Die unruhige Erinnerung schläft nicht,
Es schlägt in den jungen und tapferen Herzen,
Wie eine Stichwunde brennt der Schmerz,
Getränkt mit dem Blut hunderter unschuldiger Menschen.
Durch den Schmerz in unserem Herzen wollen wir uns daran erinnern,
Wer in den Fleischwolf der Repressionen geriet,
Durch den Schmerz in unserem Herzen vergeben wir den Schuldigen,
Wir werden die unglücklichen Prozessionen nicht vergessen.
An staubigen Straßenrändern,
Einsamen, kleinen Eisenbahnstationen,
Hat das Leben eine schmerzliche Lehre zurückgelassen –
In Gestalt von hunderten unbekannten Überresten.
Durch jemandes bösen und unbarmherzigen Willen
Sind die Schicksale der Menschen zuschanden gekommen
Wann waren sie denn das letzte Mal glücklich?
Sie wurden doch zu Aussätzigern in ihrem eigenen Land.
Und einer ist da, der scheut sich überhaupt nicht davor,
Hunderttausende unschuldiger Menschen
Aus ihrem Familienglück herauszureißen
Und sie so schnell wie möglich zwischen die Mühlsteine der Repressionen zu
werfen.
Schwere Schicksalsschläge entfielen auf das Los unserer Landsmännin Marta Genrichowna Rodionowa. Der vollständige Entzug der Kindheit, der schwere Lebensweg, die schwere aufopfernde Arbeit – all das muß in der Erinnerung der Menschen erhalten bleiben.
Die herrlichen Weiten des Wolgagebiets rufen eine poetische Stimmung hervor, wecken in der Seele helle, lyrische Weisen. Hier lebten seit jeher Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und bauten, bestrebt nach Eintracht und Freundschaft, die Zukunft ihrer Kinder auf. In dieser wunderschönen Region, in Poltawa, unweit der Stadt Engels, wurde am 10. November 1932, in dem Dörfchen Neip das Mädchen Marta geboren. Das anmutige, bezaubernde kleine Mädelchen erfreute seine Eltern, die nicht im Traum daran gedacht hätten, was ihr herzallerliebstes Kindchen und ihre ganze große Familie erwarten würde. In der Familie der Eltern, Amalia Christianowna Lindemann und Genrich (Heinrich) Genrichowitsch, ethnischen Deutschen, wuchsen vier Kinder heran: drei Töchter und ein Sohn. Marta war das älteste Kind. Die Familie war recht wohlhabend, lebte einträchtig miteinander – sie stützte sich auf gegenseitige, liebevolle Treue und der bei den Deutschen üblichen Ordnungsliebe. Sie unterhielten eine große Hofwirtschaft, mit der es ihnen nicht schlecht ging: jedenfalls hatten sie ihr gutes Auskommen.
Das Elend begann aus heiterem Himmel. Die schwarzen Horden der deutschen Besatzer stürmten die UdSSR. Und niemand hätte zuvor vermutet, daß das Wort „Deutscher“ einmal zum Schimpfwort werden und die Zugehörigkeit zu dieser Nationalität Kummer und Gram über hunderte von Menschen bringen würde. Als der Krieg begann, war die kleine Marta gerade neun Jahre alt und hatte es gerade noch geschafft, die dritte Schulklasse zu beenden.
Die bevorstehenden Ferien versprachen eine Vielfalt an Vergnügen und Zerstreuung, die Kinder machten Pläne für neue Abenteuer, aber es sollte ihren Wunschträumen und Plänen schon nicht mehr vergönnt sein, in die Realität umgesetzt zu werden. Im September 1941 erging die Anordnung der Regierung über die Umsiedlung der Wolgadeutschen nach Sibirien, die man des Verrats und der Unterstützung der feindlichen Eindringlinge beschuldigte.
Sobald dieser Befehl den Dorfrat erreicht hatte, noch am selben Abend, wurden die deutschen Familien zur Bahnstation, zu den Zügen, geholt und nach Sibirien verschickt. Eine ungeheuerliche Maschinerie war in Gang gesetzt worden, die keinerlei Unterschied zwischen tatsächlich Schuldigen und Unschuldigen machte: Deutscher zu sein – das war gleichbedeutend mit Feind. Sie hatten lediglich einen Koffer mit Kleidung bei sich; alles andere mußten sie in ihrem Heimatdorf zurücklassen. Die Regierunbg versprach ihnen, daß sie, gegen Vorlage einer Quittung, ihren gesamten Besitz in Sibirien zurückerhalten würden, aber niemand stellte ihnen diese Quittung aus, und es wurden diesbezüglich auch gar keine Anstalten gemacht. Was hatte man mit den vermeintlichen Verätern vor?
Die Vertreter der Behörden scherten sich nicht um Kinder, alte Menschen und Kranke, allen wurde ohne jede Ausnahme der Stempel „Volksfeind“ aufgedrückt.
Sie waren ungefähr zwei Wochen unterwegs: die beheizbaren, mit Menschen bis unter das Dach vollgestopften Güterwaggons, das Fehlen der elementarsten hygienischen Standards und der Hunger hatten ihre Auswirkungen auf die Gesundheit vieler Leute. Im Oktober 1941 traf die Familie Lindemann im Nasarowsker Bezirk, in dem Dörfchen Wjerchnjaja Beresowka, ein. Zum Wohnen gab man der Familie ein kleines Häuschen, in dem noch drei weitere Familien untergebracht waren. Bald darauf holten sie den Vater in die Arbeitsarmee, in ein Metallhüttenwerk in Tscheljabinsk, wo er bis 1947 arbeitete. Marta Genrichowna mußte sich während der Zeit, in der die Mutter beim Getreideschälen war, um die jüngeren Geschwister kümmern. Sie versuchten zu überleben so gut es ging, aber das war so schwer, daß es sich in Worten nicht ausdrücken läßt. Nicht genug damit, daß Krieg herrschte und deswegen alles an die Front abgegeben werden mußte, nein, es war auch der Status des Volksfeindes, der die Familien praktisch zu Vogelfreien machte. Der erste Winter war besonders trostlos: die unbekannte Gegend, grimmige Kälte, der Mangel an Arbeit und Existenzmitteln. Wie sie überhaupt überleben konnten, das weiß nur Gott allein. Sie waren nun gezwungen, sich noch einmal einen Haushalt einzurichten und eine Art Hofwirtschaft zu organisieren, um genug zu essen zu haben und die Steuern an den Staat zahlen zu können, denn selbst die Familien, die sich kein Hausvieh anschafften, sollten eine Geldsteuer von bis zu 50 Rubel leisten. Die heranwachsenden Kinder mußten auf den Feldern arbeiten: sie verarbeiteten Futter- und Rinkelrüben. Und zuhause warteten noch drei hungrige Kindchen auf sie, die ungeduldig auf die Heimkehr iher Ernährer warteten. Marta und ihre Mutter trugen in aller Heimlichkeit hochgezogene Hackfrüchte nach Hause, damit die Kleinen etwas Eßbares bekamen, wobei sie jedesmal ihre Freiheit und ihr Leben riskierten, denn wenn dich erst einmal der Brigadier aufs Korn genommen hatte, dann erwartete dich unwiderruflich die Verhaftung und eine langjährige Gefängnisstrafe. Niemand interessierte sich dafür, ob du seit dem Morgen überhaupt schon etwas gegessen hattest, wieviele Kinder bei dir lebten und wovon sie sich eigentlich ernährten. Bis 1957 mußten sich die gesamte erwachsene Bevölkerung sowie heranwachsende Kinder einmal im Monat zum Dorfrat begeben, um sich dort zu melden und registrieren zu lassen; auf diese Weise überprüften die Behörden, ob es unter den Sonderumsiedlern nicht möglicherweise Leute gab, die sich aus dem Staub gemacht hatten.
Ins heimatliche Wolgagebiet zurückzukehren gelang ihnen nicht – es fehlte an finanziellen Mitteln für die Fahrt, und es gab ja auch keine garantie dafür, daß die Familie dort ihr Haus und ihren besitz zurückerhalten würde; und einfach so in eine unbekannte Zukunft fahren – das wollten sie auch nicht.
Mit 15 Jahren begann Marta Genrichowna bereits selbständig auf den Feldern zu arbeiten, und später als Kälberhirtin. Die Pflege des Jungviehs war eine schwierige und zeitraubende Arbeit, die ihr große physische Anstrengung und erhöhte Aufmerksamkeit abverlangte. Auf diesem schweren Arbeitsplatz blieb die Heldin unserer Erzählung bis zum Rentenalter. 1952 heiratete sie Anatolij Aleksandrowitsch Rodionow. Zusammen mit ihrem Mann zog sie 5 Kinder groß: 4 Töchter und 1 Sohn. Marta Genrichowna wurde später die „Mutterschaftsmedaille“ verliehen.
Zwei Töchter leben bereits seit langem in der Siedlung Preobraschenskoje. Im Jahre 2003 zogen auch Marta Genrichowna und Anatolij Aleksandrowitsch dorthin, um näher bei ihren Kindern zu sein.
Die Materialien wurden von
Tanja Buschajewa, Nina Jersikowa und Olja Sawerjucha,
Schülerinnen der 9. Klasse, zusammengestellt.
(aufgeschrieben anhand persönlicher Erinnerungen unter Beibehaltung des Originaltextes und der stilistischen Besonderheiten.)
Atti Nadbitowitsch Natyrow wurde am 3. Februar 1915 in der Republik Kalmückien, im Schwarzerde-Bezirk, in dem Dorf Char-Tolga geboren. Vier Klassen Schulbildung, Muttersprache – Kalmückisch, jetzt allerdings Russisch, denn das Kalmückische hat er inzwischen verlernt. Nicht gläubig; er erinnert sich aber, daß seine Großmutter ihn in seiner Kindheit mit in die Moschee nahm.
In seinem Heimatdorf Char-Tolga zählte man 40-50 Höfe. Die Einwohner befaßten
sich mit Viehzucht – Schafe, Kühe, Kamele, Pferde, sie betrieben Ackerbau –
Weizen, Hafer, Hirse, Gerste usw. Der Lieblingsfeiertag der Kalmücken war das
Erntefest, bei dem sich das gesamte Dorf versammelte. Man schlachtete Hammel,
kochte Fleisch in Kesseln und ließ es sich schmecken. Die jungen Leute
veranstalteten Pferderennen aus und trugen auf einem öffentlichen Platz
Wettkämpfe untereinander aus, in denen es um Kraft und Ausdauer ging.
Tänzer tanzten nach den Klängen von Dombra und Gesang. Bei den Kalmücken gibt es
folgende Sitte des Teetrinkens: man übergießt Platten grüner Teeblätter mit
kochendem Wasser und gibt anschließend Milch, Salz und Butter hinzu. Alle sitzen
auf dem Boden auf türkische Art in einer Runde beisammen, das heißt mit
gekreuzten Beinen, und trinken Tee aus Schalen. Die Nationalkleidung der
Kalmücken – ein bunter, mit einem Gürtel um die Taille gebundener Kittel, an den
Füßen chromlederne Stiefel mit spitz zulaufenden Socken, auf dem Kopf ein rundes
Käppchen oder eine Kopfbedeckung in der Art eines Hutes mit Krempe.
Atti Nadbitowitschs Familie bestand aus drei Personen: er selbst, sein älterer Brunder und die Großmutter, die sie großzog, denn Vater und Mutter waren früh verstorben. Die Familie kümmerte sich um Haushalt und Hofwirtschaft, arbeitete vom frühen Morgen bis zum Einsetzen der Dunkelheit. Sie lebten in ärmlichen Verhältnissen; die Lebensbedingungen waren denkbar schlecht, materiell waren sie überhaupt nicht abgesichert. Eben aus diesen Gründen gelang es Atti Nadbitowitsch nicht, die Schule zu beenden. Nach der vierten Klasse mußte er arbeiten gehen. Bis zum Krieg war er in seiner Kolchose in der Registratur beschäftigt.
Vom Ausbruch des Krieges erfuhr er während der Arbeit. Die Nachricht schlug wie ein Blitz ein. Etwas später erhielt er den Einberufungsbefehl und fuhr zur Sammelstelle in die Bezirkshauptstadt. Er fühlte nur eines: der Feind mußte von seinem Grund und Boden vertrieben werden. Im Juli 1941 ging er an die Front. Die Einberufung erfolgte durch das Schwarzerde- Bezirkskriegskommissariat. Der Abschied fand in aller Eile statt. Es verging insgesamt ein Jahr, bis er aus der Armee wieder demobilisiert wurde, wo er einen befristeten Dienst in der Kavallerie abgeleistet und nicht im Traum daran gedacht hatte, daß man ihn erneut mobilisieren und in den Kampf schicken würde, um selber jene zu töten, die auf die Freiheit unserer Heimat Anschläge verübten.
An der Front erhielt er die Bezeichnung Hauptfeldwebel, kämpfte in Artillerie und Kavallerie. Er geriet in den Nordkaukasischen Wehrkreis. In der ersten Zeit, nachdem er an die Front gekommen war, war es ganz schrecklich und gruselig sich von einem friedfertigen einwohner in einen Krieger mit Gewehr in den Händen zu verwandeln, aber später gewöhnte er sich daran. Die zusammen mit ihm ins Feld gezogen waren akzeptierten und mochten ihn. Er freundete sich schnell mit allen Kämpfern der 383. Schützendivision, dem 696. Schützenregiment an. Aber er wußte nicht, daß neben ihm ein Sibirjak kämpfte, sein jetziger Landsmann Aleksandr Fedorowitsch Lagno. An den ersten Kampf kann er sich noch sehr gut erinnern. Genau über ihrer Stellung ging ein Bombenangriff los. Die feindlichen Flugzeuge kamen wie eine schwarze Wolke angeflogen, aber die Soldaten befanden sich in ihren Schützengräben und versuchten, sie aus ihren Waffen zu beschießen. Er wurde verwundet, allerdings nur leicht – Splitter gerieten ihm in Rücken und Bein. Einen Monat lang blieb er in Sewastopol im Krankenhaus.
Atti Nadbitowitsch kämpfte ein- bis eineinhalb Jahre bei der Artillerie, anschließend schickten sie ihn für sechs Monate zum Lehrgang in die Regimentsschule; er erhielt den Rang eines Hauptfeldwebels und kehrte zur 383. Schützendivision des 696. Schützenregiments zurück. Sie waren an der Befreiung der Städte Sewastopol, Kertsch, Bachtschisaraj beteiligt, nahmen den Berg Sapun ein und siegten, obwohl die Deutschen sich auf diesem Berg oben befanden und die sowjetischen Soldaten an seinem Fuße.
