Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

Nikolaj Antonow. Erinnerungen

LAGER

Ich wurde im Jahre 1911 in dem Dorf Tschornij Wjerch, Arssenjewsker Kreis, Tulsker Gebiet in einer Bauernfamilie geboren.

Im Revolutionsjahr galt die Wirtschaft des Großvaters in unserer Gegend als stabil.

Zwei Pferde, zwei Kühe und ein anständiges Gebäude. Die Familie bestand aus elf Seelen.

1921 kamen mein Vater und sein Bruder wegen einer Verwundung von der Front zurück. Mit ihrer Ankunft zuhause begannen Unstimmigkeiten. Und ein Jahr später wurde die Aufteilung der Wirtschaft vollzogen. Aus einer Familie wurden nun vier. Wem ein Pferd zufiel, der bekam dafür keine Kuh ab – und umgekehrt. Dem Vater teilten sie einen Speicher als Behau-sung zu –und einen Anbau als Stall für die Kühe; zwei Schafe gingen ebenfalls an ihn.

1924 gab man dem Vater ein kostenloses Darlehen zum Kauf eines Pferdes. Und wir wurden Mittelbauern.

Damals konnte ich schon selbständig pflügen, eggen und nachts das Pferd hüten. Der Vater fuhr an freien Tagen nach Beljow und nach Odojew, wo er etwas nebenbei für den Kauf einer kleinen Bauernkate hinzuverdiente. Er war bei uns der Handwerker: Ziegelbrenner, Tischler, Zimmermann, Klempner, Dachdecker - alles in einer Person. Nur Schmied war er nicht, weil es wohl keine Schmiede gab. Später fuhr der Vater wegen des Nebenverdienstes nach Moskau. Nur eineinhalb bis zwei Monate hielt er sich während der Zeit, in der er in Moskau arbeitete, zuhause auf. Und ich habe meine und seine häusliche Arbeitslast auf meinem Rücken getragen. Ich war ein schwächliches, schnell erschöpftes Bürschchen und ermüdete oft bis zum Umfallen. Abends weinte ich und schrie, daß ich morgen nicht arbeiten würde. Aber kaum zeigte sich die Sonne am Himmel, da machte ich mich zur größten Freude der Mutter schon wieder an die Arbeit.

„Dummerchen, das Bauernhäuschen bleibt dir doch und geht nicht an jemand anderen,“ sagte sie zärtlich.

Zum Jahre 1929 hin vergrößerte sich unsere Familie auf sechs Personen. In diesem Jahr kauften wir von einem passiven Kommunisten, der der Kollektivierung entronnen war, eine geräumige Bauernkate. Und damit wurden wir sogleich zu Kulaken.

Im Dorf kursierten Gerüchte: sobald Antonow der Kolchose beitritt, wird sein Haus dem Kolchos-Kontor zufallen, und er und seine Familie werden ins Kirchenwärter-Häuschen umgesiedelt. Der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch:

„Niederbrennen werde ich es, aber herausgeben tue ich es nicht!“

„Was sagst du denn da; denk doch mal nach,“ klagte die Mutter. „Einsperren werden sie dich und Kolja noch mit hineinziehen. Er ist erwachsen geworden. Und wo soll ich mit den drei Mädchen abbleiben? Sie werden uns auch das Kirchenwärter-Häuschen nicht geben.“

Der Vater trat nicht in die Kolchose ein. Uns wurden Steuern auferlegt – und das sah so aus, daß, wenn der Vater die Wirtschaft verkaufte, er nur mit der Hälfte der Steuern rechnen müßte. Sie machten eine Aufstellung vom gesamten Besitz, bis hin zu den Löffeln, und verfügten unsere Aussiedlung. Und in einer dunklen Nacht fuhren wir fort nach Moskau. Der Vater fand Arbeit beim Bau und ließ sich dort mit der Familie in einer Baracke nieder. Ich wurde bei Bekannten polizeilich angemeldet. Ich betrat deren Zimmer nur selten und schlief im Vorraum auf einem Klappbett.

Ich kam in der „Gagat“-Fabrik unter, wo aus bunten Kunststoffplatten Plastikkämme und alle möglichen Kleinigkeiten hergestellt wurden. Morgens brachte ich im Handwagen die halbfer-tigen Produkte zur Drechselbank, und bei Tagesende fuhr ich die fertigen Gegenstände zum

Warenlager. Diese Beschäftigung erschien mir, der ich an schweres Arbeiten gewöhnt war, wie ein Kinderspiel.

Es vergingen zwei oder drei Jahre, und ich begriff, daß ich etwas lernen mußte. So entschloß ich mich, auf die Arbeiterfakultät zu gehen. Aber gerade in dieser Zeit verliebte ich mich und heiratete bald darauf. Der Vater meiner Frau gab uns ein Eckchen in seiner Wohnung ab, und wir begannen unser Leben. Jetzt fühlte ich immer mehr die Notwendigkeit zu studieren. Und im Jahr 1935 trat ich in die Abend-Arbeiterfakultät am Krschischanow-Institut für Planungs-wesen ein.

Im April 1937 wurde ich verhaftet.

Ich geriet ins Butyrka-Gefängnis; die Zelle war voll mit Menschen. Der Älteste notierte meinen Familien-, Vor- und Vatersnamen und wies mir einen Platz unter den durchgehenden Holzpritschen zu, direkt auf dem Fußboden. Meine Nachbarn rückten etwas zusammen. Sie waren schweigsam. Ich drängte mich ihnen auch nicht mit irgendwelchen Gesprächen auf. Nach zwei Tagen rief mich der Untersuchungsrichter Smirnow zu sich. Er notierte sich genau meine persönlichen Daten und schickte mich wieder in die Zelle. Ich dachte nach.

