Mitte Oktober 1941, in der Nacht, nach einem kurzfristigen Schusswechsel am Nachmittag, gab die Rote Armee die Stadt Charkow auf. Die Stadt wurde dem Feind offensichtlich allen Ernstes und für lange Zeit überlassen, denn eine Woche zuvor waren in verschiedenen Stadt-bezirken ohrenbetäubende Explosionen zu hören gewesen – Betriebe, Fabriken, große Lebensmittel- und Industriewaren-Geschäfte waren dabei zerstört worden. Gesprengt worden waren auch die Weichen in den Bahnhöfen der Eisenbahnlinien, die Brücken über die schmalen Charkower Flüsschen – mit einem Wort, alles, was für den herannahenden Feind in irgendeiner Form einen Wert darstellen konnte. Gesprengt und anschließend niedergebrannt wurden auch der Südbahnhof, das Zentral-Kaufhaus, die Post, das Gebäude der Verwaltung der südlichen Eisenbahnlinie und vieles andere mehr, was scheinbar von gänzlich zivilem Charakter war.
In der Folgezeit wurde geschrieben, dass all diese Anlagen und Gebäude von der deutschen Armee gesprengt und in Brand gesteckt worden wären, aber das ist eine Lüge, genauso, wie die Beschreibungen über die Zerstörung der Chreschtschatyk-Straße in Kiew erlogen sind. In Deutschland begegnete man Leuten aus Kiew, die bestätigten, dass diese Hauptverkehrsstraße von den Sowjetmächten zerstört wurde. Auch die Behauptung, dass die Fabriken in Saporoschje von den Deutschen gesprengt worden seien, entspricht nicht der Wahrheit, - in Norilsk bin ich Menschen begegnet, welche unmittelbar in die Leitung der Sprengarbeiten an den Hochöfen und anderen Einrichtungen des „Saporoschjer Stahlwerks“ involviert waren.
Beim Verlassen der großen Industriestadt, hatte die Sowjetmacht sich nicht groß mit der Sorge um das Schicksal der zurückbleibenden Bevölkerung gekümmert. Ein Viertel (hauptsächlich Spezialisten unterschiedlichen Profils) wurde zusammen mit den zu evakuierenden Unternehmen abtransportiert, die anderen, welche die überwiegende Mehrheit darstellten, wurden der Willkür des Schicksals und der Gnade des Feindes ausgesetzt. Wie es manchmal vorkommt, wurden diejenigen, die noch versuchten rechtzeitig aus der Stadt zu entkommen, als Panikmacher abgestempelt, jene, denen das nicht mehr gelang, wurden in die Kategorie der Verräter eingeordnet, weil sie freiwillig auf die Seite des Feindes übergelaufen waren.
Meine Familie, bestehend aus dem 52 Jahre alten Vater, Buchhalter von Beruf, der 45-jährigen Mutter, Sekretärin und Maschinenschreiberin, der 17-jährigen Schwester, Schülerin der 9. Klasse, und ich – 20 Jahre alt, Student im 2. Universitätsjahr, wohnte in einem Flügel aus zwei kleinen Zimmern und einer Küche mit Ofenheizung. In die Armee wurde ich aufgrund meiner starken Kurzsichtigkeit 1939 nicht aufgenommen. Die Universität evakuierte ihre Studenten, im Gegensatz zu den meisten technischen Hochschulen, nicht. Wir lebten in ärmlichen Verhältnissen, um nicht zu sagen – in sehr ärmlichen. Die Eltern waren schon nicht mehr jung. Zwei schon erwachsene, studierende Kinder mussten gekleidet, mit Schuhwerk versorgt und ernährt werden. Der Lohn, den die Eltern mit nach Hause brachten, reichte mit Müh und Not für Lebensmittel, aber von Nahrungsvorräten konnte überhaupt keine Rede sein, wenn man den kleinen Sack mit getrocknetem Brot nicht dazu rechnete, den die Mutter in der Vorahnung des herannahenden Unheils gesammelt hatte, und in dem sich Mehlwürmer eingenistet hatten.
Bis zum heutigen Tage herrscht die Meinung, dass der Krieg für die Sowjetunion unerwartet kam und sich das Land deswegen nicht hinreichend darauf vorbereitet hatte. Das ist die nächste große Lüge. Im Verlauf von zweieinhalb Jahren vor Beginn des Krieges wurden im ganzen Land – in vielen Bezirken, Kulturpalästen und auf Versammlungen der Arbeitskollektive – ganz systematisch Vorlesungen über die internationale Lage gehalten. Im Rahmen dieser Vorlesungen (die in der Regel entweder von Militär- oder Parteiführern gehalten wurden) sprach man ganz offen über den nahenden Krieg, seine Unausweichlichkeit. Das Land bereitete sich in rasendem Tempo auf das Kampfgeschehen vor, für ihn arbeitete schon die gesamte Industrie, und auch die Bevölkerung traf Vorbereitungen.