Atti Nadbitowitsch erinnert sich noch an eine Kampfoperation, in der er keine unwichtige Rolle spielte. Das war im Bezirk Perekop ind er Nacht zum 15.08.1941, als er sich unweit seiner Stellung befand und mutterseelenallein auf einen „Fritzen“ stieß. Er verbarg sich hinter einem Stein. Atti Nadbitowitsch begriff, dass es sich um einen deutschen Spion handelte und versuchte daher, so schnell wie möglich zu seiner Stellung zurückzukehren, aber der deutsche Soldat bemerkte ihn. Und so standen sie einander mit gezogenen Maschinenpistolen gegenüber. Der Deutsche wollte nicht schießen, denn damit hätte er sich selbst und seine Kameraden ausgeliefert. Dieses kurze Zögern nutzte Atti Nadbitowitsch aus, um in Sekundenschnelle durch das hohe Gras in das Wäldchen zu verschwinden. Er kehrte zu seinem Truppenteil zurück und meldete sofort alles dem stellvertretenden Kommandeur. Der gab ihm elf Mann, Natyrow war der zwölfte, die über einen schmalen Pfad an die betreffende Stelle zurückgingen. Sie kreisten den steinigen Hügel ein und begannen sich langsam zu nähern. Der Deutsche eröffnete zuerst das Feuer und gab sich auf diese Weise preis. Aber es stellte sich heraus, dass es ziemlich viele Deutsche waren. Von unseren Kämpfern kamen zehn ums Leben, zwei kehrten zur Division zurück, wo man ihnen noch einmal zwei Mann gab. Sie wurden losgeschickt, um von der gegnerischen Seite einen Informanden zu beschaffen. Sehr lange bewachten die Soldaten den Hügel, und aufgrund des leicht gefrorenen Regens gelang es ihnen schließlich, mit viel Hinterlist und Geschick zwei Deutsche gefangen zu nehmen. Sie brachten sie zur Division und übergaben sie dem Kommandeur. Für die Durchführung dieser Operation wurde Atti Nadbitowitsch der Rotstern-Orden verliehen.
Er erleidet lediglich leichte und mittlere Splitterverwundungen. Atti
Nadbitowitsch ist der Ansicht, dass er diesen Tatbestand dem Amulett zu
verdanken hat, das ihm die Großmutter in seiner Kindheit um den Hals hängte und
das ihnvor dem Tode bewahrte. Er beendete den Krieg im Nord-Kaukasus. Im
Sptember 1945 wurde er demobilisiert. Die Nachricht vom Sieg nahm er, wie alle
Menschen, mit großem Jubel und Tränen der Freude auf.
Die Verbannung nach Sibirien ersetzte dem Soldaten die Rückkehr nach Hause. Ende
1943 – Anfang 1944 wurde Kalmückien, ebenso wie einige andere Republiken der
RSFSR, ohne Grund annulliert und die dort seit Urzeiten verwurzelte Bevölkerung
Repressionen unterworfen. Trotz ihrer seelischen Traumatisierung kämpften die in
der Armee verbliebenen Kalmücken auch weiterhin gegen die Faschisten. Der Krieg
endete und Atti Nadbitowitsch erfuhr, dass es ihm verboten war in seine Heimat
zurückzukehren. Der Grund lag in seiner Nationalitätenzugehörigkeit, und so war
es auch bei den anderen repressierten Völkern, die der Zwangsumsiedlung
unterworfen waren. Man deportierte ihn in die Region Krasnojarsk, obwohl er
mehrere Auszeichnungen bekommen hatte, im April 1944 der Partei beigetreten war,
Verwundungen davongetragen und dem Vaterland selbstlos und aufopfernd gedient
hatte.
Er traf mit dem Zug in Sibirien ein; seinen älteren Bruder schickten sie nach Nowosibirsk und ihn in die Region Krasnojarsk, so dass er dort einsam und allein war. Die ganze Umsiedlungsaktion erfolgte im Eiltempo – innerhalb von 24 Stunden. Im September war er demobilisiert worden, Anfang Oktober kam er bereits an der Bahnstation Adadym an. Sein neuer Wohnort – der Nasarowsker Bezirk, die Sowchose Krasnopoljanskij. Die Ortsbewohner waren ihm gegenüber feindlich gesinnt und nahmen ihn unfreundlich auf – wie einen Volksfeind. Alle Umsiedler wurden unter Kommandantur gestellt, man nahm ihnen die Ausweise fort, sie mußten sich jeden Tag einmal im Büro melden und registrieren lassen. Untergebracht wurden die Umsiedler im nicht fertig gebauten, halb verfallenen Klubgebäude. Einige hoben sich Erdhütten aus, in denen sie sich dann mit mehreren Familien einrichteten. Aber da die Winter hier sehr kalt sind, froren die Erdhütten durch und durch ein; die Menschen erfroren, ganz Familien starben aus. Sie hatten keinerlei Besitz bei sich. Atti Nadbitowitsch war in Uniform und Halbstiefeln direkt von der Front hierher gekommen. Auch materielle und medizinische Hilfe war dringend erforderlich, aber man gewährte sie ihnen nicht, denn das Land war ja selbst zerstört und verarmt. Er begann sofort nach seiner Ankunft in der Sowchose als Ungelernter zu arbeiten. Arbeits- und Alltagsbedingungen waren schwierig, und es war ein Hungerdasein. Der Bruder befand sich im Gebiet Nowosibirsk. Es gab einen Unterschied zwischen der Lebenssituation der Ortsbewohnern und denen der Umsiedler: sie waren zuhause, in ihren heimatlichen Gefilden, während man uns all dies genommen hatte. Aber nicht alle Einwohner verhielten sich uns gegenüber schlecht, einige hatten Mitleid, brachten uns mal einen Eimer Kartoffeln, mal einen Kalatsch (Weißbrot in From eines Vorhängeschlosses; Anm. d. Übers.).
Er paßte sich an, das heißt er gewöhnte sich nur schwer an die neuen bedingungen, vor allen Dingen wegen des Klimas. Aber man mußte ja irgendwie leben, und A.N. Natyrow überlebte, obgleich er in der Fremde war. Für ihn gab es eine einzige Möglichkeit in die Heimat zurückzukehren. 1956 schrieb er auf Anraten seines lettischen Freundes einen Brief an Woroschilow, den Vorsitzenden des Obersten Sowjets der UdSSR, und dieser Brief wurde auf Schleichwegen nach Moskau befördert. Die Antwort kam in dreifacher Ausfertigung: ein Exemplar ging an die Regionsverwaltung, eins an die Bezirksverwaltung und eines war direkt an Atti Nadbitowitsch gerichtet: „Bürger A.N. Natyrow ist aus der Sonderansiedlung freizulassen und hat einen Ausweis zu erhalten“. Aber nach Hause zurückkehren konnte er nicht, denn er besaß die notwendigen Geldmittel nicht, und sein Elternhaus existierte praktisch auch nicht mehr; es war von Bandera-Leuten besetzt worden, die man aus der Ukraine ausgewiesen hatte. So schief er sich sein Haus und seine Familie hier in Sibirien. Atto Nadbitowitsch bekam seinen Familienkreis, gewann Freunde und Bekannte. Russisch wurde seine zweite Muttersprache, unsere Sowchose Wladimirowskij seine zweite Heimat. Sein Arbeitsleben, das im Jahre 1945 begann, war beispielhaft: er war Traktorist, Vorarbeiter des Lagers (der Vorratskammer), Leiter des Eiermagazins, der Geflügelfabrik; im November 1975 ging er in Rente. Für jahrelange gewissenhafte Arbeit wurde ihm am 26. November 1976 die Medaille „Veteran der Arbeit“ verliehen.
Atti Nadbitowitschs Öffentlichkeitsarbeit bestand darin, dass er, als er Kommunist war, stets treu seiner Partei diente: er nahm an allen Veranstaltungen teil (freiwillige Samstagsarbeit, freiwilliger Arbeitseinsatz an Sonntagen, Festtagsdemonstrationen), er lehrte die heranwachsende Generation nach seinem Beispiel mutig und verantwortungsbewußt zu sein, hielt Reden bei Begegnungen mit Schülern, bescuthe stets die Parteiversammlungen und studierte die Geschichte der KPSS. Er besaß einen Deputiertenausweis des Preobraschensker Dorfrats vom 13. April 1971, einen Mitgliedsausweis der Arbeitskontroll-Kommission, welche die Arbeit der Läden und Kantinen auf dem Zentralgehöft der Preopbraschensker Sowchose bis zum 31. Dezember 1990 überprüfte. Er bekam aufgrund seiner erfolgreichen Erfüllung sozialistischer Pflichten zu Ehren des 50. Jahrestages der Großen Sozialistischen Revolution am 5. November 1967 ein Jubiläumsdiplom ausgehändigt.
Wie A.N. Natyrow schrieb: „Meine Interessen sind vielseitig: die innen- und Außenpolitik meines Landes, ich sehe regelmäßig die Sendung „Zeit“ sowie die „Nachrichten“ im Fernsehen, ich lese die Zeitungen „Sowjet-Pritschulyme“, „Gesundheit“ und verschiedene Zeitschriften, und als aufrichtiger Landmann und Ackerbauer liebe ich es, in meinem Garten herumzugraben, Gemüse zu ziehen; ich freue mich über eine gute Tomaten-, Gurken- und Kartoffelernte. Ich wünsche der Jugend nur eines: wir hatten keine glückliche Jugendzeit, der Krieg hat sie uns genommen. Und deswegen möchte ich unserer jetzigen Jugend wünschen, dass sie diese Zeit des Lebens nicht in Saus und Braus, nicht in einem andauerndem Alkoholrausch oder Drogendelirium verbringen möge, sondern dass sie diese ihre jungen Jahre hütet, zum eigenen und zum Nutzen des Landes lebt, denn die Jugend kehrt niemals wieder zurück“.
Der Soldat starb im Jahre 2005, aber der Auftrag, den er seinen Nachfahren hinterließ, wird sorgsam gehütet und auch an die nächsten jungen Generationen weitergegeben.
Der Krieg war zuende. Aber die Feinde peinigten den heimatlichen Boden auch weiterhin: zahlreiche Banden von Bandera-Leuten schalteten und walteten in der West-Ukraine, in den Wäldern der Region Lwow. Sie versetzten die Ortsbevölkerung in Angst und Schrecken, rechneten auf grausame Weise mit jenen ab, die sich gegen die Willkürherrschaft der Banditen auflehnten, die ihnen ihre Unterstützung verweigerten.
In dieser unruhigen Zeit wurde der Familie des Dorfratsvorsitzenden des Dorfes Wjerchnjaja Lukowitza, Jurij Josipowitsch Kuschnej, am 10. März 1947 Töchterchen Anja geboren. In der Familie Kuschnej waren fünf Kinder. Mama Anna Jurewna arbeitete als Lehrerin der Grundschulklassen. In der Familie ging es stets friedlich und ordentlich zu: die Eltern bemühten sich, ihre Kinder zu anständigen Menschen zu erziehen; die Kinder liebten ihre Eltern und waren folgsam. Die Eltern waren bestrebt, alles Lebensnotwendige für die Familie sicherzustellen, damit ihre Kinder nicht schlechter lebten, als die Kinder der anderen Leute. Die Familie war keineswegs reich, aber sie brauchte auch keine Not leiden.
Bald darauf wurde die Familie von einem Unglück heimgesucht: die älteste Tochter, Sosja, die im Nachbardorf als Lehrerin tätig war, wurde von Bandera-Leuten gefoltert und getötet, weil sie den Partisanen geholfen, ihnen Brot in den Wald gebracht hatte. Und anschließend wurde die ganze Familie Kuschnej wegen politischer Unzuverlässigkeit und Verrat aus ihrem Heimatdorf ausgewiesen. Irgendjemand war der Meinung gewesen, dass Vater und Mutter Kuschnej mit den Bandera-Leuten in Verbindung standen und ihnen halfen. Obes sich damals um eine Denunziation oder einen ungeheuren Fehler handelte – das läßt sich heute nicht mehr feststellen. Die kleine Anja war damals zwei Jahre alt. Man schrieb das Jahr 1949.
„Ich war noch ganz klein, - erinnert sich Anna Jurewna, - aber wie mir die Mama erzählte, habe ich unterwegs schon gefrorerne Kartoffeln gegessen, die wir bei Ortsansässigen besorgten. Man transportierte uns mit dem Zug“. Alle Familien kamen in dem Dorf Belaja Retschka an, anschließend wurden sie in eine Waldwirtschaft unweit von Ulan-Ude umgesiedelt. Ohnen Sachen kamen wir in Sibirien an; man stellte der Familie ein Zimmer in einer Baracke zur Verfügung; in dieser Baracke wohnten noch mehrere andere Familien. Der Vater arbeitete in der Waldwirtschaft, er mußte Holz sägen; die Mutter fand keine Arbeit; sie mußte sich um die zum Hof gehörende Wirtschaft kümmern.
Als man den Repressierten gestattete nach Hause zurückzukehren, machten Anna Jurewnas Eltern sich auf den Weg ins heimatliche Dorf in der Region Lwow. Dort angekommen gab man ihnen Haus und Garten zurück. Aber die Tatsache, dass die Familie Kuschnej zu „Volksfeinden“ erklärt wurde, hatte für ihre Mitglieder traurige Folgen. Anna Jurewnas Bruder Nikolaj träumte beispielsweise davon Flugzeugführer zu werden. Er besuchte sogar die Bugurislansker Fliegerschule. Aber als sie dort erfuhren, dass Nikolaj aus einer Repressierten-Familie stammte, schlossen sie ihn aus der Lehranstalt mit der Formulierung „politisch unzuverlässig“ aus. So zerbrach der Traum des jungen Mannes, an dessen Erfüllung ihm seit seiner Kindheit so viel gelegen hatte. Er mußte ins Eisenbahnerinstitut in Ulan-Ude eintreten. Dort, in Ulan-Ude, lernte auch Anna Jurewna nach Beendigung der Schule am Genossenschaftsinstitut. Anschließend arbeitete sie als Ladenleiterin, hier heiratete sie und bekam zwei Söhne.
Kummer und Leid stählten Anna Jurewnas Charakter, lehrten sie die Schwierigkeiten zu überwinden und trotz allem ihre Ziele zu erreichen. Man möchte fest daran glauben und hoffen, dass sich in ihrem Leben keine Erschütterungen und Unglücksfälle mehr zutragen.
Nina Ignatewna Samkowa wurde am 25. Oktober 1927 geboren. Zusammen mit ihren Eltern – Jewdokija Nikolajewna und Ignatij Nikiforowitsch Safienko – sowie drei Schwestern lebte sie im Korgatsker Bezirk, Region Nowosibirsk.
1930 brachte die Regierung der UdSSR einen Prozeß ins Rollen, der als „Entkulakisierung“ bezeichnet wurde. Nach der Februar-Anordnung wurde die Familie Safienko aus ihren heimatlichen gefilden herausgerissen und in den Pichtowsker (heute Kolybansker) Bezirk umgesiedelt. Zu jener Zeit war Nina gerade 3 Jahre alt. Nachdem man ihnen alle Existenzmittel genommen, sie aus dem Kreise ihrer Angehörigen herausgerissen hatte, gründeten sie an ihrem neuen Wohnort eine Siedlung, der sie den Namen Kowruschka gaben.
Es war ein ganz neuer Anfang. Und nach und nach entstand an der ehemals völlig verödeten Stelle die Kolchose „Majak“ (Leuchtturm; Anm. d. Übers.). Die Bevölkerung betrieb Ackerbau, Viehzucht; aus Birkenrinde stellten sie Teer her. Sie verrichteten ihre Arbeit gegen Anrechnung von Tagesarbeitseinheiten.