„Worüber hat der Untersuchungsführer mit dir gesprochen?“ fragte mich flüsternd mein Nachbar Sergej Kowaljow. Er lernte auch an der Arbeiter-Fakultät, allerdings am Plechanow-Institut.

Ich erzählte.

„Warte jetzt auf die Gegenüberstellung mit dem, der dich denunziert hat.“

„Es kann nicht sein, daß mich irgendjemand denunziert hat. Ich habe niemals irgend-jemandem Anlaß dazu gegeben.“

„So ist das! Jeder, der hier sitzt, ist von einem angezeigt worden.“

Nach etwa drei Wochen wurde ich zum zweiten Mal hinausgerufen. Als ich zurückkam, kroch ich auf meinen Platz unter den Pritschen, legte mich mit dem Gesicht nach unten und schwieg. Kowaljow belästigte mich nicht mit Fragen. Am nächsten Tag erzählte ich ihm von der Gegenüberstellung. Angezeigt hatte mich Anna Tschagina. Wir lernten zusammen an der Arbeiter-Fakultät und hatten im Unterricht vom ersten bis zum letzten Tag nebeneinander gesessen.

„Wie alt ist sie?“

„Ungefähr vierzig. Mutter zweier Kinder. Ihr Mann ist Leiter auf irgendeiner Baustelle Beide sind Kommunisten.“

„Was meinst du? Weshalb hat sie dich zugrunde gerichtet, und das Schicksal deiner Frau und des Säuglings so ins Verderben gerissen?“

„Ich weiß es nicht. Wir hatten uns angefreundet. Ich habe ihr oft beim Lernen geholfen“.

„So eine Gemeinheit begeht man doch nicht ohne Grund. Hat sie dich mal irgendetwas Verbotenes gefragt?“

„Sie hat erzählt, wie die Leute 1932 in der Ukraine vor Hunger gestorben sind. In einigen Orten gab es noch nicht einmal Leute, um die Toten zu beerdigen. Fünf ihrer Verwandten sind gestorben. „Dafür muß man sie verurteilen“ – sagte sie.“

„Oh! Dann ist ja alles klar! Aus Angst, daß du sie in eine schwierige Lage bringen könntest, hat sie dich nun denunziert“.

Einundzwanzig Tage nach der Gegenüberstellung quittierte ich den Erhalt von acht Jahren Lagerhaft. Man verlegte mich in die ehemalige Gefängniskirche, die unter dem Etappenge-fängnis eingerichtet war, wo wir eine gesundheitliche Vorsorgeuntersuchung über uns ergehen lassen mußten. Und in der Nacht brachte man uns zu irgendeiner Eisenbahnstation und lud uns auf Güterwaggons.

In Mariinsk fuhren sie unseren Zug auf ein Abstellgleis und koppelten einige Waggons ab. Am Mittag, als die Sonne erbarmungslos auf uns herabsengte, näherten sich unserem Waggon zwei Lastwagen, die an den Seiten mit hohen Gittern versehen waren. Anhand eines Formulars rief man uns auf und verfrachtete uns in die LKWs.

Bald fuhren wir über den glattgefahrenen Weg davon. Auf dem Feld arbeiteten viele Menschen. Mähdrescher mit Pferden davor zogen eine Furche nach der anderen. Irgendwo in der Talsenke brummte geräuschvoll ein Traktor. Wir näherten uns einem Dorf. Die Häuser waren solide gebaut, hoch und mit großen Fenstern. „Hier kannst du jedes Haus entkulaki-sieren“, dachte ich und erinnerte mich dabei an mein armseliges Dörfchen. Die Autos hinterließen im Dorf eine graue Staubwolke und fuhren hinaus in die Weite. Und wieder unermeßlich große Felder. Schließlich tauchten Äcker mit Futterrüben und Kartoffeln vor uns auf.

„Dem Herrn sei Dank! Wir sind in ein Landwirtschaftslager geraten“, sagte ein neben mir sitzender, rothaariger Mann.

Wir näherten uns dem Lager. Ein dichter, etwa vier Meter hoher Zaun war da, aus dicken Holzbrettern und an den Enden oben spitz zulaufend. Unter den Gaslaternen lagen leere Kübel herum, die den Wachhunden die Hundehütten ersetzten. An den Toren wurden wir abgeladen.

Das „Städtchen“, wie der Nowoiwanowsker Lagerpunkt genannt wurde, bestand aus vier langgezogenen Baracken, zwei ebenso langen Erdhütten und einer Küche. Auf dem Dach der einen Erdhütte saßen halbnackte Urkas, Berufsverbrecher, die hier einiges Ansehen genossen, und spielten leidenschaftlich Karten. Einige Männer standen bei den Toren und sahen uns mit diebischer Versessenheit und prüfenden Blicken an.

Der Arbeitsanweiser, der dabei war junge und alte Leute in zwei Gruppen aufzuteilen, bemerkte mein kraftloses Aussehen.

„Geh rüber zu den Alten“, sagte er, „du wirst ihr Brigadeführer sein. Die Jugend kommt in eine andere Baracke“.

Am Morgen, kaum daß es hell geworden war, wurde auf ein Metallstück geschlagen. Der Weckruf. Vor dem Morgenappell trat ein alter Mann mit weißem Bart an mich heran.

„Brigadier, wo soll ich dieses Bündel hintun?“

Ich zupfte daran. Ein Pelzmantel aus dichtem, festen Fell, der mit gummiertem Leinenstoff bedeckt war. „Oh! Das ist kein russisches Erzeugnis“ – dachte ich.