In dem Durcheinander der letzten Tage vor Aufgabe der Stadt begegnete der Vater zufällig einem Lastwagen mit Rotarmisten, in dessen Wagenkasten sich ein paar Schweine befanden. Zu gleichen Teilen mit den Verwandten erstand er ein kleines Wildschwein. Gemeinsam schlachteten wir das Tier, zerteilten es und versteckten das Fleisch auf dem Dachboden; zum Glück war das Wetter so, dass es sich draußen bereits abgekühlt hatte. Auf dem Gehöft befanden sich außerdem auch ein Dutzend Hühner – und das war dann auch schon unsere ganze Verpflegung. Am Morgen kamen Verwandte zu uns in den Flügel gelaufen, um uns vorsorglich zu warnen, dass in der Siedlung bereits Deutsche wären. Nach eineinhalb Stunden bekamen auch wir sie zu Gesicht. Mit lautem „Säbelrasseln“ drangen die Soldaten ohne sich groß zu zieren in die Wohnung ein, um dort nach verborgenen Rotarmisten zu suchen, wobei sie gleichzeitig alles mitnahmen, was ihnen unter die Augen kam und in die Hände fiel. Die Einen gingen, andere kamen, und wir hörten immer wieder dasselbe: „Matka, gib Eier, Matka, gib Hühner, Matka, gib Speck! …“
Am nächsten Tag schlachteten wir all unsere Hühner und versteckten anschließend das Fleisch an einem etwas weiter entfernt gelegen Ort. Neben unserem Gehöft befand sich die Tuberkulose-Fürsorgestelle, in deren Keller sich ein Rotarmist versteckt hielt. Mit Einbruch der Dunkelheit kam er zu uns und bat um ein paar zivile Kleidungsstücke. Wir gaben ihm ein wenig zu essen und nachdem er sich umgezogen hatte, ging er fort. Danach sahen wir ihn nie wieder. Ungeachtet der Tatsache, dass an unseren Schulen ab den 5. Klassen Deutsch unterrichtet wurde, konnten wir die Sprache nur schlecht. Zu meinen Jugendfreundinnen gehörte allerdings auch eine Deutsche – Irina Nikolai. Ihre Eltern waren bereits zu Beginn des Krieges politisch verfolgt worden, und sie verschwanden spurlos. Irina studierte, genau wie ich, an der geologischen Fakultät der Universität. Zum Glück entging sie dem Schicksal ihrer Eltern, wurde aber trotzdem im weiteren Verlauf nach Deutschland getrieben.
Als die Zudringlichkeiten der deutschen Soldaten lästig wurden, schrieb Irina uns auf Deutsch eine Notiz: „Wir sind Arbeiter. Alle Lebensmittel haben wir in Geschäften gekauft. Jetzt sind die Läden geschlossen, und wir haben selber Hunger“. Wir steckten den Deutschen diese Zettel zu, sie nickten mit dem Kopf und gingen. Die Fälle von Plünderungen wurden eingestellt. Als bei einer Bewohnerin der Siedlung einmal ein deutscher Soldat einen für sie wertvollen Gegenstand mitgehen ließ, beschwerte sie sich beim Kommandeur des Truppenteils. Der ließ den Soldaten Aufstellung nehmen, und die Einwohnerin identifizierte den Übeltäter. Der Kommandeur versetzte ihm eigenhändig eine schallende Ohrfeige. Und das, was er mitgenommen hatte, bekam die Frau wieder zurück.
Erheblich unverschämter führten sich die ungarischen Soldaten auf. Die Deutschen konnten ihre Sprache nicht, und so war es viel schwieriger auf sie Einfluss zu nehmen. Diese Typen stöberten gewöhnlich in allen Ecken der Wohnung herum und fanden immer etwas, das sie fortschleppen konnten: mal einen Eimer, mal einen Bindfaden oder sonst irgendeinen brauchbaren Gegenstand. Nach eineinhalb Monaten waren die kümmerlichen Vorräte in unserer Familie zu Ende gegangen. Arbeit gab es praktisch keine, nur gelegentlich boten die Deutschen einem Arbeit beim Be- oder Entladen von Waggons oder der Reparatur von Eisenbahnschienen an, wo die Arbeiter dann, mehr schlecht als recht, durchgefüttert wurden. Aber schon allein das Bewusstsein, dem Feind seine Gunst zu erweisen, stieß uns meist von solchen Angeboten ab.
Der Winter hatte ziemlich früh eingesetzt, er war frostig und schneereich. Der Hunger trieb die Menschen in die umliegenden Dörfer, wo sie versuchten, bei Bauern ihr kümmerliches Hab und Gut gegen Getreide, Brot und andere Lebensmittel einzutauschen. Für gewöhnlich zogen sie paarweise mit Schlitten los, zuerst bis in die nahe gelegenen Dörfer und dann immer weiter und weiter. Leute, die sich auf so eine Fahrt begaben, mussten vorher die schriftliche Erlaubnis der örtlichen deutschen Kommandantur einholen, sonst hätten sie einen bei der ersten Durchsuchung den Partisanen zugeordnet und ohne weiteres Ermittlungsverfahren erschossen. Die deutsche Armee kümmerte sich nicht um die Ernährung der ortsansässigen Bevölkerung. Die Fahrten dauerten stets ziemlich lange – eine Woche, zwei und manchmal auch über einen Monat.
Diebstahl, Raubüberfälle und Nepp innerhalb der Ortsbewohner wurden von den Deutschen auf das Heftigste unterbunden. Leute, die man bei ähnlichen Missetaten ertappt hatte, wurden erschossen oder aufgehängt. Daher durfte man Wohnungen und Häuser auf besetztem Territorium nicht verriegeln oder abschließen. Allerdings gab es dort auch nichts zu stehlen.
Unsere Familie war, wie ich bereits schrieb, arm, wir hatten keinerlei besondere Wertsachen, die für den Tausche gegen Lebensmittel geeignet gewesen wären. Aber ich besaß zumindest geschickte Hände, deswegen nahm ich bereits auf der zweiten oder dritten Fahrt ein wenig simples Werkzeug mit und verdiente mir mit der Reparatur von Uhren und Nähmaschinen, dem Kleben von Überschuhen, dem Löten von Eimern und Töpfen, dem Aufsetzen von Flicken auf abgewetztes Kochgeschirr etwas dazu. Hinterher kehrte ich mit Lebensmitteln nach Hause zurück, ließ alles bei der Familie, ruhte mich ein paar Tage aus und machte mich dann erneut auf den Weg.