An einen anderen Ort zu fahren war vollkommen unmöglich, denn man händigte ihnen keine Ausweise aus. Einmal im Monat wurden die Bewohner der Siedlung von Soldaten aus der Kommandantur registriert; alle wurden durchgezählt – sogar die Kinder.
Als der Krieg ausbrach war Nina Ignatewna 14 Jahre alt. Zusammen mit ihrer älteren Schwester, die als Traktoristin arbeitete, begann sie auf dem Feld zu arbeiten, wo sie für das An- und Abkuppeln der Anhänger zuständig war. Die zweite Schwester wurde zur Betriebsfachschule der Schachtanlagen in Prokopjewsk geschickt.
1942 starb Vater Ignatiej Nikiforowitsch, und das Leben wurde noch schwerer.
1943 schickten sie auch Nina Ignatewna zur Betriebsfachschule.
Nach Kriegsende verließen viele Familien den Verbannunbgsort, niemand konnte sie zurückhalten. Mit der Zeit verwahrloste und verfiel zunächst die Siedlung, später auch die Kolchose „Majak“.
Am 7. November 1950 heiratete Nina Ignatewna Iwan Jerofejewitsch Samkow. Und 1974 zog die ganze Familie Samkow in den Nasarowsker Bezirk, in die Siedlung Preobraschenskij, um. Und hier, in der Sowchose „Wladimirowskij“, arbeitete Nina Ignatewna bis zur Rente in der Planungsabteilung. 1983 ging sie in den wohlverdienten Ruhestand.
Derzeit lebt Nina Ignatewnas Sohn Aleksandr Iwanowitsch in Gelendschik, Tochter Tatjana Iwanowna in der Stadt Nasarowo.
Selbstverständlich erhält Nina Ignatewna als ehemaliges Repressionsopfer staatliche Vergünstigungen, aber lassen sich damit etwa alle Entbehrungen und das erlittene schwere Schicksal wiedergutmachen?
Das Material wurde von den Schülerinnen der 9. Klasse, Tatjana Buschajewa und
Olesja Golenko zusammengetragen und bearbeitet.
Projektleiterin: Swetlana Anatolewna Danilenko
Aus der Heimat fuhr ich gen Norden (in einem Viehwaggon)
Den Mückenschwärmen zum Fraß vorgeworfen
Aber ich überlebte in der weiten Ferne
Wo ichmir eine Familie, ein neues Heim schuf.
Diese Zeilen gehören zu unserem Landsmann Willi Andrejewitsch Saidenzal (Seidenzal? Seidenzahl?). In diesen vier Zeilen spiegelt sich sein schweres Schicksal wider. Nur vier Zeilen, aber wieviel Schmerz, Kränkung, Hoffnung und Glaube liegt in ihnen.
Willi Andrejewitsch kann sich nur schwer an das heimatliche Wolgagebiet, seine liebkosenden Winde, die endlosen Steppen erinnern. Aber oft sieht er im Traum einen großen, wasserreichen Fluß, einen weißen Dampfer. Willi Andrejewitsch wurde an der Wolga, in dem Dorf Alt-Urban (Alt-Urbach; Anm. d. Übers.), Schirnowsker Bezirk, Gebiet Wolgograd, in der Autonomen Sowjetischen Sozialistischen Republik der Wolgadeutschen geboren. Es hat tatsächlich eine solche Republik auf unserer Landkarte gegeben, in der ethnische Deutsche lebten – mit ihrer eigentümlichen Kultur, ihren eigenen Traditionen, ihrer eigenen Sprache. Willi Andrejewitscha Mutter, Sofja Genrichowna Ingel, sprach gut Deutsch; sie brachte es auch den Kindern bei, aber in der Folgezeit geriet die Muttersprache in Vergessenheit. Willi Andrejewitsch erinnert sich, dass der Vater Andrej Gottliebowitsch Seidenzahl hieß, aber über sein Schicksal teilt er nichts mit. In der Familie gab es drei Kinder; nur die Mama arbeitete im Viehzuchtbetrieb der örtlichen Kolchose; deswegen lebten sie in bescheidenen Verhältnissen. Aber dieser Tatbestand konnte die ungestüme Fröhlichkeit der Kinder nicht bremsen, die den lieben langen Tag am Flußufer, in den Wolgasteppen verbrachten und schon erste Pläne für ihre Zukunft machten. Doch all ihre Träume zerbrachen in einem einzigen Augenblick.
Der Große Vaterländische Krieg brach aus, und die Familie wurde aus dem Wolgagebiet ausgewiesen, zuerst nach Perm, anschließend nach Sibirien. Im September 1941 wurde die ganze Familie auf Anordnung der NKWD-Organe Repressionsmaßnahmen unterworfen, weil sie Deutsche waren und Deutsch sprachen, das heißt sie gehörten derselben Nationalität an, wie die Soldaten, die damals gegen unser Land kämpften, und das bedeutete, dass sie auf Feindesseite überlaufen konnten. Sie holten einfach eine ganz normale, gute Familie mit kleinen Kindern, die in keinerlei Verbrechen verwickelt war und auch nicht unter besonderer Kontrolle stand, von Zuhause, aus ihren heimatlichen Gefilden fort. Die Mutter wurde mit ihren drei Kindern zwangsumgesiedelt.
Wie sich Willi Andrejewitsch selbst erinnert, war die Umsiedlungsaktion unheimlich, und sie verlief für die Umsiedler tragisch: „Wir Kinder kamen vom Spielen auf der Straße nach Hause, sahen das verweinte Gesicht der Mutter und erfuhren von ihr die schreckliche Neuigkeit über unsere bevorstehende Ausweisung. Es war keine Zeit irgendwelche Kleidung, Lebensmittel, einzupacken, nichts, dass man hätte verkaufen können, um für den Umzug, für unterwegs ein paar finanzielle Mittel zur Verfügung zu haben oder später eine Zeit lang von dem ausgehändigten Geld zu leben. Und man konnte nichts, aber auch gar nichts dagegen tun. Es war sehr schwer; die neue Umgebung war unbekannt, die Natur wild- und urwüchsig, die Menschen benahmen sich ihnen gegenüber unfreundlich. Wäährend des Transports mit dem Zug unternahm niemand einen Fluchtversuch, denn um sie herum gab es nichts als die Taiga: wenn du fortläufst, kommst du um – ohne eine einzige Spur zu hinterlassen. Es war auch deswegen alles so schwierig, weil keine Männerhände da waren, und von niemandem sonst konnte man Hilfe erwarten.
Das Sicheinrichten am neuen Wohnort, die Sorge um die kleinen Kinder – all das lag in dieser schweren Zeit auf den zerbrechlichen Schultern der Mutter. Aber man mußte ja leben, überleben und sich anpassen. Der Bezirk Nasarowo wurde den Umsiedlern zur neuen Heimat. Die Familie Seidenzahl wurde in einem kleinen Zimmer untergebracht, in dem außer ihnen noch weitere Familien lebten. Gefrorene Kartoffeln waren für die Umsiedler ein wahrer Leckerbissen und Luxus.
An diesem unbekannten Ort hatten sie den ganzen Winter über so gut wie nichts für ihren Lebensunterhalt. Die kleinen Kinder wurden häufig krank; sie waren sich selbst überlassen, weil die Mutter allein von früh bis spät arbeiten mußte. Die Ortsansässigen fürchteten sich mit den Umsiedlern zu sprechen, ihnen behilflich zu sein, denn die Umsiedler waren offiziell zu Volksfeinden erklärt worden. Der Staat half ihnen nicht: sieh doch zu, wie du durchkommst.
„Mit der Zeit fanden wir uns zurecht, Mama begann in der Viehzuchtstation zu arbeiten, - sagt Willi Andrejewitsch, - wir Kinder gingen manchmal hin, um ihr zu helfen. Später ging ich in die Schule und absolvierte vier Klassen. Unsere materielle Lage gestattete es mir nicht, die gesamte Schulbausbildung von 7 Klassen zu beenden. Ich mußte arbeiten gehen, um mich zu ernähren und die Familie zu unterstützen, und so machte ich eine Ausbildung zum Traktoristen“. Interessant ist, dass Willi Andrejewitsch schon in der Schule seiner zukünftigen Ehefrau begegnete; sie waren zusammen in eine Klasse gegangen. Willi Andrjewitschs spätere Frau beendete 7 Schulklassen, und 1959 beschlossen sie dann zu heiraten. Die Registrierung der Ehe fand im Büro des Ilinsker Dorfrates statt, die Hochzeitsfeier in Preobraschensk.
60 Jahre leistete Willi Andrejewitsch aufrichtige Arbeit in der Sowchose „Wladimirowskij“, auf ein- und demselben Posten – als Traktorist. Er besitzt eine große Anzahl Auszeichnungen und Dankesschreiben. Willi Andrejewitsch bekam folgende Auszeichnungen verliehen:
Abzeichen „Sieger des sozialistischen Wettbewerbs 1979“, 2. Februar 1980
Abzeichen „Bestarbeiter des 10. Fünfjahresplans“, 4. April 1980
Ehrenurkunde und Geldprämiein Höhe von 100 Rubel, 4. Februar 1987
Geldprämie in Höhe von 50 Rubel, 31. März 1987
Ehrenurkunde und Geldprämie in Höhe von 100 Rubel, 29. Januar 1988
Medaille „Veteran der Arbeit“, 27. Juni 1989
Das Promorje-Gebiet bildet die östlichste Grenze unserer endlosen Heimat. Weiter östlich gibt es nur noch den Ozean. Weiter kann man politisch unzuverlässige Staatsbürger schon nicht mehr schicken, aber auch hier fanden die Repressionen noch ihre Opfer. Wir wollen hier über die Familie, die Strapazen und Entbehrungen eines bemerkenswerten Menschen berichten – das Leben der Nina Fedorowna Bytschkowa.
Im fernen Primorje-Gebiet, im Bezirk Kalinin, an der Bahnstation Laso, in dem Dorf Murawewo- Amurskoe wurde am 2. Juni 1928 ein Mädchen geboren, das die Eltern Nina nannten. Ninas Vater, Fedor Arsentewitsch Staruschko, geboren 1900, arbeitete als Zugmeister bei der Eisenbahn. Die Mutter, Anastasia Prokopewna Staruschko, war Hausfrau. Sie lebten in ihrem eigenen Haus, besaßen eine kleine Hofwirtschaft. Außer Nina gab es in der Familie noch die ältere Schwester Anna und den jüngeren Bruder Wladimir. Mögen sie auch nicht in wohlhabenden Verhältnissen gelebt haben – aber dafür lebten sie einträchtig miteinander. Sie hatten genug zu essen und das genügte.
Wie immer brach das Elend urplötzlich über sie herein. Im November 1939 wurde Ninas Vater zum NKWD bestellt. Als er mit seinem Freund nach Hause zurückkehrte, teilte er den Familienmitgliedern mit, dass ausgewiesen werden sollten und nun 24 Stunden Zeit hätten, um ihr Zuhause zu verlassen und sich an einen Ort außerhalb der Region zu begeben. Die Familie fuhr nach Nord-Kasachstan. Die ältere Schwester Anna war verheiratet; sie war von der Anordnung nicht betroffen und konntein der Heimat bleiben. 1942 wurde der Ehemann der Schwester ohne Gerichtsverhandlung ins Gefängnis gesteckt und zu 10 Jahren Freiheitsentzug ohne Recht auf Briefwechsel verurteilt.
Eine völlig unbekannte Gegend, keine Verwandten, von niemandem war Hilfe zu erwarten. Alle Umsiedler, Fremde auf diesem Boden, wurden zu „Volksfeinden“ erklärt; es herrschten völlige Ungewißheit, Angst und Verzweiflung. Aber das Leben geht weiter, man muß sich irgendwie zurechtfinden und anpassen. Die Familie mußte ein Eckchen in einer fremden Wohnung mieten. Im Zimmer standen lediglich ein Tisch, ein Bett und eine kleine Sitzbank. Hier in Kasachstan besuchte Nina die 4. Klasse.
Aber wie es so ist, kommt ein Unglück selten allein. Die Mama starb 1940 bei der Geburt eines weiteren Kindes, im August 1941 kam der Vater bei einem Zugunglück ums Leben. Zurück blieben die 13-jährige Nina und ihr 11-jähriger Bruder. Auf den Schultern des kleinen Mädchens lastete nun die Sorge um das Brüderchen. Nina arbeitete im zur Nebenwirtschaft gehörenden Depot: dort pflanzten und ernteten sie Gemüse. Natürlich verlangte sie nach Hilfe, aber die bekam sie als „Volksfeindin“ nicht, weder von der Ortsbevölkerung noch vom Staat. 1942 wurde der Ukas über den Arbeitseinsatz 14-jähriger Kinder verabschiedet, und Nina fand eine Anstellung als Drechsler- und Schlosserlehrling. 1943 arbeitete sie im Handelskontor als Wiegemeisterin. Mit einer Brechstange schob das Mädchen die Seitenwand der Fahrzeuge hoch, denn mit 15 Jahren reichte sie noch nicht so weit nach oben; sie war einfach noch nicht groß genug. Für ihre Arbeit zahlte man ihr Geld und Lebensmittelkarten. Irgendwann schickten sie Nina in den Steinbruch, um dort die Dokumente für den Abtransport der Loren fertigzumachen. „Ich mußte in eisigem Frost 7 km weit laufen, - erinnert sich Nina Fedorowna, - und ich trug doch nur Gummistiefel ohne Fersen und Wollstrümpfe, etwas anderes besaß ich ja nicht. Nachts ging ich zur Arbeit, weckte den Bruder, und brachte ihn in die Kantine, damit er mit meinen Lebensmittelkarten Essen bekam; wir aßen dort Kohlsuppe. Er ging dann nach Hause, ich zur Arbeit“. Einmal verurteilten sie Nina Fedorowna sogar, weil sie sich um 20 Minuten an ihrem Arbeitsplatz verspätet hatte. Das Gericht erließ folgendes Urteil: Abzug von 20% des Lohns für die Dauer von 6 Monaten; und zu der Zeit bekam das Mädchen doch sowieso nur 100 Rubel ausbezahlt.
So lief es bis August 1944, dann kehrte Nina mit ihrem Bruder ins Primorje-Gebiet, zur ältesten Schwester, zurück, die an der Station Ruscheno lebte, wo es dem Mädchen gelang, eine Arbeit als Kellnerin in der Kantine zu finden. Einmal vernahm Nina eine Schießerei von den Dampfern; die Soldaten in der Nähe schossen und schrieen, und über den Lautsprecher wurde verkündet, dass der Krieg zuende sei. So erlebte Nina den 9. Mai – den Tag des Sieges. Alle erwarteten nun ein freundliches Leben, die Abschaffung der Lebensmittelkarten. „Endlich sind die harten Herausforderungen des Schicksals vorbei, das Leben wird zurechtkommen, vor uns liegen Freude und Glück“ – so dachten die Schwestern Staruschko. Aber die älteste Schwester wurde an den Wohnort ihres Ehemannes fortgeschickt, und 1949 sah Nina zum allerletzen Mal ihrenBruder. Er fuhr zur See, und erst viel später sagte man ihr, dass er ums Leben gekommen war. Anschließend wurde sie als Wiegemeisterin an verschiedenen Bahnstationen nach Wladiwostok verlegt. So arbeitete Nina bis 1950.