„Gehen Sie zum Ältesten. Vielleicht versteckt er es in einem Spind.“

„Haben Sie keine Angst. Ich verriegele den Spind mit einem Schloß und werde demjenigen, der den Stubendienst versieht eindringlich befehlen, daß er streng aufpaßt“ – versprach der Älteste, Pjotr Fjodorowitsch Kolokolnikow.

Der alte Nikolaj Petrowitsch Uspenskij erzählte auf dem Weg zum Appell, daß er fünfund-zwanzig Jahre lang in der sowjetischen Botschaft in Peking gearbeitet hatte. Sein Sohn studierte in England, an der Universität Oxford, und hatte sich geweigert, wieder nach Rußland zurückzukehren. Und jetzt mußte der Alte für seinen Sohn büßen.

Die Tore waren noch geschlossen. Aber der Begleitposten erwartete uns draußen. Die Mehrheit der Wachmänner waren ebenfalls Strafgefangene, allerdings mit einem geringen Strafmaß und nur aufgrund eines Paragraphen für Alltagsverbrechen verurteilt. Sie lebten in der Zone und standen nicht unter Begleitschutz.

Man brachte uns zum Gerstebinden. Nikolaj Petrowitsch bündelte die Garben schlecht, und blieb damit hinter den anderen zurück. Ich ließ ihn nach vorne durch und band selbst den verbleibenden Teil der Reihe fertig.

Während wir arbeiteten, füllte sich unsere Baracke mit Menschen. Es wurde eng und laut. Und drei, vier Tage später waren alle Baracken und eine Erdhütte bis zum äußersten belegt, vor allem mit Häftlingen aus der Mariinsker Verteilungsstelle. In der zweiten Erdhütte befan-den sich bytoviki, Alltagsgauner.

Das Wetter war gut. Die Leitung beeilte sich damit, die Felder in Ordnung zu bringen, bevor der Regen kam. Zum Getreidebinden waren dreihundert Leute eingesetzt.

Zum Mittagessen reichten die Schüsseln nicht. Löffel gab es überhaupt keine. Die dünne Suppe wurde vom Tellerrand getrunken. Man hat sie tatsächlich getrunken, denn sie war nur ein bißchen trübe.

Meine Alten waren schon völlig erschöpft und bewegten sich kaum noch. Das bemerkte sogleich der Hauptwachmann. Er sprengte heran, begann alle anzuschreien – wir wären zu langsam.

Er schlug mich mit dem Gewehrkolben und brüllte, daß ich die Brigade schlecht lenken würde. Er drohte unserer Wachmannschaft. Das Fluchen und Schimpfen des Hauptwach-manns war weithin hörbar.

Und plötzlich fiel ein Schuß. Der hochgewachsene, breitschultrige Brigadier Krasnowskij, der sich auf seine Harke gestützt hatte, sank auf die Knie und fiel zur Seite: mit der Kandarre riß er die Lippe des Pferdes auf, neben dem Ermordeten stand der Hauptwachmann.

Alle Häftlinge lagen mit dem Gesicht nach unten. Irgendjemand schoß in die Luft. Wir lagen da und hatten Angst uns zu rühren. Im Galopp sprengten drei Angehörige des Wachpersonals heran. Ein Fuhrwerk näherte sich. Man brachte den Ermordeten ins Lager.

Im „Städtchen“ trat Kolokolnikow auf mich zu.

"Auf wen hat man denn geschossen?"

„Der Hauptwachmann hat Krasnowskij erschossen.“

„Krasnowskij?! Er hatte seine Haftstrafe verbüßt und war zur besonderen Verfügung dabehalten worden. Ja, so ist das!“

Wir gingen ein paar Schritte zusammen.

„Ich glaube, daß er vorsätzlich umgebracht wurde,“ unterbrach Pjotr Fjodorowitsch das Schweigen. „Seine Frau ist hierher gekommen. Sie hat zuviel geredet. Sie hat gedroht. Ob die überhaupt bis nach Moskau zurückgekommen ist."

Am nächsten Tag war unsere Brigade zur Arbeit beim Kartoffelausgraben eingeteilt. Alle freuten sich. Es keimte die Hoffnung auf, daß wir uns Kartoffeln backen und uns endlich sattessen könnten.

Aber kaum hatten wir die getrockneten Kartoffelstrünke angezündet, als die Begleitwache alles auseinanderwarf und das Feuer austrat.

Das Mittagessen wurde gebracht. Viele kleingeschnittene Kartoffeln hatten sie der dünnen Suppe (Balanda) beigemengt. Ich schaute Uspenskij an.

„Gott behüte uns! Du wirst dir die Ruhr holen und umkommen.“

Ich warnte die Brigade. Aber die Leute konnten den Hunger nicht aushalten und aßen die rohen Kartoffeln wie Äpfel. Und sie starben an Ruhr.

Die regnerischen Herbsttage setzten ein. Mein dünnes Mäntelchen, das mir gleichzeitig auch als Matratze, Decke und Kissen diente, war nach einem halben Jahr von den blanken Pritschen bereits so abgenutzt, daß Wind und Regenwasser unaufhörlich durch den Stoff drangen.

Oft rieselte feuchter Schnee herab. Auf unserer Sommerkleidung schmolz er sehr schnell und drang mit eisiger Kälte bis auf die Haut. Die Finger erstarrten im Schmutz. Viele Kartoffeln waren in der Erde geblieben. Die Begleitwachen waren wütend. Sie traten mit den Füßen und schlugen diejenigen mit dem Gewehrkolben, die Kartoffeln im Boden liegengelassen hatten.