Ich musste jedes Mal weiter fahren. Wenn du beim ersten helllichten Tag nicht 40-50 km vorankamst, dann brauchtest du auf einen Erfolg schon nicht mehr hoffen. Vor Neujahr 1942, am Vorabend des deutschen Weihnachtsfestes stellten sie in unserer Wohnung zwei junge deutsche Soldaten auf Posten, die früher Studenten gewesen waren. Soweit die Kenntnisse der deutschen und russischen Sprache es gestatteten, sprachen sie in ihren vertraulichen Unterredungen über die Kriegsgeschehnisse ganz offen in einer missbilligenden Art und Weise, wobei sie sowohl Hitler, als auch Stalin für Übeltäter gleichen Maßstabs hielten. An einen Endsieg in diesem Krieg glaubten sie jedenfalls beide nicht.
Während ihrer Anwesenheit verließ meine Schwester, die sich tagsüber gewöhnlich zu Hause aufhielt, zum Übernachten das Haus. Nach ein paar Tagen bemerkten die Soldaten das und gaben der Mutter gekränkt zu verstehen, dass sie das gut verstehen und ihre Tochter nicht anrühren würden. Zu Weihnachten und zum Neuen Jahr erhielten die Soldaten nicht sehr große Pakete mit Geschenken, die sie mit uns teilten.
Das deutsche Kommando begann für die Arbeit im Hinterland die Bevölkerung der besetzten Bezirke der Sowjetunion zu mobilisieren. Zuerst wurden Freiwillige aufgefordert, danach fing man an, mit Hilfe von Razzien Leute zusammenzusuchen, und in einer solche Razzia geriet irgendwann auch ich. Natürlich wählten sie junge und gesunde Männer und Frauen aus und schickten sie in Zügen mit jeweils 1000 Personen fort. Ich wurde bereits mit dem 30. Zug fortgebracht. Man erlaubte mir die allernötigsten Dinge mitzunehmen. Bis zum heutigen Tage kann ich mich an die leidgeprüften, verweinten Gesichter der Mütter erinnern … Eine lange Trennung stand bevor. Für mich dauerte sie mehr als 14 Jahre.
… An der Bahnstation wurde unsere Gruppe in gewöhnlichen Güterwaggons untergebracht, und ungefähr am Mittag des 6. Juni 1942 setzte sich unser Zug gemächlich in Richtung Westen in Bewegung.
Im Waggon gab es keine Wachen, aber es gab auch keine Fluchtversuche – unsere Papiere befanden sich beim Transportleiter, und ohne sie war es sehr leicht möglich, den Partisanen zugerechnet zu werden.
Unterwegs unterbrach der Zug mitunter für kurze Zeit die Fahrt in der Nähe von Ortschaften; während dieser Zeit gelang es, einen Teil der mitgenommenen Sächelchen bei der Ortsbevölkerung in Lebensmittel umzutauschen. Auf der Reise erhielten wir keinerlei Essen, bis zum ersten Lager hinter der Grenze der ehemaligen UdSSR, wo das Umsteigen auf schmalere Waggons mit europäischer Spurbreite erfolgte. Sie brachten uns in ein Durchgangslager, gaben uns zum ersten Mal Essen und brachten uns in ebensolchen Waggons unter, obwohl sie uns bei der Ankunft im Lager versprochen hatten, dass wir die Fahrt in Passagierwaggons fortsetzen würden.
Vierundzwanzig Stunden später kamen wir in ein in einem südlichen Vorort von Berlin gelegenen Sortierungslager an, wo Besitzer von Fabriken und Betrieben sowie vermögende Bauern sich ihre zukünftigen Arbeitskräfte aussuchten. Die gesamte Charkower Gruppe, die aus 40-50 Personen bestand, holte sich der Besitzer einer Chemiefabrik zur Herstellung von Artillerie-Schießpulver in dem Dorf Dreetz, nahe Neustadt. Früh am Morgen wurde unsere Gruppe, zunächst mit einem Vorortzug und anschließend mit einem Passagierzug, nach Neuruppin gebracht, danach nach Neustadt, von wo aus wir zu Fuß in ein Konzentrationslager nahe der Chemiefabrik geführt wurden.
Beim Umsteigen von der Vorortbahn in den Passagierzug vergaß ich mein Bündel – einen in eine Decke eingewickelten Kochtopf. Erstaunlich, dass mir diese Dinge in Neustadt ein Bote hinterherbrachte und man mir das Vergessene zurückgab. In der Lagerzone des Konzentrationslagers lieferten sie uns gerade zur Zeit des Abmarsches der Häftlinge zur Morgenschicht ab, und unser erster Eindruck waren irgendwelche ungewohnten Klänge, die an das Klackern von Pferdehufen auf dem Straßenpflaster erinnerten. Etwas später stellte sich heraus, dass die Werksarbeiter als spezielles Schuhwerk Holzleisten mit Ledersohlen benutzten, und die ganzen Lagerwege bestanden aus Zement. Das Schlagen der Holzteile auf dem Zement war es auch, das diesen eigentümlichen Klang hervorbrachte. Sie führten unsere Gruppe ins Lager, brachten uns in den Wohnheimen unter, gaben Lebensmittel für den Rest der Woche an uns aus, erklärten uns das Arbeitsregime in der Fabrik sowie Verhaltensmaßregeln im Lager.