Endlich trat ein Lichtstreifen in Ninas Leben – in Gestalt ihres Lebensgefährten Walentin Bytschkow. Nina lernte ihren Mann Walentin per Briefwechsel kennen, ganz unerwartet. Ninas Freund diente in der Armee, und als man ihn demobilisierte, bat er darum, die Briefe seines Freundes Walentin an ihn weiterzuleiten. 1953 fuhr Nina nach Uschur zu ihrer Schwester und begegnete dort Walentin. Sie waren nur kurze Zeit befreundet und heirateten noch im selben Jahr, kehrten nach Primorsk zurück, wo dann auch Tochter und Sohn geboren wurden. Später, im Jahre 1962, zog die Familie Bytschkow in den Bezirk Nasarowo um. In der noch im Bau befindlichen Siedlung Preobraschenskij trafen sie 1967 ein. Fast 20 Jahre lang arbeitete Nina Fedorowna am Internat der Preobraschensker Mittelschule als Wirtschaftsleiterin. Die Schüler erinnern sich noch an ihre nettes und fürsorgliches Verhalten. 1983 ging sie in den wohlverdienten Ruhestand.
Das Material wurde von den Schülerinnen der 7. Klasse, Olesja Gorbunowa, Julia Fedorowa, Nastja Scharowa, Nastja Perwuchina und Nastja Geft zusammengetragen und bearbeitet.
Das Schicksal der Wolgadeutschen ist tragisch, voller Schmerz und Entbehrungen. Das Räderwerk der Repressionen verschonte nicht einmal die kleinen Kinder. Sie mußten, genauso wie die Erwachsenen, die groß Belastungen der Umsiedlung, das Vertriebenendasein am neuen Wohnort, Hunger und Kälte durchmachen. Ich möchte vom Schicksal meines Landsmanns Waldemar Friedrichowitsch Pfeiffer berichten. Viele Jahre tat er unserem Bezirk Gutes, erledigte gewissenhaft seine rbeit, lebte mehr als 40 Jahre in der Siedlung Preobraschenskoje, zog hier seine Kinder groß. Aber die Erinnerung an seine Kindheit ist für ihn sehr schmerzlich.
Waldemar Friedrichowitsch wurde am 1. November 1937 in der Region Saratow, im Dorf Barenbuk, geboren. Wenn er sich des heimatlichen Wolgagebietes erinnert, denkt er an blühende Gärten, fruchtbare Äcker, die schönen, durch Überschwemmungen bewässerten Wiesen. Die fleißigen, Ordnung liebenden Deutschen führten ihre eigene Hofwirtschaft, so dass sie nicht in Armut leben mußten,; vielmehr hatten sie ihr gutes Auskommen. Die Familie Pfeifer bestand aus 5 Personen: die Eltern und drei Kinder. Bis heute erinnert sich Waldemar Friedrichowitsch an die deutsche Sprache. Seine Eltern waren Katholiken und lehrten ihren Sohn Respekt vor dem Glauben.
Ganz zu Beginn des Krieges wurde die Familie Pfeifer aus der Region Saratow ausgewiesen. Zum Packen der Sachen gab man den Leuten 24 Stunden Zeit. Auf die Frage der Eltern: „Was wirft man uns vor?“ – gaben die Vertreter der Machtorgane zur Antwort: „Ihr seid Politische!“. – „Noch lange Zeit danach verstand ich nicht, was es mit dem Begriff „Politische“ auf sich hatte“ – erinnert sich Waldemar Friedrichowitschz. Auf Befehl der Behörden, aufgrund ihrer angeblichen politischen Unzuverlässigkeit, wurden viele wolgadeutsche Familien ins weit entfernte Sibirien verschleppt. Unter dieses grausame Rad der Repressionen geriet auch die Familie Pfeifer. Waldemar Friedrichowitsch war damals gerade 4 Jahre alt. Im Herbst 1941 kamen die Umsiedler mit dem Zug in der Stadt Krasnojarsk an, von dort wurden sie in den Bezirk Beresowo, in das Dorf Gorby, gebracht, das ihnen zur neuen Heimat werden sollte. Es ist so weit von der geliebten Saratower Erde entfernt.
Die ortsansässige Bevölkerung hatte Angst Mitleid gegenüber den Umsiedlern zu zeigen und ihnen zu helfen; sie verhielten sich der Familie gegenüber sehr schlecht, sobald sie erfuhren, dass die neuen Siedler politisch Repressierte waren. Nach Ankunft am neuen Aufenthaltsort wurden sie in die Arbeitsarmee eingezogen, und es gab lange Zeit keine Nachricht von ihnen, und dabei war doch die Mutter mit drei kleinen Kindern zurückgeblieben. Hätte die Mutter zuhause keinen Säugling zu versorgen gehabt, dann hätten sie sie ebenfalls in die Trudarmee geholt, - sagt uns Waldemar Friedrichowitsch. Wir haben im Badehaus der Kolchose gewohnt, das noch garnicht fertiggebaut war. Außer unserer Familie lebten dort noch weitere 7 Familien“. Die kleinen Kindchend er Familie Pfeifer hatten nur sehr wenig Freizeit, sie mußten viel arbeiten, um am neuen Wohnort zurecht zu kommen. Wenn es mal eine freie Minute gab, erlaubte die Mutter den Kleinen mit den Kindern der Ortsbewohner zu spielen. Waldemar Friedrichowitsch beendete 4 Schulklassen, danach konnte er nicht weiter zur Schule gehen, denn er mußte selbst sehen, dass er durchkam und zudem noch seiner Familie helfen.
Von Seiten der Behörden wurde eine ständige Kontrolle auf die Umsiedler ausgeübt. „Jede Woche kam zu uns ein Behördenvertreter, befragte unsere Mutter, wie und wovon wir leben“. Besonders sorgfältig wurden die Umsiedler während des Krieges, zwischen 1941 und 1945, kontrolliert; man fürchtete, dass sie fliehen und auf die Seite des gegnerischen Deutschlands überlaufen könnten. Aber wohin sollte man schon mit seinen kleinen Kindern laufen!?
Als der Krieg zuende war, besserte sich das Verhalten der Behörden und der ortsansässigen Dorfbewohner ein wenig; es entstanden viele neue Freundschaften, und der Vater der Familie Pfeifer kehrte nach schwerer Zwangsarbeit nach Hause zurück. „Ich vernahm mehrmals Gespräche der Eltern darüber, dass sie so gern in die Heimat zurückfahren wollten, in die Region Saratow, aber sie hatten dazu die materiellen Möglichkeiten nicht“, - erzählt uns Waldemar Pfeifer.
Bis er zum Armeedienst mußte, arbeitete er als Traktorist in der Kolchose. Nach dem Militärdienst im Jahre 1962 heiratete er und zog gemeinsam mit seiner Ehefrau in den Bezirk Nasarowo um, um dort seinen ständigen Wihnsitz zu nehmen. Er hat 3 Kinder. Inzwischen befindet er sich im wohlverdienten Ruhestand.
Ach, heimatliches Wolgagebiet – mit deinen goldenen Kornfeldern, endlosen Steppen, von der Sonne liebkosten Erde. Wie kann man diese fruchtbaren, von der Sonner beschienenen Gärten der Wolgaregion vergessen.
In diesem märchenhaften Gebiet von Gärten und Feldern wurde am 26. Gebruar 1920 Albina Andrejewna Firjago.Ihre Heimat – der Bezirk Gmelin, das Dorf Kano am Fluß Kann. In Albina Andrejewnas Familie gab es insgesamt 7 Kinder. Sie lebten in ärmlichen Verhältnissen, die Mutter war als ungelernte Arbeiterin tätig, der Vater als Ingenieur in der Fabrik.
Ihre Irrfahrten durch das endlose Land begannen mit dem Ausbruch des Großen Vaterländischen Krieges. Eines Tages kam ein Vertreter der Miliz und teilte der Familie mit, dass man sie ausweisen würde, und am nächsten Tag verfrachtete man die zur Umsiedlung Verurteilten in beheizbare Waggons und transportierte sie drei Wochen lang in eine unbekannte Richtung, danach noch einmal 9 Tage mit Pferden. Man setzte sie zuerst in dem Dorf Krasnaja Sopka im Beresowsker Bezirk ab, wo die Umsiedler 3 Tage blieben; anschließend brachte man sie in das Dorf Soksa und von dort nach Konstantinowka. Die Umsiedler wurden vorübergehend in halbverfallenen Häuschen untergebracht, denn es herrschte bereits tiefer Herbst (1941). In Sibirien ist das die Zeit der Kälte, in der der BOden bereits mit Schnee bedeckt ist. Die baufälligen, schon halb eingestürzten Häuser hielten die Wärme nicht, und gegen Morgen war es so kalt geworden, dass das Wasser im Eimer mit einer Eisschicht bedeckt war.
Zum Endpunkt der Irrfahrten der Familie wurde das Dörfchen Kulitschki. Am neuen Wohnort gabman ihnen eine Kuh und Saatweizen – als Ersatz dafür, dass man ihnen die Heimat genommen hatte. Später fingen sie an, eine festgesetzte Brotnorm an die Familienmitglieder aus zuteilen, denn der Vater arbeitete in einem Mühlenbetrieb, die Mutter und der älteste Bruder als ungelernte Arbeiter und Albina als Tankwärterin. Niemand aus der Familie Firjago hatte auch nur eine einzige Minute Freizeit; sie mußten sehr viel arbeiten, um unter den rauhen sibirischen Bedingungen überhaupt überleben zu können. Die Dorfbewohner nahmen die Umsiedler wohlwollend auf, hatten Mitleid mit ihnen und halfen ihnen mit Lebensmitteln und Sachgegenständen.
Während der Kiregsjahre befanden sich die Umsiedler unter der Aufsicht der Kommandantur und mußten sich dort einmal im Monat melden. Die Leitung respektierte Albina Andrejewnas Familie: der Vater war ein guter Spezialist, obwohl ihm eine Hand fehlte; die ganze Familie arbeitete gewissenhaft, ohne irgendwelche Skandale oder Verletzungen der Disziplin. Aber den Ort verlassen durften sie nicht; man erlaubte nicht einmal den Kindern die Schule zu besuchen, obwohl die Eltern ein ganzes Jahr lang durch alle Instanzen versuchten, für ihre Kinder die Schulerlaubnis zu erwirken. Aus Angst vor Verrat seitens der Umsiedler, nahm man sie weder in der Armee noch zum Kriegsdienst an. Der Gedanke zur Flucht kam ihnen gar nicht erst, denn mit „Volksfeinden“ fackelte man in jenen Zeiten nicht lange. Im Falle der Flucht konnte sie bei der erstbesten Gelegenheit erschossen werden.
Ab Februar 1943 mußte das 23-jährige Mädchen bis 1947 im burjatischen Teil der Mongolei in der Holzbeschaffung unter sehr schwierigen Bedingungen arbeiten. 1957 gestattete man den ehemaligen Umsiedlern die Rückkehr in die Heimat, an die Wolga, ab es fehlten die Geldmittel für die Reise, und es gab dort ja auch niemanden mehr, zu dem man hätte fahren können.
1950 zogen sie in das Dorf Gorby um; dort heiratete Albina einen Lehrer. Zusammen mit ihrem Ehemann zog Albina Andrejewna 8 Kinder groß. Sie arbeitete mehr als 20 Jahre als Melkerin, später als Sekretärin des Dorfrates. Seit 1998 lebt sie bei ihrem Sohn in der Siedlung Preobraschenskoje.
TRAGE ICH ETWA DIE SCHULD DER ANDEREN...?
(A. Achmatowa)
Der Krieg strich mit seinen schwarzen Flügeln nicht nur über das russische Volk hinweg, sondern auch über die Deutschen, die damals an der Wolga lebten. Sie starben nicht durch Panzer und Bomben. Sie kamen in Arbeitslagern, in den Durchgangslagern, auf dem Weg in die Verbannung ums Leben. Ida Christianowna Tschewytschalowa (Werwein) war noch nicht einmal einen Monat alt, als die Tragödie ihrer Familie ins Rollen kam.
Einträchtig lebte die fleißige Familie Werwein im Gebiet Saratow miteinander, in dem sauberen, gepflegten Dorf Neeb, Bezirk Unterwalden. Die Eltern arbeiteten von früh bis spät, damit ihre beiden Kindchen Iwan, geboren 1934, und Marta, 1939, und das dritte war gerade unterwegs, genug zu essen bekamen und eine glückliche Kindheit verleben konnten. Tagsüber gingen sie einer regulären Arbeit nach, abends schufteten sie auf dem eigenen Hof.
Die Mutter, Sofia Genrichowna, war Sanitäteruin im Krankenhaus, der Vater, Christian Iwanowitsch – Direktor der Schustergenossenschaft. Wir bei allen guten Hausbesitzern, war Christians Haus sehr reinlich und ordentlich, auf dem Tisch stand immer das für Deutsche gewohnte Essen – selbstgemachte Wurst, Grießklöße, Nudeln und Konfitüre. Das Familienoberhaupt war Großmutter Dorothea Iwanowna; sie war es auch, die im Haus nach dem rechten sah.
Der Beginn des Krieges traf die Familie wie aus heiterem Himmel. Alle empfenden es als peinlich und schmerzlich, anber niemand hätte erwartet, dass man sie als potentielle Handlanger der Faschisten nach Sibirien schicken würde. Am 23. Juni fand Christian sich bereits im Kriegskommissariat ein: „Ich möchte an die Front“, aber er begegnete nur dem ausweichenden Blick des Kriegskommissars: „Ihr werdet bis zur besonderen Verfügung zurückgehalten“. Was das für eine Verfügung sein sollte, das erfuhren die Deutschen erst im September.
Am 3. August 1941 wurde Ida Christianowna Werwein geboren. Und im September begann eine andere Zeitrechnung – die Familienmitglieder wurden zu Sonderumsiedlern. Mit der Milch der Mutter sog sie alle Sorgen und Ängste vor der Zukunft auf. Alle wurden auf eine Fähre verladen und auf die andere Seite der Wolga gebracht, und dann trieb man sie in beheizbare Waggons, die dann in Richtung Osten fuhren. Im Waggon war es furchtbar stickig, die Kinder verlangten nach Wasser. An den Bahnstationen wurde die Lokomotive auf ein Abstellgleis gestellt, um erst die Militärzüge vorbei zu lassen; dann konnten die Kinder nach draußen gehen, sich mit kaltem Wasser satt trinken, ohne zu ahnen, dass schon kurze Zeit später Typhus und Scharlach ausbrechen würden.
Lange waren sie unterwegs. Manchmal blieb der Zug auf freiem Feld stehen, und alle begriffen – jetzt werden sie die Toten begraben. Die Männer hüllten sich in finsteres Schweigen, die Frauen schluchzten leise, sogar die Kinder verstanden, dass man nicht laut sprechen durfte, um die Seelen der Verstorbenennicht zu stören.
