Es kam das neue Jahr 1953. Am Morgen des 1. Januar wurden die Häftlinge der BUR, der Baracke mit verschärftem Haftregime, ungewöhnlich spät zum Appell geführt. An den Lagertoren hatten bereits Kolonnen zu jeweils fünf Mann aus den Reihen der politischen Gefangenen der 5. Lagerabteilung des norilsker Gorlag, einem staatlichen Lager mit besonderer Haftordnung, Aufstellung genommen. Die BUR-Brigade, unter ihnen auch ich, Roman Brachtman, stellten sich ans Ende der Formation. Zu uns war das Gerücht vorgedrungen, dass wir auf Etappe in die 4. Lageraußenstelle geschickt werden sollten, dem sogenannten Medstroi (Kupfer-Bauprojekt (Lager); Anm. d. Übers.), wo die politischen Häftlinge eine Kupferverarbeitungsfabrik und Baracken aus Ziegelstein für sich selber errichten sollen. Unsere Kolonne bewegte sich nur langsam voran. Es herrschte ein „schwarzer“ Schneesturm. Es herrschten an die minus vierzig Grad Celsius. Nachdem wir ein paar Kilometer gegangen waren, sahen wir endlich ein paar aus Ziegelstein gebaute, von Stacheldraht eingezäunte, Häuser – die Baracken der 4. Lageraußenstelle. Als man uns in die Wohnzone hineinließ, umringte uns sogleich eine große Menge Häftlinge und bestürmte uns mit Fragen. Ein Gefangener von etwa 30 Jahren kam auf mich zu und stellte sich vor: Max Minz. Ich begriff, dass er Jude war und nannte ebenfalls meinen Namen. Das war meine erste Begegnung mit Max.
In den folgenden wenigen Monaten kamen wir uns, trotz unseres großen Altersunterschieds, noch sehr viel näher. Ich war 21, Max war zehn Jahre älter als ich. In allen Einzelheiten erzählte er mir seine äußerst ungewöhnliche Geschichte. Die Deutschen hatten Max für einen gewöhnlichen russischen Soldaten gehalten und ihn in ein Kriegsgefangenen-Lager geschickt. Max floh aus jenem Lager, wurde erneut aufgegriffen und in ein Lager gebracht, in dem er sich einer Gruppe Kriegsgefangener aus verschiedenen Ländern anschloss, darunter auch belgischen und französischen Kriegsgefangenen. Für Max endete die Flucht mit einer Verhaftung, und er geriet in ein SS-Gefängnis. Max wurde von alliierten Truppen befreit. Er kehrte nach Moskau zurück, wurde jedoch 1947 verhaftet und zu 15 Jahren Haft in Norilsker Lagern verurteilt.
Ich erzählte Max auch meine Geschichte, wie ich mit zwei meiner Klassenkameraden, Michail Margulis und Willi Swjatschewskij, versucht hatte, 1949 die Grenze zur Türkei im Bezirk Batumi zu überwinden, mit dem Ziel, mich nach Israel durchzuschlagen und dort am Befreiungskrieg teilzunehmen. Damals wurden wir auch noch wegen antisowjetischer Agitation und Mitwirkung in einer zionistischen Organisation angeklagt, die aus drei neunzehnjährigen Jungen bestand. Eine Sondersitzung des MGB verurteilte uns zu zehn Jahren Lagerhaft. Ich kam ins Norilsker Gorlag, einer der beiden anderen geriet an die Kolyma, der zweite nach Potma.
Max und ich hatten vollstes Vertrauen zueinander und tauschten unsere äußerst gefährlichen Gedanken stets aus. Wir freuten uns, als wir 1953 die Nachricht von Stalins Tod erfuhren. Im Mai 1953, zwei Monate nach Stalins Ableben, kam es zum Aufstand im Gorlag. Ich glaube, dass dieser Streik der Beginn des langen Aussterbeprozesses des Stalintums war, der noch weitere dreißig Jahre danach zum Zerfall der Sowjetmacht führten. Max und ich wirkten aktiv bei diesem Aufstand mit, dessen wichtigste treibende Kraft West-Ukrainer, Anhänger von Stepan Bandera, waren. Das Aufständischen-Komitee, welches vorwiegend aus Bandera-Leuten bestand, vertraute Max und mir, befahl uns gemeinsam mit Tschabuk Amiredschibi eine Appell an die Gefangenen der 4. Lageraußenstelle zu schreiben und unsere Forderungen darzulegen, zu denen unter anderem auch die Erlaubnis des Briefwechsels mit den Angehörigen, das Entfernen der Häftlingsnummern von der Kleidung, die Überprüfung unserer Fälle, die Abschaffung des Zusperrens der Baracken während der Nacht sowie die Einführung eines Anrechnungssystems und Lohnzahlungen gehörten. Tschabuk Amiredschibi war Abkömmling großer georgischer Fürsten; er war mit einer Etappe aus Karaganda im Gorlag eingetroffen. In den Lagern von Karaganda war schon früher ein Aufstand niedergeschlagen worden, und die Anstifter und Aktivisten hatte man daraufhin nach Norilsk gebracht. Amiredschibi besaß Erfahrung beim Verfassen derartiger Aufrufe.