Das Lagerterritorium, das unmittelbar an das Fabrikgelände grenzte, lag in
einem dichten Kiefernwäldchen und war von einem lichten (8 x 8 cm), diagonalen
Drahtzaun von zwei Meter Höhe umgeben, auf dem im Abstand von 25-30 cm zwei
Reihen Stacheldraht gespannt waren.
Es gab hier keinerlei Wachtürme mit bewaffneten Wachsoldaten. Man hätte einen
solchen Zaun mühelos überwinden können.
Die Arbeiter des Lagers lebten in einstöckigen, aus Betonschlamm gebauten Häusern (es fällt schwer sie als Baracken zu bezeichnen), die durch eine Trennwand in zwei Hälften unterteilt waren. Jede Hälfte bestand aus zwei Zimmern (das erste war das Durchgangszimmer, das andere – stockdunkel), einem Korridor und einer sanitären Anlage mit Klosettschüssel und Dusche. Unter jedem Gebäude befand sich ein Luftschutzraum mit einer gut abgedichteten Tür und einer besonderen Ventilation – höchstwahrscheinlich für den Brandfall gedacht.
In jedem Zimmer waren fünf zweistöckige Metallbetten aufgestellt, mit einem Netz aus Sprungfedern, einer Matratze, einer Decke, einem Kopfkissen und sogar einem Bettlaken. Am Fenster stand ein Tisch, und zum Aufbewahren persönlicher Sachen war jedem ein Fach in einem Schränkchen zugeteilt worden.
Insgesamt gab es im Lager ungefähr ein Dutzend solcher Gebäude, die etwa 600 Arbeiter fassten. Außerdem befand sich auf dem Lagerterritorium (hinter einem Vorhang) eine offene Küche mit drei Kesseln und einen überdachten Holzbau, der als Kantine und gleichzeitig als Konzertsaal diente. Ein Krankenhaus gab es im Lager nicht, lediglich eine medizinische Versorgungsstelle, die sowohl für die Fabrik als auch für das Lager zuständig war.
Das Verlassen des Lagers erfolgte durch das Eingangsportal der Fabrik, das von Polizei-angehörigen bewacht wurde. Daneben hatte man einen hölzernen Karzer mit künstlich installiertem Belüftungssystem eingerichtet. Für ein paar Stunden musste auch ich aus irgendeinem Grunde dort halb entkleidet sitzen, was nicht angenehm, aber immerhin erträglich war. Die Norilsker Karzer waren um ein Vielfaches schlimmer.
Zur Bewachung von Lagerterritorium und Fabrik, der Einhaltung von Ordnung und Disziplin hatte man Polizeiangehörige zur Verfügung, die aus den Reihen der kriegsuntauglichen „Alten“ ausgewählt worden waren. Morgens liefen sie durch alle Gemeinschaftswohnheime, weckten die Arbeiter (natürlich hatte niemand eine Uhr oder einen Wecker), unterbrachen Kartenspiele, vertrieben mach 22 Uhr die Männer aus den Gemeinschaftswohnungen der Frauen, achteten darauf, dass niemand auf dem Fabrikgelände rauchte, eine Zigarette, Streichhölzer oder andere Dinge zum Feueranzünden mit hereinbrachte. Letzteres half allerdings nicht – es wurde trotzdem geraucht. Auf dem Weg vom Lager bis zur Fabrik fanden nur selten Durchsuchungen statt.
Um sich selber die Arbeit und die Einhaltung von Zucht und Ordnung im Lager zu erleichtern, suchten die Polizeimitarbeiter sich Helfershelfer aus den Reihen der Arbeiter aus und stellten diese von der Fabrikarbeit frei. Sie stammten alle, ohne jede Ausnahme, aus den Gruppen der West-Ukrainer, die schon vor uns dort eingetroffen waren, und es waren etwa 5-7 Mann. Besondere Nachteile ergaben sich durch sie nicht. Sie wohnten mit uns zusammen in den gleichen Zimmern des Wohnheims, und verbrachten auch mit uns ihre Freizeit in den Räumlichkeiten der Frauen. Wenn die Werkspolizei allerdings nach 22 Uhr Überraschungsangriffe auf die Frauenunterkünfte veranstaltete, dann nahm sie sich diese Jungs zur Hilfe: sie wussten schließlich am besten, wo die Männer sich aufhielten, und manch einer be4kam auf seinem Rücken auch die Peitsche zu spüren, wenn es ihm nicht gelang rechtzeitig zu flüchten. Im Übrigen geschah das alles in einer sanftmütigen Art und Weise, und am folgenden Tag wurde alles mit viel Humor erörtert.
Die West-Ukrainer waren viel praktischer veranlagt als wir; sie konnten besser Deutsch und nahmen deswegen auch sofort alle Schlüsselpositionen innerhalb des Lagers ein – Küche, Ausgabe der Essensrationen, Bewachung und ähnliche „vorteilhafte“ Plätze und Aufgaben. Im Wesentlichen waren das Burschen vom Lande, einige von ihnen entstammten der dörflichen Intelligenz. Der Frauenanteil innerhalb dieser Etappe war nach ländlicher Art etwas grobschlächtig veranlagt; deswegen zog es sie sogleich zu den etwas intelligenteren Mädchen aus der Östlichen Ukraine.