Nur die kleine Ida hatte es an Mamas Brsut warm und gemütlich. Endlich war die Reise zuende. Die Familie wurde an der Station Adadym (Nasarowo) ausgesetzt. Die „Osobisten“, Mitarbeiter der Sonderabteilung „OSO“, blickten unfreundlich auf die Deutschen herab, gaben auf Fragen keinerlei Antwort und ließen sie zwei Stundenspäter in Reih und Glied antreten, um ihnen zu verkünden, dass dies ihr neuer Wohnort sei.
So kam die Familie Werwein in die Kolchose „Roter Sonnenaufgang“, die sich im Dorf Beresowka befand. Sie hatten es schwer, sich ihr Leben einzurichten. Kaum hatten sie es irgendwie geschafft, da setzte auch schon die Kälte ein. Sie hatten keine Winterkleidung, und die Sachen, die sie im letzten Moment noch hatten mitnehmen können, war inzwischen völlig abgetragen. Die Ortsbewohner, obwohl es ihnen selber an allem fehlte, halfen so gut sie konnten. Der eine brachte ein paar Filzstiefel, der andere eine Steppweste oder sonstige alte Kleidungstücke.
Der Vorsitzende erwies sich als schlechter Mensch, aber seinen Nachnamen möchte Ida Christianowna nicht nennen – aus Mitleid mit seinen Nachkommen. „Schlecht sein darf man nicht, und Gutes sagen – das ist hier unwürdig“, sagt sie.Die Familie Werwein wurde in einer Haushälfte untergebracht, in der gleichzeitig 5 Familien wohnten. Aber das freute die Umsiedler sogar – denn dort würde es warm sein. Die Kindchen nahmen sogleich den russischen Ofen in Beschlag, auf dem es immer warm war. Da sie kein Russisch konnten, war es für sie schwierig, mit den Kindern der Dorfbewohner Umgang zu pflegen. Sie fingen gleich an zu arbeiten: im Pferdestall, im Kälberstall, der eine hier, der andere da; und man gab ihnen eine Kuh. Im Februar 1942 holten sie den Vater in die Arbeitsarmee, irgendwo in den Norden, wo er auch ums Leben kam.
Lange versuchte Ida Christianowna ihren Vater ausfindig zu machen, aber vergeblich. Sie weiß, dass er in der Lagerstelle 231 des WJATLAG war, und hier verlieren sich seine Spuren auch; es gibt nur ein paar magere Zeilen von offizieller Seite – „Vorgesehen für die Unterstellung unter Sonderkommandantur“. Sogleich nahm man ihnen die Kuh fort, die sie ernährte. Die zweite Großmutter, mütterlicherseits, die bereits 58 Jahre alt war, wurde ebenfalls in ein Arbeitslager im Norden geholt; sie kanm für 7 Jahre nach Igarka.
Sofia blieb allein mit ihrem achtjährigen Sohn und den zwei Töchtern im Alter von zwei Jahren und sechs Monaten zurück. Und die sechzigjährige Oma, die sich im wesentlichen um die Kinder kümmerte, denn die Mutter kehrte selten vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause zurück. Sofia arbeitete als Kälber- und Pferdepflegerin und als Kälberhirtin. Alle hatten ein schweres Leben, arbeiteten gegen Anrechnung von Tagesarbeitseinheiten, zahlten hohe Steuern in Form von Lebensmittelabgaben und dazu noch für die Staatsanleihen, zu denen jeder verpflichtet war. Später schlug eine russische alte Frau namens Praskowja Burich, meiner Familie vor, im Hause ihres leiblichen Bruders zu wohnen, der zu seiner Tochter in ein anderes Dorf gezogen war. Das Häuschen war schon sehr alt und vermodert, und Mama mußte mit Erschichten und Lehm die ganzen Löcher abdichten“, - erinnert sich Ida Christianowna. Aber für die sibirischen Fröste war auch das kein Hinernis. Sogar die kümmerliche Kartoffelernte erfror im Haus. Aber die rettete sie trotzdem vor dem Verhungern.
Kartoffelfladen schienen sogar schmackhafter als Zucker zu sein, dessen Geschmack alle bereits vergessen hatten. Die russische alte Oma besuchte die Deutschen jeden Tag, und das noch nicht einmal mit leeren Händen – mal brachte sie einen Kohlkopf mit, mal einen Laib Brot. An sie erinnert sich Ida Christianowna mit guten Worten, denn es gibt von ihr nur Gutes zu erzählen. Für die Kinder der Ortsbewohner blieben die Werweins lange Zeit „die Faschisten“; es war kränkend und demütigend, denn so ein kleines Herzchen begriff doch nicht, weswegen sie die Deutschen, so fleißige und friedfertige Menschen, überhaupt nich leiden konnten.
Sobald der Schnee weggetaut war, gingen alle Dorfkinder aufs Feld, um Ähren zu suchen. Es kam vor, dass ein Kolchosmitarbeiter, der zu Pferde die Kolchosländereien kontrollierte, sie dabei erwischt. Er pfeift, und es vergeht keine Minute, bis alle wie vom Erdboden verschluckt sind. Und er sinnt nach Vergeltung, knallt mit der Peitsche und läßt sein Pferd mit den Hufen trampeln.
Die Zeit verging, und Ida sollte zur Schule. Da kam die Großmutter aus dem Norden zurück, und das Leben wurde für alle etwas leichter. Die Großmama war eine unübertreffliche Schneiderin, so dass man im Dorf schon anfing, sie als Modistin zu bezeichnen. Für ihre Näharbeiten bekam sie meist Lebensmittel, und so wurde sie auch zur Ernährerin der gesamten Familie. Kaum hatte Ida die sechste Schulklasse abgeschlossen, ging sie arbeiten – die Familie benötigte Geld. Sie hütete Schafe, arbeitete als Schweinehirtin und Melkerin. Von Melkmaschinen hatte man damals noch nichts gehört; sie molk 35 Kühe per Hand.
Das bescheidene, akkurate und fleißige Mädchen gefiel schon seit langem einem ortsansässigen Burschen namens Wasilij Tschewytschelow, der mit seinen 20 Jahren im gleichen Alter wie Ida war. 1961 heirateten sie. Für alle wurde das Leben etwas leichter, die Steuern wurden abgeschafft, die Staatsanleihen gesenkt, sie wurden nach ihrer geleisteten Arbeit bezahlt und Ida und Wasilij arbeiteten immer gewissenhaft, die Jugend begann sich hübsche Kleider und Anzüge zu schneidern.
1961 wurde die Kolchose „Roter Sonnenaufgang“ zur Sowchose Gljadenskij reorganisiert, später verlegten sie sie zur Nasarowsker Sowchose, wo der berühmte Weprew als Direktor fungierte. Der jungen Familie wurden zwei Söhne geboren – Wolodja und Dima, sowie Tochter Lilija. Aus eigenen Kräften bauten sie ein kleines Häuschen, in dem sie bis 1975 glüvklich lebten. Aber sie mußten auch an die Zukunft ihrer Kinder, ihre Ausbildung denken. In Wjerchnjaja Beresowka gibt es nur eine Grundschule und nicht einmal einen Kindergarten. Und so beschlossen die Tschewytschelows in die Siedlung Preobraschenskij umzuziehen, das sich damals recht schnell entwickelte. Der Direktor war sehr fürsorglich mit seinen Arbeitern, und gab Wasiliju als bestem Traktoristen sofort eine Wohnung. Ida Christianowna arbeitete als Köchin in der Schulkantine, später auf der Geflügelfarm, wo sie bis zur Rente blieb.
Heute hat meine Großmutter ihre drei Kinder und fünf Enkelkinder, denen sie mit Rat und Tat zur Seite steht. Trotz ihrer schweren Kindheit, gedenkt sie niemals denen mit schlechten Worten, die sich an der Tragödie ihrer Familie und des gesamten deutschen Volkes schuldig gemacht haben.
Es gab die Möglichkeit in die Heimat zu fahren, aber sie sind nicht ein einziges Mal dort gewesen. „Wo ist meine Heimat? Dort, wo ich geboren bin – von wo sie mich vertrieben haben,; dort, wo ich hinfahren mußte, war ich lange rechtlos. Ich hatte keinen Ausweis, aber dann bin ich mit Leib und Seele hiergeblieben“.
Gerade von solchen Menschen muß man Geduld und Vergebung lernen.
Das Material wurde von Nastja Latschkowa, Schülerin der 8. Klasse, zusammengetragen und bearbeitet.
Tatjana Maksimowna Lawrentewa wurde am 19. Januar 1915 im Gebiet Tschita, Seretensker Bezirk, Ortschaft Korowino geboren. In der elterlichen Familie gab es 6 Kinder, Oma und Opa, die Elternselbst, drei Tanten und einen Onkel. Sie unterhielten eine große Hofwirtschaft, und alle Familienmitglieder mußten eine Menge arbeiten.
Der Wunsch ein gutes Leben zu führen, der Wunsch sich zu seinem eigenen Wohl abzuplagen wurde zum Grund für die Entkulakisierung von Tatjana Maksimownas Verwandten. „Es kam eine örtliche Trojka, - erinnert sie sich, - und teilte uns mit, dass wir aus unserem Haus ausgewiesen werden sollten. Die Mitglieder dieser „Trojka“ waren in der Regel verarmte Bauern, die kaum das nötige Hemd auf dem Leib besaßen. Sie nahmen der Familie den gesamten Besitz fort und verteiten ihn an die anderen Ortsbewohner. Einige von Tatjana Maksimownas Familienmitgliedern wurden verschleppt, andere ins Gefängnis gesteckt. „Man brachte uns mit Pferden nach Sretinsk und anschließend in Güterwaggons bis nach Tschita, von dort zur Bahnstation Jenisej in der Region Krasnojarsk. Später wurden alle iregendwo untergebracht: die einen den Jenisej weiter flußaufwärts, die anderen flußabwärts bis nach Sudowerf (Schiffswerft; Anm. de. Übers.)“ – erzählt Tatjana Maksimowna.
Am Unsiedlungsort gab es keine Behausungen; sie bauten sich Laubhütten zusammen, und darin wohnten sie dann auch. Insgesamt wurde Tatjana Maksimowna mit ihrer Familie achtmal umgesiedelt, immer wieder mußten sie an einen anderen Ort umziehen. Der letzte Umsiedlungsort war das Dorf Gorewoje in der Region Krasnojarsk. Und Tatjana Maksimowna blieb allein in der Region Krasnojarsk, ohne Verwandte und Nahestehende. Es gab keine vernünftige Unterkunft, nichts zu essen, und sie mußte sich mit allen möglichen Arbeiten das tägliche Brot verdienen und sich irgendwie über Wasser halten.
„Was konnte man da schon für eine Ausbildung bekommen,“ schluchzt Tatjana Maksimowna, - wenn man noch nicht einmal wußte, was man heute zu essen haben würde“.
Die Umsiedler standen unter ständiger Kontrolle. Nicht einen einzigen Schritt konnten sie ohne die Erlaubnis der Kommandanturleitung unternehmen. Und von denen gab es verschiedene; Tatjana Maksimowna hat sich das grausame Verhalten der Leiter gegenüber den repressierten Bürgern ins Gedächtnis eingeprägt. Und später konnte Tatjana Maksimowna nicht zu ihren Eltern in die Heimat zurückkehren, weil man ihr nicht die Erlaubnis dazu gab.
Ihr ganzes Leben lang hat Tatjana Maksimowna ihr Geld mit ungelernten Arbeiten verdient; sie hat zwei Kinder großgezogen.
Lidia Dawidowna Werwein (Schwenk) wurde am 1. Mai 1931 in der Ortschaft Neeb, Kanton Unterwalden, ASSR der Wolgadeutschen, Gebiet Saratow geboren. Ihre Vorfahren hatten sich hier bereits zu Zeiten Katharinas I. angesiedelt.
Mit dem Aufstieg der Sowjetmacht wurden die Deutschen, wie auch alle anderen Bauern Rußlands, zur Kolchose „Roter Kommissar“ vereinigt; sie arbeiteten auf dem Feld, führten ihre eigene kleine Hofwirtschaft – sie besaßen ein Pferd, eine Kuh, Geflügel. An ihre Großeltern kann Lidia Dawidowna sich kaum noch erinnern, denn die Eltern – Dawid Christianowitsch (geb. 1908) und Emilia Karlwona (geb. 1911) - sprachen mit ihren Kindern nicht über sie. Aber aus Bruchstücken ihrer Kindheitserinnerungen vermutet sie, dass sie entweder entkulakisiert wurden oder während der großen Hungersnot in den 1930er ums Leben kamen.
Dies gab wohl auch den Anlaß dafür, dass ihre Eltern das Dorf verließen. Der Vater, Dawid Schwenk, bewarb sich zunächst im Gebiet Swerdlwosk, später in Tomsk; dort arbeitete er bei der Eisenbahn. Wo die Mutter ihren Arbeitsplatz hatte, weiß Lidia Dawidowna nicht mehr, aber sie war sehr fleißig, so dass das leine Mädchen den ganzen Tag allein zuhause verweilen mußte. Deswegen konnte sie auch bis zu ihrem dritten Lebensjahr nicht laufen – eine Folge des Hungers und der Erschöpfung.
Nachdem die Eltern begriffen hatten, dass man ohne Milch kein Kind großziehen konnte, beschlossen sie in die Heimat zurückzukehren. Und nach der Geburt des Sohnes im Jahre 1934 waren sie dazu nur um so fester entschlossen, und so fuhr due Familie zurück an die Wolga. Hier lebten sie wieder auf – führten ihren kleinen Hof, brachten das Häuschen in Ordnung. Sie arbeiteten hart, lebten einträchtig miteinander,und die Not wich von ihnen. Im Lande wütete das Jahr 1938, und in der Familie Schwenk wurde ein weiterer Sohn geboren. Lidia Dawidowna hatte zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Klassen an der nationalen Schule beendet. Es schien, als ob das Drama der Verhaftungen und Erschießungen an der Familie vorüberziehen würde, aber dann began dieser schreckliche Krieg. Es wurde still in dem kleinen Dörfchen: „Was würde nun aus ihnen werden – den Deutschen?“ Die Menschen hielten sich vor den Blicken der anderen Leute verborgen – wie konnte das nur möglich sein? Deutschland und die UdSSR hatten doch den Nichtangriffspakt unterzeichnet! Es hieß, dass auf sie alle großes Unheil zukommen würde. Aber welches?
Am 28. August 1941 wurden alle Deutschen auf Grundlage des Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die Umsiedlung der in den Wolgaregionen lebenden Deutschen“ auf administrativem Wege aus politischen und nationslen Gründen ausgesiedelt.