Der alte Sigalajew fror so sehr, daß er seine Finger nicht mehr auseinanderbiegen konnte. Er sammelte nur die Kartoffeln auf,die obenauf lagen. Die Begleitwache schlug mehrmals auf ihn ein. Als der Wachsoldat erneut herankam, richtete Sigalajew sich auf und erhob seine Hände.

„Herr!“ rief er aus. „Laß auf die Erde eine Feuerhyäne herabkommen, damit diese Ungeheuer der Menschheit bestraft werden“. Und während er seine Hände über der Brust kreuzte sprach er: „Töte mich, du Hund. Erlöse mich von der Qual“.

„Tritt zur Seite und warte,“ knurrte der Wachsoldat.

Sigalajew verließen sogleich die Kräfte, er krümmte sich und steckte die Hände in die zerlumpten Ärmel. Auf dem Weg ins „Städtchen“ stützte und beruhigte ich ihn so gut ich konnte.

Am Morgen entdeckten sie beim Appell, daß Sigalajew sich erhängt hatte. An einem Metallbügel, der in einen Pfosten geschlagen war, an dem man sich festhalten konnte, um auf die oberen Pritschen zu gelangen.

Das Wetter verschlechterte sich.Die Lagerleitung hatte es nun eilig, die Kartoffeln und Rüben aus der Erde zu bekommen, und aus diesem Grunde wurden alle, bis zum letzten Mann, auf die Felder gejagt.

Aber als der Schneefall einsetzte und ein starker Wind blies, da traten einige „in den Streik“ und verweigerten den Arbeitsantritt. Dafür wurden wir für einen Tag und eine Nacht in den Karzer gesteckt. In der Nacht verhafteten sie von dort Nikolaj Petrowitsch Uspenskij.

Es herrschte eisiger Frost, Schneestürme wirbelten. Aus unserer Baracke wurde niemand mehr zur Arbeit hinausgebracht.

Der Winter hatte Einzug gehalten – mit Kälte und Hunger. Mein erster Winter im Lager. Vor mir lagen – acht Jahre.

IN FREIHEIT

1

Am 30. September 1943 wurde ich laut Abmelde-Bescheinigung aus dem Lager entlassen.

Mit den ersten Kriegstagen wurde die ohnehin schon schlechte Ernährung noch schlechter. Wochenlang gab man uns kein Brot – auch nicht die festgelegten zwanzig Gramm.

Stattdessen erhielten wir einen halben Liter flüssiger Mehlbrühe oder eine Schöpfkelle taubeneigroßer, gekochter Kartoffeln. Die Alten und Kranken starben wie die Fliegen. Ab März 1943 begann man die an Pellagra, Skorbut und allgemeiner Entkräftung Erkrankten per Abschreibungsbescheinigung in die Freiheit zu entlassen, aber nur jene, die bereits mindestens zwei Drittel ihrer Strafe verbüßt hatten.

Auch ich wurde freigelassen. Nirgends konnte ich hingehen. Die Eltern lebten im besetzten Gebiet. Die Schwestern waren nach Krasnowodsk evakuiert worden. Ihre Adresse kannte ich nicht.

Im Amtszimmer des Lagerleiters stand in einer Reihe mit mir ein kräftiger, untersetzter Bursche – Iwan Boldyrew, ein Nichtpolitischer, der seine Strafe verbüßt hatte. Wir unterhielten uns. Ich sagte ihm, daß ich nicht wüßte wohin.

„Na los, Junge, komm mit mir! Aufs Land. Die Mutter lebt dort ganz allein. Kannst erstmal bei uns wohnen“.

Ich war sofort einverstanden.

Er lebte in dem Dorf Sorokino, Kreis Krasnoturino, Region Krasnojarsk.

... Der junge Leutnant sah mich aufmerksam an und blätterte in meiner „Akte“.

„Wohin gehen wir denn?“

Ich sagte ihm, daß ich mit Boldyrew gehen wollte.

„Das geht“ – erklärte sich der Leutnant einverstanden.

Wir wurden bis Mariinsk gebracht. Der Begleiter besorgte uns Ausweise und wünschte uns eine gute Reise.

Iwan und ich stiegen in den Zug Nowosibirsk – Krasnojarsk und setzten uns in den letzten Waggon, der in Atschinsk abgekuppelt wurde und dann weiter nach Abakan fuhr.

Im Waggon war es eng, stickig vom Rauch selbstangebauten Tabaks, schwül.

Von Abakan bis zu dem Dörfchen, in dem Iwan lebte, mußten wir noch etwa 100 km auf dem Jenissej fahren. Und der Dampfer von Minussinsk nach Krasnojarsk via Sorokino ging nur einmal wöchentlich. Um ihn nicht zu verpassen, mußten wir zur Anlegestelle rennen. Iwan stützte mich und zog mich vorwärts. Ich war ganz außer Atem. Wir schafften es gerade eben auf das Schiff zu kommen.

... Es war bereits dunkel als wir bei Iwans Haus ankamen. Es war eine alte, kleine Holzkate mit zwei Fensterchen. Die Rahmen sahen zerbrechlich aus und waren kreuzförmig angelegt. Die schiefen und ausgetretenen Treppenstufen ruhten auf dünnen Säulen. Die Hütte war mit Schilfrohr gedeckt. Mit herrischem Schritt stieg Iwan auf die Stufen hinauf, hustete und klopfte laut.

„Wer ist dort?“ – fragte die Mutter. Iwan antwortete.