Das Kontingent des „Russen“-Lagers bestand hauptsächlich aus Einwohnern der Gebiete Charkow, Saporoschje, Chmelnizkij Stanislaw (heute Iwano-Frankowsk). Außerdem hörte man hier und da Leute sprechen, die aus Kiew, von der Krim oder andern Regionen der Ukraine kamen.
Die West-Ukrainer mochten die Ost-Ukrainer nicht, vorwiegend wegen ihrer Gotteslästerungen und der, ihrer Meinung nach, vollständigen Russifizierung der Sowjets. Bald nach unsere Ankunft kam es im Lager zu einem Handgemenge zwischen Westlichen und Einwohnern des Dor4fes Balabino im Gebiet Saporoschje. Offenbar gingen die Westler als Gewinner aus diesem Streit hervor, wenn man danach urteilt, dass die Herrschaft in der Küche bei ihnen blieb. Ich wurde bei meiner Ankunft in der linken Hälfte des Wohnheims, im Durchgangszimmer, untergebracht. Die andere Hälfte war mit West-Ukrainern belegt. Mein Zimmer war von einem kunterbunten Völkergemisch bewohnt: aus Charkow, Kiew und dem Chmelnitzker Gebiet.
Vor dem Krieg war ich auf eine ukrainische Schule gegangen; ich konnte Ukrainisch genau so gut wie Russisch, und deswegen kam ich auch sofort in Kontakt mit den West-Ukrainern. Der Umgang mit ihnen war für mich von großem Interesse. Von ihnen erfuhr ich so manches über die Geschichte des Freiheitskampfes vor und während des Krieges.
Untereinander gingen sie sehr freundschaftlich miteinander um, kamen oft in Gruppen zusammen und sangen ukrainische Lieder über Themen, in denen es um den Kampf gegen Polen, Deutsche und Sowjets ging.
Am Tag nach unserer Ankunft brachten sie mich, zusammen mit anderen neuen Arbeitskräften, zum Werk und teilten mich als Walzer ein; ich sollte dort mit einem bereits zuvor eingetroffenen Arbeiter an der Walzstraße stehen. Die Tätigkeit war nicht besonders schwierig, und ein einziger Ausbildungstag reichte vollkommen aus, um den Arbeitsprozess zu erlernen.
Die Fabrik gehörte zu einer Reihe erst kürzlich erbauter Werke mit ganz neuer, noch nicht abgenutzter Ausstattung, die aus der Herstellung der Firmen „Krupp“, Siemens & Schuckert“ sowie „Siemens & Halske“ stammten. Zwei Abschnitte waren fertig gebaut, aber benutzt wurde einstweilen nur der eine; im zweiten war niemand am Arbeiten.
Die Fabrik produzierte zwei Arten von Artillerie-Schießpulver: röhrenförmiges schwarzes – das wie Makkaroni aussah und eine Länge von 500-600 mm hatte, und weißes, in der Form von 3 x 3 mm großen Quadraten. Die Technologie der Herstellung war unkompliziert, daher wurde von den Arbeitern keine besondere Qualifikation verlangt.
Das mittels eines Säuregemischs bearbeitete Baumwollmaterial wurde in Nitrozellulose verwandelt, in einer Zentrifuge die Feuchtigkeit herausgepresst und nach dem Entfernen in große Eimer geschüttet. Die Eimer brachte man dann auf Leiterwagen zu den Walzmaschinen und erhielt nach mehrfachem pressen zwischen dampferhitzten Walzen ein ausgetrocknetes Blech von etwa 20 kg Gewicht. Nachdem man dieses Blech zusammengerollt hatte, trug man es zur Kalibrierwalze hinüber; nachdem es dort erneut bearbeitet worden war, entstand eine Rolle mit einem Durchmesser von 150 mm und einer Länge von 500 mm. Diese Rollen brachte man dann zu den Pressen und verwandelte sie mittels Heißpressung in „Makkaroni“, die anschließend noch in maßgerechte Stücke unterschiedlicher Längen geschnitten werden mussten.
Die erhaltene Produktionscharge unterlag einem natürlichen Trocknungsprozess mit ständigem Wenden des Materials; danach wurde es in Kisten verpackt und an Rüstungsfabriken verschickt, wo man es zu Granaten und anderen Projektilen verarbeitete.
Der Fabrik angeschlossen war ein Schießübungsplatz, wo jede Charge durch Schießen auf eine Betonwand auf ihre Qualität überprüft wurde. Anhand der Einschusslöcher wurde die Güte der Produktion bewertet.
Sowohl die Fabrik als auch das Lager waren in einem dichten Kiefernwäldchen
gelegen und dadurch hervorragend getarnt. Es gab sogar Baumbestand auf den
Dächern der Werkshallen.
Wenn man von den Feuerwehrtürmen heruntersah, stellte sich das Fabrikgelände als
geschlossenes grünes Massiv dar. Möglicherweise fiel gerade deshalb in der Zeit
meines Aufenthalts in der Fabrik und im Lager nicht eine einzige Bombe auf
dieses Territorium fiel, wenngleich es zahlreiche zufällige Überflüge von
anglo-amerikanischen Fliegerstaffeln gab, die Berlin und andere Großstädte in
Deutschland bombardiert hatten.
Die Energieversorgung des Betriebs geschah durch zwei Wärmezentralen, die mit Kohlebrennstoff funktionierten, ein Wärmekraftwerk war noch zur Reserve vorhanden. Zwischen allen Betrieben, die durch ihre Produktionstechniken miteinander verbunden waren, hatte man betonierte Wege angelegt, die über ein entsprechendes Gefälle und Wegbiegungen verfügten. Die Produkte wurden zwischen den Betrieben durch von Akkumulatoren betriebene Elektrokarren und kleine Wagen mit Gummirädern transportiert. Ein solcher Zug bestand mitunter aus einem Dutzend Wägelchen, aber bei allen Kurven folgten sie gehorsam dem Elektrokarren.