Die Tage der Sorge und des bangen Wartens zogen sich dahin. Anfang September 1941 teilten die NKWD-Organe den Bewohnern vorsorglich mit, dass sie sich an einem bestimmten Tag zur Umsiedlung bereit halten sollten. Zum Packen ihrer Sachen gab man ihnen 2-3 Tage Zeit. Drei sehr gewandte, schlagfertige und geschäftige Männer kamen, um eine Aufstellung des Besitzes zu machen. Die gescheite Kuh, die eine Vorahnung von der baldigen Trennung mit ihren fürsorglichen Herren hatte, muhte unaufhörlich und weigerte sich beharrlich auf die Wiese zu gehen, und die Katze lief einfach klammheimlich von zuhause fort. Dann kam der Zeitpunkt, an dem das gesamte Vieh an einer bestimmten Stelle zusammengetrieben werden sollte; Mensch und Tier bewegten sich mit stillem Weinen und traurigem Schweigen in Richtung Kolchos-Stützpunkt. Da brachten sie ihrer Ernährer fort, erhielten zusammen mit der Auflistung ihres Besitzes und des Viehs eine Bescheinigung, dass man ihnen am neuen Wohnort alles zurückgeben würde. In den Höfen und Häusern der Deutschen wurden sogleich nach deren Abreise russische Familien untergebracht.
Die Aussiedlung ging in der Nacht vonstatten. Mit Pferden wurden die Menschen zum Zug nach Saratow gebracht. Alle mußten in Güterwaggons einsteigen und wurden dann nach Sibirien verschickt.
Im Waggon war es dermaßen eng, dass die Menschen sich weder hinsetzen noch hinlegen konnten. An einer der Bahnstationen ging eine deutsche Frau, die sehr gut lesen und schreiben konnte und der man gestattet hatte, in ein- und demselben Eisenbahnwagen mit ihrer ganzen Familie zu fahren, von Waggon zu Waggon, um aus jedem von ihnen etwa 10-15 ihrer Leute umsteigen zu lassen. Auf der gesamten Weiterreise wurden die Deutschen von NKWD-Mitarbeitern begleitet, die auf ihre Passagiere streng achtgaben, und sie hatten auch stets ein wachsames Auge auf sie, wenn sie zum Wasserholgen gingen oder ihre Notdurft verrichten mußten.
Im Verlauf der Reise hielt der Zug häufig an – manche wurden aus den Waggons geholt und in Züge verladen, die in eine andere Richtung weiterfuhren. Familien ohne Kinder wurden in Viehwaggons umgeladen, die in den Norden fuhren. Kurz vor Nowosibirsk wurde den Deutschen klar, dass man sie zur Sonderansiedlung in die Region Krasnojarsk brachte. Die Familie Schwenk und fast alle anderen Einwohner des Dorfes Neeb wurden an der Bahnstation Adadym aus den Waggons geholt. Mit Pferden wurden sie anschließend in das Dorf Wjerchnjaja Beresowka gebracht.
Die Umsiedler wurden vorrübergehend in den Unterkünften der Ortsansässigen untergebracht. Die Männes des Dorfes waren alle in die Armee einberufen worden; deswegen ruhten Haushalt und Hofwirtschaft auf den Schultern der Frauen und Kinder. Lidia Dawidowna kam mit ihren Eltern und den beiden Brüdern bei einer Familie unter, deren Vater und zwei Söhne an der Front waren. Die Hausherrin wartete auf Briefe von der Front, während die neuen Hausbewohner die Ankunft des Postboten füchteten. Gebe Gott, dass er keine Todesnachricht bringt – dann würde man sie sicherlich in den klirrenden Frost hinausjagen.
Die ansässigen Dorfbewohner verhielten sich gegenüber den Deutschen loyal, obwohl sie sie, Gerüchten zufolge, andernorts mitunter auch im Kuhstall übernachten ließ, denn sie wollten die Leute nicht in ihre Häuser lassen, verprügelten sie sogar, kränkten und verspotteten sie. Die gesamte erwachsene Bevölkerung und Kinder ab dem 10. Lebensjahr arbeiteten in der Kolchose gegen Anrechnung von Tagesarbeitseinheiten, die nicht in Form von Geld bezahlt wurden. In die Schule ging Lidia Dawidowna lediglich zwei Tage. Aus Mangel an Kenntnissen der russichen Sprache setzte man sie in die erste Klasse. Dabei war sie schon zehn Jahre alt – viel zu alt für die Klassenstufe, und außerdem mußte sie nun genauso wie ihre Mutter Kühe melken und Kälber hüten.
Die männlichen Umsiedler erwirkten wenigstens die Zuteilung einer Kuh für ihre Familien – und das war der Ersatz für die große Hofwirtschaft, die sie in der Heimat hatten zurücklassen müssen. Man gab ihnen die Kuh, aber im Januar 1942 holten sie alle Männer, darunter auch Dawid Christianowitsch, sowie alle unverheirateten Frauen in die Trudarmee. Und einen Tag später nahm man ihnen auch die Kühe wieder fort. Damit war die Hilfe und Unterstützung beendet. Es begann die Zeit des verzweifelten Überlebens. Die Leute aßen alles, was ihnen unter die Finger kam: sie tauschten ihre mitgebrachten Sachen gegen Lebensmittel um, sammelten auf den Feldern Ähren und gefrorene Kartoffeln. Im Sommer bestand ihr Essen aus Beeren, wildem Lauch und Ampfer. Manch einer schlug sich auch mit Betteln durch.
Einige Monate nach dem Fortgang des Vaters in die Trudarmee holten sie auch die Mutter. Den ganzen Weg bis Krasnojarsk war sie nur am Weinen; es war ihr nicht gelungen der Obrigkeit plausibel zu erklären, dass sie zuhause kleine Kinder hatte. Sie beherrschte die russische Sprache noch nicht, und jene konnten kein Deutsch. Erst in Krasnojarsk, in der Kommission, gab es einen Deutschen, der ihr zuhörte, - und schließlich durfte Emilia zu ihren Kindchen zurückkehren. So bewahrten Kommissar Zufall und auch der liebe Gott die Kleinen vor dem Kinderheim.
Aber am meisten demütigte sie der Tatbestand, dass sie unter der Aufsicht der Kommandantur standen. An einem bestimmten Tag kamen Mitarbeiter des NKWD, und alle Deutschen mußten sich mit ihren Kindern registrieren lassen. Sechzehnjährige Minderjährige kamen bereits auf eine eigenständige Liste. Umzüge ohne ausdrückliche Erlaubnis der Behörden waren unzulässig. Es gab niemanden, der einen Fluchtversuch unternahm. Die Deutschen waren doch ein folgsames, gesetzestreues Volk. Dieses Leben ohne jegliche Rechte zog sich bis 1956 hin. Endlich kam der langersehnte Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 18. Januar über die Abschaffung er Sonderansiedlung. Aber erst 1960 durften sie den Umsiedlungsort verlassen, aber man ließ sie nicht in die Heimat zurück.
In Scharen reisten die Menschen ins Altaigebiet und nach Kirgisien ab. Und erst in den 1970er Jahren bekamen die Deutschen die Erlaubnis ins Wolgagebiet zurückzukehren, allerdings unter der Bedingung, dass sie nicht die Rückgabe ihres zurückgelassenen Besitzes forderten. Dawid Christianowitsch und Emilia Karlowna zogen mit ihrer jüngsten Tochter (geb. 1952) nachKirgisien um. Und erst 1991, auf Grundlage von Pkt. „B“, § 3 des Gesetzes der Russischen Föderation vom 18.10.1991 „Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen“ wurde die Familie rehabilitiert. Aber der Mut der Regierung reichte nicht aus, um das gesamte Volk für die Ungerechtigkeiten und schweren Verluste um Verzeihung zu bitten. Es gab Versprechungen und Versuche die Deutsche Wolgarepublik mit Hilfe von Geldmitteln aus Westdeutschland wiederherzustellen, aber auch diese Versprechen löste die Regierung nicht ein.
Lidia Dawidowna heiratete bereits 1955 ihren Landsmann, der aus demselben Dorf stammte, in dem auch Lidia geboren wurde – Iwan Christianowitsch Werwein, mit dem sie 42 Jahre glücklich zusammenlebte. Sie bekamen vier Kinder. Alle erhielten eine gute Ausbildung und wurden zu würdigen, ordentlichen Menschen erzogen. Die vier Enkelkinder erfreuen und respektieren die alten Leute. Von 1975 bis 1986 arbeitete sie auf der Wladimirowsker Geflügelfarm, wo sie sich um die Küken kümmerte. Von dort ging sie auch in den wohlverdienten Ruhestand, führte ihre eigene kleine Wirtschaft, half bei der Erziehung der Enkelkinder.
N.I. Owtschinnikowa
Es läßt sich wohl nichts mit dem Bericht eines tatsächlichen Augenzeugen vergleichen. Uns sind wertvolle Erinnerungen in die Hände gefallen, die Wasilij Dmitrijewitsch Nasarow unmittelbar vor seinem Tod niedergeschrieben hat. Wir werden von uns aus nichts hinzufügen, sondern die Erinnerungen, so wie sie sind, in vollem Umfang zitieren. Und das sind Wasilij Dmitrijewitschs Aufzeichnungen.
„Am Ende meines langen Lebens möchte ich meinen Kindern und Enkeln von meinem Leben berichten. Ich wurde am 3. März 1927 in der Altai-Region, in dem Dorf Kokschi, unweit des Dorfes Srostki, geboren. 1930 wurde unsere Familie enteignet und in die Nayrymsker Region, Gebiet Tomsk, verschleppt. Ich war damals drei Jahre alt.
In der Nacht kamen bewaffnete Leute und brachten die Mutter des Vaters und den bruder fort. Mich ließen sie im Haus zurück. Am nächsten Morgen sah ich Großvater Matwej, der mitansehen mußte, wie sie das Getreide aus seinem Speicher entwendeten. In dieser Nacht wurden die Brüder des Vaters verhaftet: Grigorij, Frol, Aleksej und Semjon. Danach brach eine Hungersnot aus, man gab mir eine Tasc he in die Hand und schickte mich los zum Betteln. Ich ging durch das Dorf, und was ich mit nach Hause brachte, das wurde gegessen.
Im Herbstkam meine Mutter, um mich zu sich an den Verbannungsort zu holen. Anfang April des folgenden Jahres, am ersten Ostertag, kamen erneut Leute von der Miliz. Sie sagten:“ Packt eure Sachen auf den Schlitten“. Und dann brachten sie uns an einen anderen verbannungsort. Das war die Strafe dafür, dass der Vater und noch drei weitere Familien sich geweigert hatten, in der Kolchose zu arbeiten. Die kleinen Kindchen saßen auf dem Schlitten, die anderen gingen zufuß. In der Nacht starb in einer der Fmilien ein 12-jähriger Junge, sie hoben ein Grab aus, beerdigten ihn und fuhren weiter. Gegen Morgen überquerten wir bereits den Ob.
Man brachte uns in einer Baracke unter. Fünf bis sechs Tage späte stieg der Wasserspiegel des Ob an, und die ganze Gegend wurde überschwemmt. Vom Hauseingang holten wir uns unser Trinkwasser und dort verrichteten wir auch unsere Notdurft. Die Siedlung trägt den namen Tschukowo, der ganze Schlamm blieb etwa zweieinhalb bis drei Monate dort. Die Erwachsenen waren nicht zuhause, alle wurden zum Holzabflößen getrieben. Eines Nachts, Anfang Oktober, weckte der Vater uns, sagte jedem von uns, was er mitnehmen sollte, und dann begaben wir uns ans Ufer des Ob; dort lagen zwei große Boote; wir luden unsere Sachen ein, und dann fuhren wir flußabwärts. Am Abend des zweiten Tages machten wir am Ufer fest; auf dieser Insel lebten zwei menschen, ein Mann mit seiner Egefrau, sie ernährten sich vom Fischfang. Wir waren insgesamt vier Familien. Wo sollten wir vor der Kälte Schutz suchen? Es gab ja nichts. Die erwachsenen Frauen und die Kinder weinten: es gab einfach nichts; nichts zu essen, kein Dach über dem Kopf. Die Erwachsenen sammelten alles mögliche Gerümpel und bauten aus Brettern und Standen eine Art Schuppen. Am dritten Tag begaben sich die Männer an die Stelle, an der sie als zukünftige Behausung Erdhöhlen ausgraben wollten.
Zu dieser Zeit wurde unsere Großmama – Vaters Mutter, krank. Drei Tage später starb sie. Ich stand bei ihr, als sie uns verließ. Von den Männern war jakeiner da. Schnee fiel, es war kalt, und die Großmama lag ohne Sarg da. Soweit ich mich erinnern kann, kehrten die Männer am dritten Tag zurück, bauten einen Sarg und brachten ihn ans gegenüberliegende Ufer des Ob, um die Großmutter dort zu beerdigen. Der Sarg wurde auf dem Schlitten untergebracht, den vier Männer anstelle eines Pferdes zogen. Nachdem die Großmama begraben war, gingen alle an den Ort, der nun zu ihrem ständigen Wohnsitz werden sollte, und begannen mit dem Bau von Erdhöhlen. Die Arbeiten dauerten den ganzen Winter über an, und es kostet mich viel Mühe, das alles zu beschreiben“.
Wasilij Dmitrijewitsch arbeitete sein Leben lang an der Baikal-Amur-Magistrale, anfangs als einfacher Pförtner, später als Ingenieur. Zusammen mit seiner Frau Jekaterina Sergejewna zog er drei Kinder groß. In unsere Siedlung Preobraschenskij kamen die Eheleute Nasarow erst, als sie sich bereits im wohlverdienten Ruhestand befanden. 57 Jahre glücklichen Ehelebens wurden mit wohlgeratenen Kindern und Enkelkindern belohnt.
Wasilij Dmitrijewitsch Nasarow wurden folgende Ehrenmedaillen verliehen:
Für heldenhaftete Arbeit zu Ehren des 100. Geburtstags von W.I.Lenin am
07.07.1970;
Sieger des sozialistischen Wettbewerbs, 28.02.1980;
Sieger des sozialistischen Wettbewerbs, 02.02.1978;
Veteran der Arbeit, 09.02.1983:
Für seine Mitwirkung am Bau der BAM, 1807-1979;
40. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg.
Nina Sawelewna Weselkowa wurde am 26. März 1934 in Chakassien, in dem Dorf Gidra, unweit der Stadt Scharypowo geboren. In der elterlichen Familie gab es fünf Kinder. Sie lebten im Wohlstand: sie besaßen eine Kuh und ein Pferd. Aber sie mußten unaufhörlich arbeiten. Mitunter, in der heißen Phase der Erntezeit nahmen die Eltern sich zusätzlich Hilfsarbeiter aus den Reihen verarmter Bauern. Und das war auch der Grund, weshalb sie entkulakisiert wurden.
Die örtlichen Behörden nahmen ihnen alles fort: die Hofwirtschaft, die sie mit ihrer alle Kräfte übersteigenden Arbeit geschaffen hatten, das Haus, ihr Land – alles mußten sie an die anderen Dorfbewohner abgeben. Nina Sawelewna geriet mit ihren Angehörigen in die verbannung. Eine schreckliche, bittere Erinnerung hat sie daran, wie sie überleben mußten, wie sie hungerten und froren. Zudem benahmen sich die Bewohner des Ortes, an den Nina Sawelewna verbannt worden war, sehr schlecht und unfreundlich gegenüber den Umsiedlern.
Nina Sawelewna arbeitete im Kindergarten, später als Vogelwärterin; sie zog zwei Kinder groß. Derzeit befindet sie sich im wohlverdienten Ruhestand, versorgt ihren Haushalt und ihre kleine Hofwirtschaft.