Schweigend schob sie den Türriegel beiseite. Wir betraten das enge Heim. Im Innern der Hütte herrschte Halbdunkel. Eine Petroleumfunzel brannte. Der Fußboden war aus Erde. Ein rußgeschwärzter Ofen. Ein Tisch, alte Sitzbänke, krumm und schief wie das Dach.

„So, da wären wir also zuhause“, sagte Iwan. Die Mutter schluchzte und ging, während sie mit einem Zipfel ihres Kleides die Augen wischte, zum Ofen.

„Na, Ma, ich bin doch hergekommen“, sprach Iwan und begann sich zu entkleiden.

Martha, so hieß Iwans Mutter, nahm ein kleines, gußeisernes Töpfchen mit Kartoffeln, die sie schon für morgen vorbereitet hatte, stellte es auf den Herd und bedeckte es leicht mit zerbrochenem Reisig, das sie an der Petroleumlampe entzündet hatte. Die trockenen Zweige fingen fröhlich an zu brennen.

„Was gibt’s bei euch denn Neues?“ fragte Iwan.

„Genug mit den Neuigkeiten. Höchstens deine Tränen kannst du dir trocknen. Dein Freund ist umgekommen, Sergej Samsonow. Gerade vor einer Woche hat sein Begräbnis stattgefunden“.

Und die Mutter begann zu erzählen, wieviele Beerdigungen sie inzwischen mitgemacht hatte, wer verwundet von der Front zurückgekehrt war und von wem seit Beginn des Krieges keine Briefe mehr gekommen waren. Iwan hörte mit finsterer Miene zu und sah auf das lodernde Reisig. In dem ehernen Topf gluckste das Wasser.

Ich saß schweigend auf dem Rand der Bank, unmittelbar an der Tür. Und der Verstorbene Sigalajew trat in mein Gedächtnis, mein Zellenkamerad. Verzweifelt hatte er Gott gebeten, eine Feurhyäne auf die Erde herabzuschicken. Und diese Hyäne war auch gekommen – der Krieg, die Stalinschen Lager, die Gefängnisse ... Zu Millionen kam das unschuldige Volk ums Leben. Aber die Hyäne hatte nicht zum Schlag gegen diejenigen ausgeholt und nicht jene vernichtet, die hätten umkommen sollen, dachte ich.

Martha stach mit dem Messer in eine Kartoffel, zog den Eisentopf heraus und goß das gesalzene Wasser in einen kleinen Topf um. Für morgen, für die Suppe. Am Tisch schimpfte Martha über die Mißernte, die ganz Chakassien heimgesucht hatte. Und das, was geerntet wurde, ging an die Regierung.

Am Morgen entschloß ich mich nach Krasnoturansk zu gehen – um einen Paß zu bekommen und Arbeit zu suchen. Iwan und Martha begleiteten mich schweigend. Und als ich zurückkam, begegneten sie mir unfreundlich. Martha goß mir etwas kalte und dünnflüssige Suppe in eine Schüssel. Und am nächsten Morgen rieten sie mir, ein Nachtquartier in Krasnoturansk zu suchen.

Den ganzen Tag lang lief ich von einer Behörde zur anderen, stieß aber überall auf Ablehnung. Und im Kreiskomitee, Kreis-Exekutivkomitee, Kreis-Konsumgenossenschafts-verband, der Kreisbeschaffungsabteilung und der Kreisfinanzabteilung waren sie mir gegenüber feindlich gesinnt.

Während ich durch die Straßen streifte, sah ich einen Aushang „Haus des Kolchosbauern. Kreis-Gasthaus“. An den Pferdehalterungen standen angeschirrte Pferde. Von der Treppe kam munter ein junger Mann herab. Er zog aus der Tasche ein Stück Brot, einen gewaltigen Kanten – bestimmt nicht weniger als ein halbes Kilo – und wollte ihn den Pferden geben.

„Warten Sie, Kamerad!“ Ich eilte auf ihn zu, packte ihn am Ärmel.

„Geben Sie mir das Brot.“ Er drehte sich um. Eilig begann ich ihm zu erklären, daß ich den ganzen Tag über nichts gegessen hatte, daß ich aus dem Lager kam.

„Du hättest arbeiten müssen und nicht stehlen“.

„Ich bin kein Dieb. Ich habe niemanden benachteiligt“. stammelte ich.

„Und wofür haben sich dich dann eingesperrt, so einen Ehrlichen wie dich?“

„Ich ... ich bin der Sohn eines Kulaken.“

„A-a, dann ist es verständlich“.

Und in seinem Gesicht war der Ausdruck von Mitleid zu erkennen. Er überreichte mir das Brot und zog aus der anderen Tasche ein kleines Stück Speck, das in Zeitungspapier eingewickelt war.

Ich war bereit, diese freigebige Hand zu küssen. Er erriet das wohl und verbarg die Hand hinter dem Rücken.

„Geh in die Dienststube und iß dort in Ruhe. Wenn du Wasser haben möchtest – dort werden sie dir was geben“.

Ich ging ins Haus. Ich wollte gern wissen, wer dieser gute Mensch war. Vom Fenster aus konnte man sehen, daß er sich in einen Pferdekarren setzte. Mir wurde gesagt, daß er Dubinin hieß, Vorsitzender der Kolchose „Morgenröte des Kommunismus“.

Ich setzte mich in eine Ecke und aß alles, was Dubinin mir gegeben hatte. Ich aß und bedauerte, daß ich nichts für später übrig gelassen hatte. Ich hatte es nicht aushalten können, so schrecklich hungrig war ich.