Das technische Personal bewegte sich innerhalb des Werkes mit Fahrrädern fort, die gelb gestrichen waren. Stellplätze für diese Fahrräder waren an den Knotenpunkten des Betriebs eingerichtet. Irgendwie schickte mich der Meister einmal ans entfernte Ende der Werkshalle und schimpfte bei meiner Rückkehr mit mir, weil ich zu Fuß gegangen war, anstatt das Fahrrad zu benutzen – ich hatte dadurch viel zu viel Zeit verloren.
Das Walzwerk, in dem sie mir einen Arbeitsplatz zugewiesen hatten, war ein längliches Gebäude aus Eisenbeton, das man in fünf Sektionen unterteilt hatte. Im mittleren Bereich standen die Kalibrier-, rechts und links die Modellier-Walzen und jeweils zwei Aggregate. Die geformten Schießpulver-Rollen wurden für gewöhnlich von Arbeitern auf den Schultern zu den Kalibrier-Walzen getragen. Dafür gab es spezielle Aluminium-Tröge, aber niemand benutzte sie, so dass sie verwaist an einem Nagel nahe der Werkbank hingen.
Über jeder der Walzanlagen war ein mit Wasser gefüllter Kippbehälter
installiert.
Beim Entflammen des Pulvers, und das geschah ziemlich häufig, zog der
herausspringende Arbeiter einen speziellen Hebel heraus, der Behälter kippte und
überflutete die Werkbank mitsamt dem brennenden Blech. Nach diesem ersten
Löschvorgang füllte in der Regel niemand den Trog wieder mit Wasser auf, so dass
eine nachfolgend entflammte Rolle durchaus auch einmal vollständig verbrennen
konnte. Übrigens wurde der gesamte Raum auf diese Weise gut gereinigt. Der
Feuersturm blies den ganzen Schmutz aus den hintersten Ecken fort.
Jede Sektion mit Werkbank verfügte zu beiden Seiten über eine Tür und leicht zu öffnende große Fenster. Über der Walzstation, im Dach, befand sich eine großes „Oberlicht“. Beim Aufflammen der Blechplatte öffneten sich Fenster und Türen ganz weit, und alles entwich nach oben durch das „Oberlicht“, wodurch eine Zerstörung des Gebäudes verhindert wurde.
Die periodisch zwischen den auf bis zu 130 Grad erhitzten Walzen rollende Masse verwandelte sich in eine trockene Platte, aus der gegen Ende des Walzvorgangs blauer Qualm aufstieg. In diesem Moment genügte ein einziger Tropfen Schmiere aus den Walzlager, um das Blech zum Auflodern zu bringen – und beide Arbeiter sprangen mit einem Satz aus dem Raum ins Freie und rannten aus Leibeskräften vor den Flammen fort, die ihnen schon auf den Fersen waren. Allerdings kam es nicht immer zum fluchtartigen Verlassen des Arbeitsplatzes … Normalerweise fing das Blech nach Abschluss des Walzvorgangs an zu knistern, und das war das Signal zu äußerster Aufmerksamkeit und Vorsicht.
Häufig erfolgte dieses Aufflammen des Blechs seitens der Arbeiter gar nicht unbeabsichtigt. Schließlich hatten wir begriffen, dass man mit diesem Pulver auch auf unsere Brüder jenseits der Grenze schießen konnte. Daher waren „kleinere Sabotage-Akte“ durchaus nichts Ungewöhnliches. Und wenn sich an den Kalibrierwalzen gleichzeitig bis zu fünf solcher Bleche angesammelt hatten – dann warfen die Arbeiter sie von ihren Schultern auf den Tisch der Walzstraße, und es gab immer irgendeinen, der dann in seine Platte eine kleines Steinchen oder ein Stück Glas steckte. Ein Feuerwerk aus 100-120 Kilogramm Schießpulver – das ist ein schon ein höchst beeindruckendes Schauspiel. Normalerweise schimpfte der deutsche Meister dann immer fürchterlich, erteilte Verweise, beschuldigte die Leute der Sabotage, aber es war praktisch unmöglich, den Schuldigen zu überführen.
Die Brenngeschwindigkeit hing von der Zusammensetzung der Masse ab, mitunter explodierte das Blech einfach nur. Gefährlicher war das weiße Pulver; man walzte es zu dünnen Platten (etwa 1 mm), und es brannte explosionsartig, in einem einzigen Augenblick. Oft gelang es dem Arbeiter nicht, rechtzeitig zurück zu springen, so dass er sich heftige Verbrennungen zuzog. Aus diesem Grund wurden für das Walzen von weißem Pulver als Spezial-Kleidung keine Holzschuhe, sondern leichte, gummierte Schuhe sowie Lederjacken ausgegeben. Ich kann mich auch noch an einen weiteren "Sabotageakt" erinnern.
In eine der neuen Pulversorten musste man in der Mitte des Walzvorgangs aus einem Papiersack etwa ein halbes Kilogramm eines anderen Pülverchens hinzuschütten. Die Arbeiter stellten schnell fest, dass die Formung ohne diese Zugabe viel schneller von statten ging, und wenn der Meister gerade nicht anwesend war, wanderte das Pülverchen kurzerhand in die Kanalisation. Im Endergebnis wurde die ganze Charge Schießpulver nach der Erprobung auf dem Schießplatz als unbrauchbar ausgemustert. Wie immer war es unmöglich die Schuldigen zu ermitteln, denn Pulver wurde in insgesamt fünf Fabriken gewalzt. In unserem Lande hätten sie die Verursacher allerdings schnell gefunden oder unter Umständen sogar die gesamte Schicht erschossen. Aber hier ging es irgendwie ohne Bestrafung ab. Vielleicht auch deswegen, weil an den Walzstationen häufig auch deutsche Arbeiter tätig waren, die nicht an die Front geholt worden waren.