Einen riesigen Zeitraum unserer Geschichte ist mit dem Begriff „Repressionen“ verbunden. Millionen Menschen unsres großen Landes wahren den von den Behörden organisierten Repressionen ausgesetzt. Was ist das für ein rätselfahtes Wort – „Repressionen“. Im Wörterbuch wird es als unbegründetes Fortjagen eines großen Teils der Bürger eines Staates definiert, und zwar in Zusammenhang mit dem Verdacht auf politische Unzuverlässigkeit. Mit anderen Worten: Menschen, Familien, Kinder wurden zu Feinden von Volk und Staat erklärt, weil sie der politischen Unzuverlässigkeit verdächtigt wurden. Eine ganz besondere Verbindung zu Repressionen gibt es mit dem Zeitraum unserer Geschichte,der sich zwischen 1930 und den 1950er Jahren bewegt. Die politischen Verfolgungen verliefen in zwei Prozessen: Entkulakisierung und Deportation. Entkulakisierung – das ist die Konfiszierung des Besitzes wohlhabender Bauern mit anschließender Aussiedlung von ihrem Wohnort. Deportation bedeutet – die Aussiedlung ganzer Völker aus ihren heimatlichen Wohnorten.
Wieviele menschliche Schicksale wurden in jenen Jahren grausam verstümmelt. Viele Familien machten eine wahre Tragödie durch, verloren ihre Angehörigen. Den Kindern wurde die elterliche Wärme genommen; die verwandten verloren die Möglichkeit, miteinander in Kontakt zu bleiben, hatten nicht das Recht, Briefe zu schreiben, voneinander Mitteilungen zu empfangen. Häufig war es so, dass Mutter und Kinder sich an einem Siedlungsort befanden, während sich der Vater in einem ganz anderen Bezirk oder Gebiet aufhielt, und die Verwandten konnten sich weder treffen, noch überhaupt in Erfahrung bringen, ob der andere noch am Leben war. Und wieviele unglückliche, die die schweren Belastungen und Strapazen der Umsiedlung nicht überstanen, blieben entlang der Eisenbahnlinien in anonymen Gräbern zurück. Wie kommt es nur, dass Rußland nicht an den Tränen der Entrechteten ertrunken, nicht durch das Stöhnen und Zähneknirschen ganz taub geworden ist?
Zum Hauptsiedlungsort der Bürger, die zu Volksfeinden erklärt worden waren, wurde unser Bezirk Nasarowo. Eine riesige Anzahl der unglücklich, enteigneten Umsiedler wurden in den verschiedenen Dörfern des Bezirks angesiedelt. So trafen beispielsweise im September 1941 bereits Sonderumsiedlerim Nasarowsker Bezirk ein. Zu den ersten gehörten Wolgadeutsche aus den Gebieten Saratow und Stalingrad – insgesamt 150 Personen. Unter den Nationalitäten, die als Sonderumsiedler hierher kamen, befanden sich auch Kalmücken (etwa 1500 Mann); weitere Augenzeugen jener Ereignisse waren auch zahlreiche Letten, Litauer und Esten. Im Nasarowkser Bezirk waren 1425 Deutsche, 781 Kalmücken und 842 Personen aus dem Baltikum registriert. Insgesamt 3048 Personen, alles Sonderumsiedler – nicht eingerechnet andere Kategorien innerhalb der represierten Bevölkerung.
In unserem heutigen wohlgenährten und erfolgreichen Leben besitzen wir nicht das Recht, diese Jahre voller Leiden zu vergessen; wir müssen alle kleinen Teilchen der menschlichen Erinnerung bewahren, um diese ungeheuerlichen Experimente und Gewalttaten am Menschen nicht zu wiederholen.
In der Familie des zu einem alten Adelsgeschlecht gehörenden Kosaken Anton Iwanowitsch wurde 1934 Sohn Iwan Iwanowitsch Starzew geboren. Iwan Iwanowitschs Eltern, Zugewanderte von der Wolga, lebten in der Gegend von Astrachan, Jekaterininsker Bezirk, in dem Dorf Kosika. Eine ungewöhnliches Dorf war das – mit seinen Kosaken-Bräuchen, die aus längst vergangenen Jahrhunderten stammten. So standen den Kosaken beispielsweise zur Geburt eines Sohnes gewisse Privilegien zu: man vergrößerte die Fläche des Ackerlandes. In der Wirtschaft der Starzews gab es Pferde, Ochsen, Kühe, Sämaschinen und Kornschwingen. Sie waren aber auch leidenschaftliche Fischer und besaßen insgesamt 500 Saschen (= 1066,8 Meter; Anm. d. Übers.) Netze. Beben Iwan hatte der Vater noch drei weitere Kinder.
Die Starke, große Hofwirtschaft der Starzews muß weohl irgendjemandes Neid hervorgerufen haben. Irgendein „guter Mensch“ machte eine schriftliche Meldung, und kurz darauf wurde der Vater zum Kulaken (Großbauer; Anm. der Übers.) erklärt. Zum Ort der Verbannung wurde die Ortschaft Borowoje, im Bezirk Tjuchtjet. Dorthin wurden noch weitere 38 Familien verschleppt. Man brachte sie einfach dorthin und setze sie bei grimmigem Frost inmitten der Taiga aus. Das erste Wohngebäude am neuen Siedlungsort war eine Erdhütte. Vor Nässe und Kälte, die in den Behausungen herrschte, erkrankten Iwan Iwanowitschs Bruder und Schwester an Typhus. Hilfe bekamen die Umsiedlerfamilien nicht. Alles mußten sie selber machen, noch dazu mit praktisch leeren Händen: Bäume roden, den Boden pflügen, Häuser bauen. Sobald sie sich ein wenig eingelebt hatten, schufen sie ihre Kolchose „Lichtblick der Taiga“. In der Siedlung Borowoje bauten sie einen Kindergarten und eine 7-Klassen-Schule.
In der Heimat, an dem Ort, von dem man die Starzews ausgesiedelt hatte, blieben die Großeltern allein zurück. Dann kam die Nachricht, dass man den Großvater wegen Ungehrosams irgendwo an dr Wolga ins Gefängnis gesperrt und die Großmutter verschleppt hatte. Die Großmutter floh aus der Verbannung zurück in die Heimat und ging mit ihren Freundinnen zufuß bis nach Astrachan.
Iwan Iwanowitschs Vater wurde 1938 verhaftet, weil er einen russischen Vierzeiler gesungen hatte. Sobald Iwan Iwanowitschs Vater hinter Schloß und Riegel war, jagten sie den Jungen aus dem Kindergarten fort, die Mutter wurde von ihrem Arbeitsplatz entlassen, und die Familie mußte sich nun auf den Höfen herumtreiben und um Nahrung betteln. Iwan Iwanowitsch erinnert sich, dass die Häuser in der Siedlung sehr klein waren: ein Zimmer, die Öfen aus gestampftem Lehm, kein Licht, weil es nicht genügend Kerosin gab.
Der Krieg erreichte sie im Dorf Borowoje. Damals ging Iwan Iwanowitsch in die 2. Klasse. Die Lehrer mußten an die Front, die Schule wurde geschlossen. Ab 1943 kamen Verwundete ins Dorf, die Schule wurde wieder geöffnet. Der Vater wurde 1946 freigelassen. Iwan Iwanowitsch absolvierte insgesamt fünf Schuljahre. „Korridore“, wie er sagt. Während des Krieges ging er arbeiten, der Mutter helfen. Die Kinder begannen ab dem 7. Lebensjahr zu helfen: sie transportierten Heugarben, waren als Pferdetreiber tätig. Nach dem Krieg konnte die Mutter bereits nicht mehr arbeiten, Iwan Iwanowitsch mußte die Schule abbrechen und sich im Alter von 13 Jahren eine Arbeit suchen. 1950 erlernte er den Beruf eines Traktoristen in der Fabrik für landwirtschaftlichen Traktoren. Als der Vater 1947 abreisen durfte, fuhr er in die Heimat und schickte seiner Familie eine Nachricht, dass er sie zu sich holen wollte. Iwan Iwanowitsch versuchte zu seinem leiblichen Vater und der Großmutter in die Region Astrachan zurückzugehen. Aber leider befanden sich alle Umsiedler bis 1954 unter Kommandantur-Aufsicht. Man erlaubte der Familie nicht, zum Vater zu fahren. Auf Schleichwegen gelangte Iwan Iwanowitsch 1954 dennoch zum Vater, fand dort eine Arbeit und ging später von dort zur Armee.
Als Iwan Iwanowitsch seinen Militärdienst beendet hatte, fuhr er zuallererst auf Besuch zur Mutter, die damals schon in Preobraschenskoje lebte. Dort lernte er Nina Pawlowna kennen, mit er er dann für den Rest des Lebens zusammenblieb. Die beiden heirateten und lebten 12 Jahre in Chakassien, in der Siedlung Borez. Zusammen mit seiner Ehefrau erschloß Iwan Iwanowitsch Neuland. Seit 1972 wohnen die Starzews in Preobraschenskoje. Iwan Iwanowitsch arbeitete in der Kolchose „Wladimirowskij“ als Mähdrescherfahrer und Mechanisator. Seit 1997 befinet er sichim wohlverdienten Ruhestand.
Er besitzt folgende Auszeichnungen und Ehrentitel:
Produktionsbestarbeiter;
Meister der Produktion;
Silbermedaille der Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft;
Arbeitsveteran der Region Krasnojarsk.
Aber die wichtigsten Titel, die Iwan Iwanowitsch trägt sind die Titel: Vater, Großvater und Urgroßvater. Mit seiner Ehefrau Nina Pawlowna hat er vier Kinder großgezogen, und inzwischen haben sie zwei Enkel und einen Urenkel.
Nina Pawlowna Starzewa wurde am 24. Juni 1932 geboren. Ihre Eltern – Pawel Aleksejewitsch Terechin undNatalia Aleksejewna – stammten aus der Siedlung Swetlij, Gebiet Tomsk, Teguldetsker Bezirk. In der Familie waren zwei Kinder - ein Junge und ein Mädchen.
Nina Pawlownas Eltern wurden zum ersten Mal 1930 repressiert, und Nina erblickte das Licht der Welt bereits in dem Dorf Schgutowo, Nasarowkser Bezirk. Die Enteigneten bauten ein neues Haus.. Später, und das war bereits nach der zweiten Enteignung, zerlegten sie das Haus in seine Einzelteile. Mit dem gesamten Haus zogen sie um nach Stepnaja, wo sie sich in der Nähe des Krankenhauses niederließen. Am neuen Wohnort hielten die Starzews, wie zum Hohn des Schicksals, 12 Kühe. Es ware ein große Familie, die Verwandten hielten alle zusammen, Nina Pawlownas Eltern fütterten ihre Brüder und Schwestern mit durch. Die Eltern wurden ein zweites Mal enteignet, auch einige der Verwandten, und manch einer floh. Nina Pawlowna vermutet, dass die zweite Entkulakisierung aufgrund einer Denunzierung erfolgte. Die gesunde Wirtschaft der Familie Terechin ließ den Neidern wohl keine Ruhe.
Danach wurden die Elternin das Dorf Bogotolka im Bezirk Tjuchtjet fortgejagt. Man brachte die Eltern dorthin und setzte sie inmitten der Taiga einfach aus – hier könnt ihr leben, wie ihr wollt. Viele ihrer Leidsngenossen konnten die Entbehrungen nicht ertragen und starben. Immer neue Umsiedler wurdenherangeschafft. Die Eltern mußten sehr hart arbeiten, um die Familie durchzubringen. Der Vater war Maschinist an der Dreschmaschine, die Mutter war als ungelernte Arbeiterin tätig, sie mußte in der Taiga Bäume fällen. Die Kleine Nina ging in die 24-Stunden-Kinderkrippe. Beaufsichtigt wurde sie dort jedoch nicht; das Mädchen wurde ernsthaft krank, die Beine waren gelähmt. Ihre Eltern bekam sie praktisch nie zu sehen. „Warte, warte, - erinnert sich Nina Pawlowna, - hörst du, sie singen ein Lied. Aus irgendeinem Grunde sangen sie immer irgendwelche Lieder“. Nina Pawlowna beendete 4 Schulklassen: sie hätte in einem anderen Dorf zur Schule gehen müssen, um weiter zu lernen, aber ihre Mutter ließ sie nicht.
Als der Krieg begann holten sie den Vater und dessen Bruder an die Front. Nur der Bruder kehrte später von dort zurück. „Ich weiß noch, wie wir den Vater begleitet haben, - erzählt unsere Heldin, - alle wurden zusammengerufen, dann mußten sie auf ein Pferd steigen und wurden fortgebracht“. Nina lebte mit ihrer Mutter in einem kleinen Häuschen. Während des Krieges hielt die Mutter eine Kuh. Ihre Arbeit wurde in Tagesarbeitseinheiten verrechnet, zum Ende des Jahres gab man ihnen dafür Getreide. Mit Getreide, Milch und Grünzeug hielten sie sich über Wasser. In den Großfamilien hatten die Dorfbewohner es schwer; sie ernährten sich von in Mehl gekochter Melde. Nina Pawlowna erionnert sich, wie sie in der ersten Klasse losgingen, um Ähren zu sammeln und diese dann im Getreidespeicher abgaben. Zum Kartoffelnsammeln war keine Zeit, sie gruben sie erst au7s, als der Boden bereits gefroren war. Und Heu beschafften sie in der Nacht.
Nina Pawlowna begann im Alter von 9 Jahren zu arbeiten: sie säuberte das Getreide vom Unkraut. Mit 14 war sie als Melkerin tätig. Die Kuhställe waren schlecht, - sagt Nina Pawlowna. – Sie waren mit Stroh bedeckt, und es war kalt. Ich hatte 12 Kühe zu versorgen. Die Milch haben wir selber getrennt, Butter geschlagen und alles abgeliefert.
In die Siedlung Preobraschenskij kam sie zusammen mit ihrem Ehemann; 18 Jahre arbeitete sie als Technikerin an der Schule. Sie ist in der ganzen Sowjetunion als Arbeitsveteranin bekannt; dieser Titel wurde ihr am 24. Juni 1987 verliehen.
Jewdokia Andrejewna Tschbrowa kann nicht ohne Tränen von ihrem Schicksal berichten. Das schreckliche Jahr 1937 (? vermutlich meint sie das Jahr 1930 – Anm. d.Redaktion dieser Webseite). Dunjaschas Familie wurde nur deswegen enteignet, weil sie eine Kuh und ein Pferd besaß. Es tat der Mutter in der Seele weh, dass sie die beiden Ernährer der Familie an die Kolchose abgeben sollte. Sie sagte zu ihrem Ehemann: „Entweder ich – oder die Kolchose“. Er entschied sich für die Familie. Und so geriet die Familie nach Karelien – in die Finnische ASSR. Mit Zügen wurden sie fortgebracht, eingepfercht in beheizbaren Güterwaggons, als ob sie Vieh wären; ganze zwei Monate waren sie unterwegs. Die Schwächsten unter ihnen und die Kinder starben, sie wurden in den aufgeschütteten Bahndämmen entlang der Eisenbahnlinie bestattet.