Wir schrieben also den Appell in deinem Zimmer des Lager-Krankenhauses. Einmal betrat eine Gruppe Bandera-Leute zusammen mit dem Esten Leo Netto, dem Bruder von Igor Netto, den Raum, dem Kapitän der sowjetischen Fußball-Auswahlmannschaft. Leo Netto kannte mich und erklärte den Bandera-Männern, dass wir auf ihrer Seite wären und auf Befehl des Aufständischen-Komitees einen Aufruf schrieben. Als Netto mit den Bandera-Männern gegangen war, setzten wir unsere Arbeit fort. Den Aufruf hängten wir an eine Wand des Lagerpostamtes. Eine Menge Häftlinge versammelten sich um uns, alle lasen das Geschriebene. Eine Kommission des MGB mit Oberst Kusnezow an der Spitze sowie zwei Generälen traf ein. Kusnezow verkündete, dass er sich auf höchstpersönliche Anordnung Lawrentij Pawlowitsch Berijas über die Forderungen der Häftlinge informieren und sie in Moskau vorlegen wolle. Die Gefangenen setzten den Streik fort. In der Nacht zum 9. Juli (präzisere Angaben im Zusammenhang mit dem Norilsker Aufstand siehe im Artikel von A. Makarowa mit dem Titel: „ … Aufstand der Seele – die höchste Erscheinungsform gewaltlosen Widerstands gegen das unmenschliche GULAG-System“ (Bd. 6, S. 8-83). (Anm. d. Red.)). 1953 wurde das Lager von bewaffneten Truppen umstellt. Es war klar, dass ein Angriff auf das Lager vorbereitet wurde, um den Aufstand niederzuschlagen. Aber plötzlich entfernten sich die Soldaten wieder aus der Lagerzone. Nur wenig später erfuhren wir, dass Berija verhaftet und zum Volksfeind erklärt worden war. Die Operation zur Niederschlagung des Aufstands wurde verschoben, allerdings nicht für lange Zeit.
Am 4. August 1953 wurde das Lager erneut von bewaffneten Truppen des MGB umstellt. Die Soldaten durchschnitten den Stacheldraht an mehreren Stellen und drangen in die Lagerzone ein, wobei sie auf die Häftlinge schossen. Wie viele dabei getötet und verwundet wurden – das wurde nicht mitgeteilt. Gerüchten und späteren Erinnerungen zufolge, hörte man die Zahl 250-300. Die Gefangenen wurden unter Wachbegleitung in die Tundra gebracht und dort gezwungen sich auf den Boden zu setzen. Eine Gruppe Offiziere und Generäle sowie ein paar Gefangene, unter ihnen Lew Rudminskij, der seit 1938 eine Haftstrafe verbüßte, und ein Vorarbeiter, gingen durch die Reihen und suchten sich die aktivsten Streikteilnehmer heraus, indem sie mit dem Finger auf sie zeigten. Ich saß in einer der Reihen neben Max und Tschabuk Amiredschibi und blickte auf Rudminskij. Unsere Augen trafen sich. Ich hatte Angst, dass er auch auf mich zeigen würde, aber er schwankte und beschloss dann offensichtlich sich zurück zu halten. Ich erklärte das damit, dass er, der in Feodosia geboren und aufgewachsen war, seit seiner Kindheit meine Eltern gekannt hatte und mich möglicherweise ihretwegen nicht preisgab.
Am nächsten Tag brachten sie uns in die Zone der 4. Lageraußenstelle. An den Wachtoren begann das Aussortieren der Führer und Aktivisten des Aufstands. Mit den Gesichtern zu den Toren gewandt sahen wir, wie links von uns Lager-Denunzianten und Arbeitsanweiser etwa 30 Aktivisten durchprügelten. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit darauf, dass sich unter den Geprügelten auch Jefim Hofman befand, der gar kein Aktivist war, mir aber irgendwie äußerlich ähnelte, und auch sein Familienname klang so ähnlich wie meiner. Ich kam zu dem Entschluss, dass man ihn mit mir verwechselt hatte. Zwei Jahre später entließen sie ihn aus dem Gefängnis und er kam nach Moskau. Wir trafen uns, und er erzählte mir, dass er dem Verhör entnommen hätte, dass sie fälschlicherweise ihn statt mich herausgesucht hatten, aber er ließ damals keinerlei Hinwies auf mich verlauten.
Als wir schließlich an die Reihe kamen, wurden ich und Tschabuk aufgrund von Denunziationen aus der Kolonne herausgerufen; besonders einer namens Karpenko, in dessen Brigade ich einige Zeit gearbeitet hatte, war dabei sehr bemüht gewesen. Tschabuk und ich wurden geschlagen, aber nicht sonderlich heftig; danach brachten sie uns unter Wachbegleitung in die Tundra. Max geriet in die 4. Lagerabteilung, ich und Tschabuk – ins Straflager, wo seit kurzem ein Kriminellen-Lager unter der Bezeichnung „102. Kilometer“, also 102 Kilometer von Norilsk entfernt, untergebracht war. Ein Teil der Häftlinge dieses Lagers wurde bald darauf nach Kolyma und Taischet geschickt. Tschabuk geriet in die Lager von Taischet, ich ins Lager „Sapadnoe“ (das Westliche; Anm. de. Übers.), wo wir in Kohleschächten arbeiteten.
Nach der Freilassung traf ich Max Minz in Moskau wieder. Unsere Freundschaft setzte sich fort: wir kamen häufig zusammen, gingen Pilze suchen oder unternahmen Spaziergänge. Am 29. Mai 1959 reiste ich mit meiner Familie nach Polen aus, später nach Israel und dann in die USA. Max sah ich nie wieder, aber ich erhielt Nachricht über ihn. Mischa Margulis teilte mir Max‘ Tod mit. Ich werde diesem bemerkenswerten Menschen stets ein ehrendes Andenken bewahren.
Aus dem Buch
„In Gefangenschaft bei Hitler und Stalin“,
Jerusalem, 1999