Die Beziehungen zwischen deutschen und russischen Arbeitern waren wohlwollend, mitunter wurde sogar gemeinsam die „Internationale“ gesungen – die Deutschen kannten sie besser als wir.. Aber wesentlich helfen konnten sie uns nicht, denn sie holten sich ihr Essen selber aus der Werkskantine, erhielten Lebensmittel auf Marken und hatten nichts Überflüssiges abzugeben.
Die Fabrik arbeitete in zwei Schichten zu je neun Stunden: die erste Schicht von 6 bis 15 Uhr, die zweite von 15 bis 24 Uhr. Die zweite Schicht war attraktiver. Zum Einen musste man nicht früh aufstehen, zum Zweiten gab es nachts häufig Fliegeralarm – angloamerikanische Flugzeuge flogen über die Fabrik hinweg. Um nicht die Aufmerksamkeit der herannahenden Flieger durch die Flammen des brennenden Pulvers anzuziehen, unterbrach das Werk dann die Arbeit, die Leute begaben sich in den Luftschutzraum, bis der Alarm aufgehoben wurde, und die dunkelblaue Außenbeleuchtung, die so schon schwach genug war – wurde ausgeschaltet. Darauf, dass man die Produktionsverluste durch Verlängerung der Schicht ersetzen konnte – darauf kamen die Deutschen nicht.
Nach Ankunft in der Fabrik wurde jeder von uns fotografiert und bekam einen Ausweis ausgestellt, der gleichzeitig auch als Identitätsnachweis diente. Bei diesem Ausweis handelte es sich um eine Zelluloidplatte von 5 x 8 cm Größe, in welche das Foto und ein Blatt mit der vergebenen Nummer und den wichtigsten Angaben hineingepresst war: Nachname, Vorname, Geburtsjahr, Arbeitsbereich und Beruf.
Beim Arbeitsausgang wurde der Ausweis an den Meister abgegeben, bei Schichtende bekam der Arbeiter ihn wieder zurück. Nach diesem Ausweis wurden auch die Lebensmittelkarten ausgeteilt und zweimal im Monat ein geringer Arbeitslohn gezahlt.
Praktisch zweimal im Monat (manchmal auch nur einmal) gab es einen freien Tag. Zweimal im Jahr – eine Woche Urlaub; in dieser Zeit wurden an den Maschinen Reparaturarbeiten ausgeführt. Als Walzarbeiter waren in der Regel Männer beschäftigt, denn diese Tätigkeit galt als körperliche Schwerarbeit. Die Frauen arbeiteten als Presserinnen und Trocknerinnen oder bedienten die Elektrokarren. Nach und nach wurden aber auch ein Mann und eine Frau paarweise zur Arbeit an den Walzen eingeteilt.
Die Arbeitsnorm wurde vom Meister in Abhängigkeit von der Produktionsart
festgelegt. Im allgemeinen war sie nicht so streng, wir erfüllten sie immer zur
festgelegten Zeit. Am Ende der Schicht wurde jede Werkbank vollständig
aufgeräumt hinterlassen.
Auch die Maschinen in der Fabrik und dem Firmenterritorium wurden äußerst sauber
gehalten, darauf achtete der Obermeister.
Ab und an wurde an den freien Tagen eine Reinigung des Fabrikterritoriums organisiert, die sich zumeist über den halben Tag erstreckte. Dafür stand einem im Lager eine Zusatzportion der üblichen Lagerbrühe zu.
Die Verpflegung der Arbeiter die aus der Union kamen, war sehr spärlich. Als ich allerdings im weiteren Verlauf von den Lebens- und Arbeitsbedingungen an den evakuierten Unternehmen unseres Landes erfuhr, da kam ich zu dem Schluss, dass die sowjetischen Sklaven in Deutschland ein wenig besser lebten, als in ihrer eigenen Heimat.
Die Lebensmittelration wurde zweimal die Woche nach Marken ausgegeben; mittwochs und samstags. Sie bestand aus einem halben Laib Brot (etwa 600 g), 25 g Margarine, 50 g Wurst und einem Esslöffel Marmelade. Am Morgen bekam man Tee oder Kaffee unbekannten Inhalts, der gelegentlich leicht gesüßt war. Während des Mittagessens im Lager oder der Arbeitspause sowie abends wurde eine Schüssel mit Brühe ausgegeben. Diese Suppe rief bei den Arbeitern höchste Erbitterung und Wut hervor.
Gekocht wurde sie aus Steckrüben unter Beimischung einiger Kartoffelstückchen und der Zugabe von Mehl fragwürdiger Qualität. Manchmal war sie so dünnflüssig, dass überhaupt kein Löffel erforderlich war, um sie zu essen – man trank sie einfach aus der Schüssel, als wäre es Wasser.
In der Lagerküche erhielt der Zimmer-Diensthabende die Suppe auf Marken in einem Eimer, er verteilte sie anschließend im Zimmer auf die einzelnen Schüsseln.