Die Südländer trafen in einem Gebiet mit rauhem Klima ein und wurden sofort verteilt: Männer in eine Baracke, Kinder und Frauen in eine andere. Sie schliefen auf Pritschen, auf Stroh, in der Mitte stand ein langer Tisch, der aus groben, breiten Brettern zusammengenagelt war.
Die schwere Arbeit, der schreckliche Hunger und der Tod gingen dicht nebeneinander her. Dunjaschas Bruder Witja versuchte fortzulaufen: er wollte mit einem Holzlastkahn wegfahren, aber der Nachbar, dem er die Freiheit versprochen hatte, verriet den unglücklichen Burschen. Auf dem Lastschiff fand eine Durchsuchung statt, und Witja wurde unter ein paar schweren Baumstämmen eingeklemmt. Unter schrecklichen Qualen starb er vor den Augen des Vaters.
Ihre einzige Nahrung war Suppe aus Kiefernnadeln mit einer Handvoll Linsen; ein halbes Jahr später starb Dunjaschas Mutter. Und noch auf dem Totenbett träumte sie von Dunjaschas glücklichem Schicksal.
Nach der Beerdigung erlaubte man dem Vater bei seiner Tochter zu leben. Er hatte sich sehr verändert, war abgemagert, krumm geworden, schwieg lange Zeit und starrte immer nur auf einen Punkt. Die kleine Dunjascha wurde nun zum ganzen Halt für den Mann. Mit allen möglichen Mitteln versuchte sie ihn von seinen schwermütigen Gedanken abzulenken, gab ihm ein paar mehr Kiefernnadeln in die Suppe, fing an mit ihrem kleinen Herzchen zu begreifen, dass der Vater schnellstens Hilfe benötigte. An der Litwinow-Station grassierte zu der Zeit der Hungertod: vor lauter Hunger starben jeden Tag bis zu vierzig Kinder. Einmal wurde Dunja Augenzeugin, wie ein erwachsener Mann sich auf Knien von einer Baracke in die andere bewegte, um wenigstens ein kleines Stückchen Brot zu erbetteln, aber niemand gab ihm etwas; er fiel einfach um und starb. Nach diesem Vorfall begann Dunja damit den Vater zu überreden, nach Hause, nach Odessa, zu flüchten. Und die Lagerverwaltung fällt die Entscheidung, dass ein neues Stückchen Land urbar gemacht werden muß; um dorthin zu gelangen, muß man mit dem Schiff durch das Archangelsker Meer fahren. Aber die Leute erfahren, dass die Lagerleitung aus Angst vor einem epidemischen Massentod, beschlossen hat, einige Lastkähne zu versenken. In den Zeitungen schrieben sie, dass die Barken durch die deutsche Luftflotte versenkt wurden. Als das Mädchen mit seinem Vater an Bord eines solchen Lastkahns gehen sollte, klammerte es sich am Ufergestein fest; die erwachsenen Wachen waren nicht in der Lage, es davon loszureißen. Einer von ihnen murmelte zwischen den Zähnen hindurch: „Zum Teufel mit ihnen, dann sollen sie eben hier krepieren!“ Wenn sie an den Vorfall zuückdenkt, dann sagt Oma Dusja auch heute noch: „Das hat Gott mir damals eingegeben, er hat mich vor dem Tod bewahrt, denn es war genau diese Schiffskarawane, die später versenkt wurde“.
Nach dieser Tragödie begann Dunjascha den Vater noch beharrlicher auf eine Flucht vorzubereiten. Und schließlich gelang es. Sie blieb ganz allein zurück und lebte zwei Jahre lang unter fremden Leuten, immer in der Angst, bei lebendigem Leibe ausgeliefert zu werden – dann an der Litwinow-Base herrschten ebenfalls Hunger und Kannibalismus. Nach einiger Zeit wurde der Vater erneut nach Archangelsk verschleppt, und Vater und Tochter begegneten sich wieder. Erst 1944 wurde der Vater rehabilitiert und fuhr in die Heimat. Wieder ist das Mädel allein – es hat keinen Ausweis, man erlaubt ihr nicht, das Lager-Territorium zu verlassen. So vergingen weitere vier Jahre. Auf Dunjaschas Lebensweg traf sie eine gute Seele, die ihr zeigte, wie man wahrsagt. Mit dieser Fähigkeit begann das junge Mädchen dann auch seinen Lebensunterhalt zu verdienen, für ein Stückchen Brot sagte sie unglücklichen Menschzen ihr weiteres Schicksal voraus. Bald darauf begegnete sie Grigorij Tschebrow. Aber erst 1947 gelangte die Familie Tschebrow in die Heimat des Ehemannes, in den Bezirk Nasarowo. Sie zogen vier Kinder groß, alle sind fleißige und geachtete Leute. Und Oma Dusja – wie man sie in der Siedlung nennt, bringt bis heute ihren Landsleuten nur Güte und Licht entgegen, sie heilt mit volksheilkundlichen Mitteln und Gebeten alle möglichen Krankheiten. Und dabei ist sie schon 86 Jahre alt! Nur ein Mensch, der an das Gute, Helle, an das Leben glaubt und darum kämpft, ist in der Lage, derart harte Schicksalsschläge zu überwinden.
Im Gebiet Kemerowo, im Wjerchnetschebulinsker Bezirk, befindet sich die Ortschaft Schestakowo, und genau dort wurde Klawdija Pawlowna Kortschuganowa geboren. Un dies erzählt sie über sich: „Das Leben unserer Familie wurde mit Beginn der Kollektivisierung zerstört. Unser Vater war ein sehr arbeitssamer Mensch, alles hat er mit seiner eigenen Hände Arbeit angeschafft, und plötzlich mußte er alles an die Kolchose abgeben. Und wie sollte er selber leben? Ich war gerade etwas über zwei Jahre alt, meine Schwester – acht Monate. Nur von dem einen Wunsch besessen, seine Familie zu retten, damit die Kinder nicht vor Hunger starben, beschloß der Vater, uns etwas weiter von hier fortzubringen. Aber, wie es so schön heißt, kommt ein Unglück selten allein: unterwegs erkrankte die Mutte und starb. Wir Kinder kehrten mit demVater wieder nach Hause zurück, obwoh l – es gab bereits nichts mehr, wohin wir hätten zurcükgehen können: unser Haus hatte man zur Bäckerei umgebaut. Ich muß dazusagen, dass sie einige Zeit später abbrannte. Verwandte nahmen uns bei sich auf ...
- An den Vater kann ich mich noch erinner, er sah immer so bedrückt und traurig aus. Heute verstehe ich natürlich die Gründe für seine Trauer. Ich weiß sogar noch, wie er einmal ganz schrecklich weinte; ihm war wohl so schwer ums Herz, dass er die Tränen nicht zurückhalten konnte. Er kam durch jemandes böse Tat und grausame Hand ums Leben: er wurde erschossen, irgendjeman schoß ins Fenster hinein ...
- Die Großmama nahm mich auf (sie war aus Mariinsk gekommen), und ganz besonders gut, als wäre es erst gestern gewesen, kann ich mich daran erinnern, wie die Großmutter und ich abreisten. Es war ein warmer Tag, sonnig, auf der Wiese graste eine Herde Pferde, und plötzlich schrie die Großmama: „Klawa, sieh nur, das ist doch euer Karka, er hat dich wiedererkannt!“ Unser Karka riß den Kopf hoch, wieherte und kam in leichtem Trab auf uns zugelaufen. Er rannte, aber wir entfernten uns bereits im weiter. Mir wurde damals sehr traurig zumute, dass Karka nun schon nicht mehr uns, sondern, wie die Großmutter sagte, der Kolchose gehörte. Damals sagte sie mir davon natürlich kein Wort; lange Zeit konnte ich nicht begreifen, warum Karka uns nicht mehr gehörte...
- Natürlich hatte auch ich, wied jeder Mensch, meine Fehler, aber im wesentlichen war mir das Schicksal wohlgesonnen. Ich wählte einen Beruf nach meinem Geschmack und legtemeine ganze Seele hinein. Ich habe eine bemerkenswerte Familie, ich schäme mich nicht, den Leuten wegen der Erziehung meiner Kinder in die Augen zu sehen, obwohl wir ihnen natürlich wenig Aufmerksamkeit schenkten. Die Schule stand immer über allem anderen. Unsere Kinder haben uns immer verstanden, haben unsere ständige Geschäftigkeit gesehen und sich darum bemüht, uns nicht zusätzlich mit Problemen zur Last zu fallen. Dennoch glaube ich, dass das Leben nicht umsonst gelebt ist“.
Jekaterina Sergeewna Nasarowa (Kaljamina) wurde am 22. Dezember 1928 im Gebiet Saratow, Tscherkassischer Bezirk, in dem Dorf Minejewka, geboren. In der elterlichen Familie gab es insgesamt sechs Personen: Vater, Mutter und vier Kinder. Für damalige Verhältnisse hatten sie keine große Hofwirtschaft, aber zum Leben reichte es. Sie besaßen auch zehn Bienenstöcke sami Bienen, eine Kuh, ein Kälbchen; nicht einmal ei Pferd hatten die Bauern damals. „Soínd wir etwa Kulaken“ – zweifelt Jekaterina Sergejewna.
Die Familie Kaljamin wurde eines Nachts im Jahre 1933 enteignet. „Wir durften noch nicht einmal die Hostie von der Truhe mitnehmen, - erinnert sich Jekaterina Sergejewna, - vier Beamte kamen zu uns nach Hause: „Los, fertigmachen“, - sagen sie. Am Tor standen schon die Fuhrwerke. Draußen herrschte grimmiger Frost. „Nichts anfassen“, - befahl einer der Behördenvertreter. Die Mutter hüllte die Kinder, die im Bett lagen, in große Schals und führte alle in den Hof. Und da waren bereits fünf örtliche Aktivisten dabei, den ganzen Weizen aus der Scheune zu entwenden. In Kälberwaggons, in denen Typhus grassierte, wurden sie bis an ihren Bestimmungsort gebracht. Viele der Reisegefährten starben während der Fahrt, sie wurden unterwegs einfach aus den Wagen geworfen.
Die Kaljamins trafen im Gebiet Kemerowo, in der Stadt Osinniki ein. „Eine derartige Stadt hatten wir noch nie gesehen – da war nichts als tiefste Taiga!“ – sagt Jekaterina Sergejewna. – Sie gaben uns eine Axt und einen Spaten pro Familie. Lebt, wie ihr es könnt“. Es waren ziemlich viele Familien; außer Russen hatte man auch noch Tataren, Mordwinen und Ukrainer hierher verschleppt. Um irgendwie den Winter zu überstehen, hoben die Menschen Erdhütten aus. Mehrere Personen ließen sich zusammen in so eine Semljanka nieder. Aufgrund des Platzmangels und der miserablen sanitären Verhältnisse brachen unter den Umsiedlern Typhus und Ruhr aus; medizinische Hilfe gab es nicht, sie war einfach nicht vorgesehen.
Alle Umsiedler standen unter der Aufsicht der Kommandantur: jeiden Monat mußte die Mutter sich mit den kleinen Kindern einmal bei den Behördenvertretern melden und registrieren lassen. „Ich gehe dorthin, weine, ich habe Angst, es ist schrecklich dorthin gehen zu müssen. Seit der Zeit habe ich große Angst vor der Miliz, - sagt Jekaterina Sergejewna.
Im Frühjahr bekamen sie zwei Eimer Saatkartoffeln, damit sie sich eine kleine Wirtschaft aufbauen konnten. Aber um mit der Frühjahrssaat überhaupt beginnen zu können, mußten sie erst einmal die Taiga roden. Nach etwa zwei Jahren hatten die menschen sich an alles gewöhnt und eingelebt, sie fingen nun damit an, sich kleibne Katen zu bauen, errichteten eine Grundschule, in der Jekaterina Sergejewna vier Klassen absolvierte.
„Ich erinnere mich, wie sie 1937 in der Nacht, alle Männer von zuhause wegholten auf einen Dampfer brachten und an einen unbekannten Ort verschleppten. Es gab keinerlei Nachrich von ihnen. Bald darauf kehrte einer von ihnen, Kowaltschuk, er war ein hübscher Bursche, zurück und berichtete, dass man auf hoher See die Ladeluken geöffnet hatte und alle ertrunken waren, - erinnert sich Jekaterina Sergejewna.
Mit 14 Jahren nahmen sie Jekaterina Sergejewna an der Betriebsfacachule an; dort machte sie eine dreimonatige Lehre und wurde dann in die Schachtanlagen geschickt. Dort herrschten gruselige Arbeitsbedingungen: Kohle, Feuchtigkeit, das viele Wasser im Stollen – riefen panische Angst in dem Mädchen hervor. Sie zog es vor zu fliehen, versteckte sich in einem Schuppen; kurze Zeit später fand man sie und brachte sie an ihren Arbeitsplatz zurück. Die gesamte Bevölkerung von Osinniki arbeitete im Schacht. Die Arbeiter erhielten jeweils 300 gr Brot pro Tag. Was das genau für Brot sein sollte wußte niemand: mal hatte es die Eienschaft von Lehm, mal war es wie Papier. Sie mußten Türkenbundlilien essen, bevorrateten sich mit Bärlauch, salzten kleingehackte Pflanzen, sammelten Kräuter.
Das Mädchen wollte weiterlernen und machte in der Stadt eine Ausbildung zur Krankenschwester.
1941 wurden alle Krankenschwestern auf den Abtransport an die Front vorbereitet. Alle jungen Männer ab 17 Jahren wurden ebenfalls an die Front geschickt. 1945 beendete Jekaterina Sergejewna die Fachschule und wurde Krankenschwester.
Ihrem zukünftigen Ehemann, Wasilij Dmitriewitsch Nasarow, lernte sie an der Betriebsfachschule in Osinniki kennen. Die beiden waren drei jahre lang befreunet, und lebten danach 57 Jahre miteinander. Jekaterina Sergejewna erinnert sich an ihre Hochzeit: „ Wir kochten Pellkartoffeln und gingen acht Kilometer weit an den Bahngleisen entlang, um uns registrieren zu lassen. Und das Standesamt war nichts weiter als ein ganz gewöhnlicher Schuppen; ohne Trauzeugen – und fertig!“ Jekaterina Sergejewna – Arbeitsveteranin, arbeitete 18 Jahre bei der BAM (Baikal-Amur-Magistrale; Anm. d. Übers.), sie ist Ehrenbauarbeiterin der BAM und eine shr reiche Frau: sie und ihr Ehemann haben drei Kinder großgezogen: 2 Söhne und 1 Tochter. Als sie in Rente ging, zog sie mit ihrem mann in die Siedlung Preobraschenskij um.
Verantwortliche Redakteurin: Natalia Aleksandrowna Gromyko
Twchnischer Redakteur: Denis Aleksandrowitsch Owtschinnikow
Forschungsteam:
Ein herzliches Dankeschön gilt auch dem pädagogischen Kollektiv und den Schülern der Preobraschensker Mittelschule für ihre Hilfe und aktive Mitwirkung bei der Such- und Forschungsarbeit und somit der Entstehung des Buches „Schmerz des Herzens“.
Wir danken unseren Sponsoren für ihre Unterstützung.