet- und Partei-Instanzen klopft und danach verlangt, endlich ans Tageslicht gebracht zu werden?

Es ist unmöglich die Wahrheit länger geheim zu halten, denn die vergangenen zwanzig Jahre haben bereits ihre Früchte getragen.

Viele Deutsche, besonders die heranwachsende Generation, beherrschen ihre Muttersprache bereits nicht mehr, und lediglich 75% der deutschen Bevölkerung (von 1,62 Millionen laut Volkszählung des Jahres 1959) halten (aus verschiedenen Gründen?!) Deutsch für ihre Muttersprache.

Es ist charakteristisch, dass die in der Vergangenheit rückständigsten Völker laut Statistik zu 95-99% ihre Muttersprache für die Sprache ihrer Natio halten. Einzig und allein die Juden – sie stellen 20% der Gesamtbevölkerungszahl – halten Jüdisch für ihre Muttersprache. Dies ist zweifellos das Ergebnis der Tatsache, dass sie bereits seit etwa 2000 Jahren keine Eigenstaatlichkeit besitzen und inder Vergangenheit immer und von allen verfolgt wurden.

Wenn über die Frage der Sowjet-Deutschen nicht in allernächster Zeit entschieden wird, dann wird die erzwungene Assimilierung zu einem ebensolchen Resultat wie bei den Juden führen.

Die Leninsche Nationalpolitik, die bei uns seit den allererstenSchritten der Sowjetmacht in Kraft ist, wird durch die Geschichte des Sowjetstaates vollständig gerechtfertigt, niemand hat an ihrer Richtigkeit und daran gezweifelt, dass sie auch weiterhin unerschütterlich das Leben begleiten wird, denn sie bildet die Grundlage der Partei- und Regierungspolitik bei der Lenkung unseres Vielvölkerstaates Sowjetunion. Aber warum ist sie für alle Völker der Sowjetunion gültig, und warum empfinden alle Völker ihre wohltuende Wirkung. Warum sind es allein die Sowjet-Deutschen, die davon faktisch überhaupt nichts merken, als ob die Sowjet-Deutschen in unserem Lande Ausländer und keine sozialistische Nation wären, ähnlich anderen Völkern?

An einer anderen Stelle Ihres Artikels schreiben Sie: „Die Entscheidungsfindung über nationale Probleme der UdSSR wurde zum stärksten Faktor internationaler Bedeutung ...“.

Zweifellos soll das internationale Proletariat, insbesondere die Völker, die sich vollständig unter dem Joch der kolonialen Sklaverei befanden, die richtige Entscheidung über die nationalen Probleme der UdSSR nur positiv bewerten. Gleichzeitig aber muß die Frage bezüglich der Nationalpolitik in der UdSSR, die eine Rehabilitierung der Sowjet-Deutschen und die Wiederherstellung ihrer nationalen, autonomen, sozialistischen Lenkung nicht anerkennen will, beim Proletariat der westlichen Länder Europas eine ablehnende Wertung hervorrufen und zwar in erster Linie bei den Ländern, mit denen die Sowjet-Deutschen die Gemeinsamkeit der Sprache besitzen, also der DDR, der BRD, Österreichs und teilweise der Schweiz. Somit bilden die Sowjet-Deutschen die einzige nationale Minderheit westlicher Herkunft in Rußland.

Wir können mit Ihrer Überzeugung nicht einiggehen, dass die Partei die in der Vergangenheit vorhandenen Stellen schlechter Einflüsse und bürokratischer Einschränkungen im Zusammenhang mit den in Verruf gebrachten nationalen, autonomen Republiken, vollständig beseitigt hat, denn die Problematik der deutschen nationalen Minderheit, ihrer Rehabilitation und der Wiederherstellung ihrer nationalen, autonomen, sozialistischen Lenkung wartet immer noch auf ihre wichtigste Lösung seitens der Regierung.

In diesem Zusammenhang bitten wir Sie, als vom Volke Gewählten, von der höchsten Staatsmacht Bevollmächtigten und Vorsitzenden des Obersten Sowkets der UdSSR, dem Ihnen anvertrauten Volk Ihre Macht und Autorität als auf dem Gebiet des Staates und der Partei Tätiger zu bekunden und die Frage über die Lösung der Probleme der Sowjet-Deutschen, ihrer Rehabilitierung und der Wiederherstellung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen an höchster Stelle vorzulegen.

Original-Unterschriften:
W.W. Schmidgal
P.P. Keln
A. Justus

Abteilung für Dokumente der neuzeitlichen Geschichte des Russischen Staatsarchivs in der Republik Chakassien, Fond 2, Verz., 1, Akte 2936, Blatt 120-122. Kopie. Maschinenschrift.


Zum Seitenanfang