Vom Essen wurde ich müde und schlief schnell ein. Als man mich weckte, war es schon dunkel. Die Diensthabende entschied, daß ich das Pferdefuhrwerk abwarten sollte und bemerkte, daß es bereits spät war und kaum jemand mich heute noch abholen würde. Ich „kam mit ihr überein“ und bat um die Erlaubnis über Nacht dort zu bleiben. Sie wies mir einen Platz zu – auf einer breiten Bank.

Am anderen Morgen machte ich mich erneut auf den Weg, um Arbeit zu suchen. Ich lief ein paar Straßen ab, fand aber natürlich nichts.

Ich sah noch einen Platz zum Anbinden von Pferden sowie einige Pferde, die vor ein Fuhrwerk gespannt waren. Im Haus schien eine Kantine vorhanden zu sein. Ich ging hinein. Dort waren bereits einige Menschen. Ich setzte mich an einen unabgeräumten Tisch.

„Setzen Sie sich an einen sauberen, hier bin ich beim Aufräumen“, sagte die Kellnerin in der Annahme, daß ich Mittagessen bestellt hatte.

Ich errötete und bat sie, mir ein wenig von der nicht aufgegessenen Suppe stehenzulassen.

Sie verschnaufte einen Augenblick und schob mir eine Schüssel hin. Sie sah zu, wie ich diese Essensreste gierig hinunterschlang, füllte nochmal fast eine ganze Schüssel voll und fragte leise:

„Haben Sie einen Paß?“

Ich zeigte ihr den Paß und erklärte ihr so gut es ging, wer ich war. Sie ging fort.

Aber eine Kantine ist kein Gasthaus, und so mußte ich mich bald irgendwo anders hin- begeben.

Tiefster Herbst rückte heran. Nach und nach „siechte ich dahin“. Schon ging ich nicht mehr auf die Straße, konnte mich nur noch mit Müh und Not dahinschleppen. Mir war schwindelig. In der Kantine fielen immer weniger Essensreste für mich ab. Im „Gasthaus“ verschwand die Bank, die mir als Schlafstelle gedient hatte. Ich fühlte, daß mein Leben seinem Ende zuging.

Eines Abends schleppte ich mich ins „Haus des Kolchosbauern“. Im Fenster der Miliz brannte ein Lämpchen. Ich öffnete die Tür. Wärme strömte mir entgegen.

„Was ist geschehen?“ fragte der Diensthabende.

„Nichts ist geschehen“, antwortete ich. „Ich habe nur das Licht gesehen und bin dann kurz hereingekommen, um mich aufzuwärmen“.

Wir unterhielten uns. Und da erinnerte ich mich daran, wie zu Zarenzeiten die Landstreicher im Sommer gearbeitet hatten und zum Winter hin kleinere Diebstähle verübten, woraufhin sie dann für ein halbes Jahr ins Gefängnis kamen, im Frühjahr freigelassen wurden und dann erneut bis zum Herbst, nicht sonderlich betrübt dahinlebten.

„Sagen Sie, Genosse Diensthabender“, wandte ich mich an den Milizionär, „verurteilt man heutzutage zu einem halben Jahr Gefängnis?“

„Eine solche Haftdauer gibt es jetzt nicht. Das mindeste sind – drei Jahre. Mit weniger darfst du nicht rechnen.“

Wir redeten noch eine Weile miteinander, aber bald schlief ich ein. Vor lauter Schwäche fiel ich jetzt häufig in den Schlaf, ganz egal, wo ich ging oder stand.

Vor dem Eintreffen des Vorgesetzten weckte der Diensthabende mich. Ich machte mich auf den Weg, um das Volksgericht ausfindig zu machen. Ich wartete auf den Rechtsanwalt und fragte ihn, welche Art von Verbrechen man verüben mußte, um für ein halbes Jahr ins Gefängnis zu kommen. Er verstand mich und antwortete geradeheraus:

„Man muß eine Kleinigkeit stehlen, aber ohne Einbruch.“

Und da bemerkte er, daß mir das gar nicht weiterhelfen würde:

„Bei Ihnen kommt der § 35 des Strafgesetzes der UdSSR zur Anwendung – ohne feste Beschäftigung und Wohnsitz, und das bedeutet – drei Jahre Arbeitsbesserungslager.

„Würden Sie mich verteidigen?“

„Nein“, antwortete er. „Das ist unnötig.“

"Was soll's - wir riskieren es", dachte ich. Im Lager werde ich als Alltagsgauner mit einer geringen Haftstrafe nicht unter Bewachung gestellt, und mein Leben wird gerettet sein.

Vom Volksgericht schleppte ich mich über den mit Brettern befestigten Fußweg und blickte aufmerksam durch die Ritzen der Zäune und verschlossenen Pforten: ob nicht vielleicht jemand Wäsche zum Trocknen in den Hof gehängt hatte. Ganz verzaubert von diesem Gedanken, ging ich beinahe an den Pferden vorbei, die vor einen leichten Karren gespannt und am Zaun angebunden waren. Ich ging um sie herum und sah dabei zufällig auf dem Fuhrwerk einen verschossenen Soldatenmantel. „Da sind sie, meine sechs Monate, ganz ohne Einbruch!“ schoß es mir durch den Kopf.

Ich warf mir den Mantel über die Schultern und ging langsam am Zaun entlang.

„Halt! Stehenbleiben!“ ertönte eine Stimme hinter mir.

Ich blieb stehen. Ein Mann kam zu mir herangelaufen und riß mir den Mantel von der Schulter. Ich bedeckte das Gesicht mit den Händen, weil ich Schläge erwartete. Aber er schlug mir nur leicht mit dem Mantel auf den Kopf und trat zurück. Ich konnte es nicht glauben, aber die Schritte entfernten sich. Ich drehte mich um und schrie:

„Bleiben Sie stehen, Genosse! Warten Sie doch!“ – Und ich jagte ihm hinterher.

„Was ist denn noch?“

„Bringen Sie mich zur Miliz und erklären sie denen, daß ich von ihrem Pferdefuhrwerk einen Mantel gestohlen habe. Retten Sie mir das Leben.“

Er betrachtete mich aufmerksam.

„Du kommst gerade aus dem Lager und bittest darum, wieder dorthin zu kommen?“

„Niemand will mich für eine Arbeit einstellen. Ich kann nirgends wohnen. Es gibt für mich keinen anderen Ausweg.“

„Na ja, kommen Sie mit mir“, sagte er entschlossen und führte mich über den mit Brettern befestigten Weg zum Hauseingang.

Der Fußboden im Haus war gestrichen, aber schon vor langer Zeit. Die Türen waren mit Holz getäfelt.

Ich begriff, daß das der Leiter war.

Wir betraten eine saubere Küche. Eine reinliche Alte kam uns entgegen.

„Mami, gib diesem Mann was zu essen. Wenn du essen willst“, wandte er sich an mich – „geh zum Haus des Kolchosbauern und schau mal zur Kantine rein. Ich fahr dort gleich kurz vorbei und werde alles Nötige veranlassen. Und morgen gegen zehn Uhr geh in die Lunatscharskij-Straße 19. Frag im zweiten Stock nach Bjelow. Sie werden dir mein Amtszimmer zeigen“.

Wie ich dann erfuhr, war Bjelow der Hauptleiter bei der Verwaltung der Kreis-Butterwirt-schaft.

Als ich ins Haus des Kolchosbauern kam, stand meine Schlafbank wieder an ihrem Platz, die Diensthabende forderte mich höflich auf, mich darauf auszuruhen, sogar tagsüber. In der Kantine bekam ich die Reste einer trüben Brühe aufgefüllt – bis ich zum Platzen voll war.

Am nächsten Tag empfing Below mich freundlich und bat mich Platz zu nehmen.

„Willst du als Buchführer arbeiten?“

„Mit Vergnügen.“

„Geh runter in die Buchhaltung. Dort zeigen sie dir deinen Arbeitsplatz und zahlen dir einen Vorschuß, und da kannst du gegen Bezahlung mittagessen. Die Angestellten werden dir helfen eine Wohnung zu finden. Und ab 1. Dezember schicke ich dich zu einem Lehrgang für Laboranten der Butterfabrik“.

Ich fing an mich bei ihm zu bedanken.

„Nicht nötig, nicht nötig“, fiel er mir ins Wort: „Geh schon“.

Während ich auf dem Seminar war, wurde das Gebiet Kalinin von den Faschisten befreit. Below fuhr nach Hause, um die Milchwirtschaft wieder aufzubauen. So gelang es mir auch nicht, ihm zu danken und ihm zum Abschied die Hand zu schütteln.

Nach Beendigung der Kurse arbeitete ich in der Nowoswininsker Butterfabrik als Laborant. Nach zwei Jahren schickten sie mich, weil ich ein so guter Arbeiter war, zu einem Lehrgang für Butterfabrikationsmeister. Danach arbeitete ich als Meister in der Moissejewsker Butter-fabrik. Bald darauf fuhr ich nach Chakassien und fand eine Beschäftigung als Meister für die Herstellung von Butter in der Bagradsker Kreis-Butterwirtschaft.

Damit hatte ich, wie mir schien, die Spuren meiner Vergangenheit verwischt.

Im Dezember 1947 siedelte ich in die Region Kursk über, richtete mich dort ein, und ein halbes Jahr später brachte die Schwester mir meinen Sohn Gennadij. Er war nun schon zwölf Jahre alt. Abgemagert, mit Sommersprossen im Gesicht ... Mein armer Junge. Wir umarmten uns. Er drückte sich an mich, schluchzte auf und verstummte. Und meine Tränen tropften auf seine zottigen Haare.

2

1964 ging ich aufgrund von Invalidität in Rente und begann über jene angsterfüllten Jahre stalinistischer Repressionen zu schreiben, die dazu geführt hatten, daß ich im Lager hatte leben müssen.

Als ich den Kurzroman beendet hatte, sammelte ich alle Seiten zusammen, nummerierte sie und fuhr damit nach Moskau, zur Beratungsstelle der Schriftsteller-Vereinigung. Dort las ich einige Seiten vor – und danach gaben sie mir die handgeschriebenen Seiten zurück.

„Das wird niemand drucken“, sagte die Frau streng, die mein Manuskript durchgeblättert hatte. Das war wie ein Schlag.

Auf dem Rückweg sah ich neben der Grünanlage an der Bolschaja Grusinskaja-Straße viele ausländische Autos und Milizangehörige. Nachdem ich das Aushöngeschild gelesen hatte, begriff ich, daß sich hier die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland befand. „Da kann ich meine Erzählung abgeben“, schoß es mir durch den Kopf.

Ich setzte mich in einiger Entfernung auf eine Bank, an der ein nichtrussisches Fahrzeug stand, und begann geduldig zu warten. Bald näherte sich der Besitzer des Autos. Nach einem kurzen Gespräch erhielt ich von ihm die Telefonnummer eines Journalisten, den ich auch sogleich anrief. Er sagte mir seine Adresse, und ich stürzte los – zum Kutusowsker Prospekt.

Im Hof hielt mich ein Angehöriger der Miliz fest. Und so fand ich mich bei der Miliz wieder. Das Manuskript nahmen sie mir fort. Nach etwa drei Stunden wurde ich dem Untersuchungs-beamten vorgeführt. Er hörte mich an, setzte ein Protokoll auf und ordnete an, daß ich mich auf dem schnellsten Wege aus Moskau davonmachen sollte.

Dies ereignete sich im Jahre 1972. Fast ein Jahr später, es war bereits Sommer, wurde ich zur Schelesnogorsker Abteilung des Komitees für Staatssicherheit der Region Kursk bestellt. Im Amtszimmer saßen drei Männer. Der Leiter der KGB-Kreisabteilung Dawydow, sein Sekretär und ein Oberstleutnant aus dem Gebietssicherheitskomitee. An seinen Nachnamen kann ich mich nicht mehr erinneren.

Auf dem Tisch „prunkte“ mein gut durcheinander gebrachtes Manuskript. Darauf lag eine Bescheinigung des KGB. Darin stand, daß ich zu acht Jahren Freiheitsentzug wegen der Äußerung terroristischer Gedanken gegen den Genossen Stalin verurteilt wäre.

Nachdem ich aus Sibirien weggezogen war, verheimlichte ich dies sorgfältig. Im Verhör-protokoll wurde gesagt, daß ich verleumderischeWerke geschrieben und versucht hätte diese ins Ausland zu schaffen.

Dawydow benahm sich recht grob, wie ein Untersuchungsbeamter der dreißiger Jahre.

Er war ein echter NKWD-Mann!

Einige Tage später, beim Durchblättern der Zeitung, stieß ich auf einen Artikel über den Vertrag von Helsinki. Darin wurde auch etwas über Freiheit im Umgang mit Ausländern sowie den Austausch von Kunst gesagt. Und meine Erzählung hielt ich selbstverständlich für Kunst.

Am nächsten Tag forderte ich Dawydow auf, mir mein Manuskript zurückzugeben, aber er weigerte sich. Auf dem Heimweg erinnerte ich mich daran, daß ich alle Entwürfe noch im Mai in den Ofen gesteckt hatte. Aber meine Frau heizte im Sommer gar nicht. Alle Seiten schienen noch vollzählig zu sein. An jenem Tag suchte ich die für mich nötigen Blätter heraus und brachte sie nach Kursk zum Abschreiben auf der Maschine.

Nach drei Monaten bestellte die Maschineschreiberin mich zu sich. Neben dem Haus, in dem sich das „Büro für Dienstleistungen“ befand, bemerkte ich einen schwarzen „Wolga“ und begriff sogleich, daß dieser „Wolga“ hier auf mich wartete. Als ich an dem Auto vorbeiging und dann über den Hof schritt, wurde ich unbemerkt fotografiert.

Ich erhielt das Manuskript und verließ das Büro in der Überzeugung, daß man mich in dem „Wolga“ abtransportieren würde, aber er stand dort schon nicht mehr.

Kurz darauf erschien Dawydow auf einer Versammlung der Kreis-Parteiaktivisten. Er zeigte allen meine Fotos, nannte mich einen Abtrünnigen und Intriganten. Er teilte mit, daß ich als Volksfeind im Gefängnis gesessen hatte. Dabei merkte Dawydow noch an, daß ich unter Aufsicht stünde und man mir nicht gestatten würde zu einem Vaterlandsverräter abzugleiten.

Bis dahin war ich nur ein Intrigant gewesen.

Die Parteiaktivisten hörten ihm zu und wechselten Blicke untereinander. Ein Flüstern drang zu mir herüber:

„Wer hätte das gedacht... Was für Menschen gibt es noch unter uns...“

Von diesem Tag an wurde ich zum Aussätzigen.

Als Rentner verdiente ich gelegentlich in der Kreis-Konsumgenossenschaft etwas hinzu.

Ich war in den Kommissionen für die Inventarisierung und Überprüfung von Geschäften, Lagerräumen und Versorgungspunkten des Handelsnetzes mit dabei.

Nach der Versammlung wurde ich nirgends mehr eingestellt.

Viele Kommunisten, die auf der Versammlung der Parteiaktivisten gewesen waren, kannten mich gut. Bei den Zusammenkünften hatten sie mich immer begrüßt, manche waren stehen-geblieben, um sich mit mir ein wenig zu unterhalten. Nach dem Auftritt Dawydows hörte dies auf. Alle wandten sich von mir ab.

Die Angestellten des KGB und der Kreis-Staatsanwalt Chawajew ließen mich nicht aus den Augen.

Von dem Vorhaben, mein Manuskript ins Ausland zu schaffen, wich ich nicht ab. Dreimal fuhr ich nachts heimlich nach Moskau zur Internationalen Buchmesse, um dort meine Erzäh-lung zu „verkaufen“. Und alle drei Male blieb ich erfolglos, obwohl ich mich mehrere Tage neben dem europäischen Pavillon herumtrieb. Aber dort versahen getarnte Mitarbeiter des KGB ihren Dienst. Als der Zufall es so wollte, daß ich mit den Ausländern unter vier Augen reden konnte, drückte ich den Aktendeckel an mich und klopfte lautlos darauf, um zu verstehen zu geben, daß ich ein Manuskript darin verwahrte. Erschrocken blickten sie zur Seite, schüttelten ablehnend die Köpfe und drehten sich um. Vom Mißerfolg gejagt kehrte ich jedes Mal krank aus Moskau zurück.

So gelang es mir auch nicht, meine Erzählung im Westen zu veröffentlichen.

„Freiheit“ – Zeitschrift von Gefangenen totalitärer Systeme, No. 1, 1993
Verlag „Woswraschenije“ („Wiederkehr“), Rußland, Moskau


Zum Seitenanfang