Auf der Arbeit wurde die Suppe in einem großen Behälter mit einem Karren gebracht, und während der Mittagspause fuhr der Meister sie dann zu den einzelnen Werkstätten und füllte sie mit einer Kelle in die Schüsseln.
Nach der Ausgabe gemäß Marken und der erfolgten Austeilung in der letzten Werkstatt, war im Behälter meist noch eine kleiner Rest zurückgeblieben; die Arbeiter baten dann um einen Nachschlag. In der Regel bildete sich dann ein kleiner Haufen Leute, der Meister ließ den Behälter samt Suppenkelle stehen, sprang vom Karren hinunter, und im Nu verwandelte sich der Kessel inmitten der Arbeitermenge in einen Tennisball; jeder versuchte mit Hand und Schale heranzukommen, um sich noch ein wenig Brühe einzufüllen. Einerseits war der Anblick irgendwie zum Lachen, andererseits – mitleiderregend.
Wenn die Arbeiter ihre Ration am Mittwoch oder Sonnabend im Lager erhalten hatten, aßen die meisten von ihnen sie sofort vollständig auf und lebten die restlichen Tage nur von der wässrigen Suppe.
Gegen Ende 1943 wurde die Verpflegung dermaßen schlecht, dass die Walzer sich ohne jegliche Vorankündigung zum Streik entschlossen. Sie begaben sich zwar an ihre Arbeitsplätze, weigerten sich jedoch dort ihre Arbeit aufzunehmen.
Nach einiger Zeit traf in der Fabrik die vom Besitzer herbeigerufene Gendarmerie ein, die sich aus SS-Leuten zusammensetzte; nach einem kurzen Verweis zogen die Gendarmen ihre Pistolen aus den Revolvertaschen. Bis drei mussten sie gar nicht erst zählen – da hatten die Arbeiter mit ihrer Arbeit auch schon begonnen. Und am nächsten Tag war die Verpflegung ein wenig besser. Die Anstifter wurden nicht gesucht, und es gab sie ja auch gar nicht: alles war ganz spontan geschehen.
Ein Streik zu Kriegszeiten in einer Rüstungsfabrik des Feindes ?! Womit ähnliche Erscheinungen selbst zu Friedenszeiten enden können, kann man erfahren, wenn man sich für die Ereignisse in Norilsk (1953), Kengir (1954) und Nowotscherkassk (1962) interessiert, auch wenn das noch nicht alle sind..
Ganz unverhofft kamen unsere Burschen einem „Ess-Platz“ auf die Spur. Die Fabrik lag zwischen Dörfern, und hinter der Einzäunung des Werkes wurden Kartoffelmieten entdeckt, die mit Erde abgedeckt waren. Die Werkseinzäunung zu überwinden war nicht schwierig, und während der Nachtschicht, wenn einer der Arbeitspartner an der Werkbank blieb und die Arbeitsnorm für Zwei erfüllte, ging der andere mutig auf die Jagd. Sie kochten die Kartoffeln sofort in der Fabrik, in Dampffässern, die sonst eigentlich zum Erhitzen von Pulverresten verwendet wurden, die man von den Pressen hergebracht hatte. Gott sei Dank gab es in der Fabrik genügend Salz.
Bald darauf entdeckten die Bauern und Eigentümer der Kartoffeln den Diebstahl und beschwerten sich beim Fabrikbesitzer. Das Aufgebot an Wachen wurde verstärkt, zu ihrer Unterstützung wurden Wachhunde mit herangezogen, die so manchen Burschen ziemlich übel zurichteten. Aber der Hunger trieb die Leute durch den Zaun, ungeachtet aller Gefahren.
Damals kamen die Bauern zum Direktor und kündigten an, dass sie schießen würden, worauf der Direktor ihnen zur Antwort gab: „Bitte, schießen Sie ruhig. Aber wenn Sie mir auch nur einen einzigen Arbeiter verwunden oder sogar töten, dann werden Sie an seiner Stelle an der Werkbank stehen …“
Im Frühjahr und Sommer 1944, nach der Rede General Wlassows, in der er alle Freiwilligen dazu aufrief, der ROA („Russische Befreiungsarmee“) beizutreten, wurde die Verpflegung der Arbeiter etwas besser. In der Fabrik tauchten Agitatoren der ROA auf, und einige Arbeiter reichten Gesuche ein, in der Hoffnung, dass sie bei erstbester Gelegenheit zu den Ihren überlaufen könnten. Die Armen! Wenn sie gewusst hätten, wie man mit solchen Überläufern verfährt!
Im Frühjahr und Sommer boten die Bauern der umliegenden Dörfer den Fabrikarbeitern an, sich an ihren freien Tagen auf den Feldern etwas hinzu zu verdienen. Es gab genügend Freiwillige. Allerdings waren nicht alle Bauernbei der Bezahlung freigebig, und schon bald darauf wussten die Arbeiter ganz genau, bei wem sie arbeiten wollten und bei wem es sich nicht lohnte, weil dieser knauserig und habgierig war.
Zweimal im Monat erhielten wir einen geringen Lohn ausbezahlt (ich kann mich erinnern, dass ich 35-40 Mark erhielt), aber man konnte sich fast nichts dafür kaufen – es gab keinen Verkaufsstand im Lager. Hauptsächlich wurde das Geld für Bier ausgegeben; es wurde vor allem während des Winter- und Sommerurlaubs in Fässern gekauft. Das Bier war praktisch alkoholfrei, aber die Deutschen konnten selbst bei einem solchen Bier den halben Tag vor einem einzigen Glas sitzen. Wir konnten davon, zur Verwunderung der Deutschen, mehrere Gläser trinken.
Mitunter ließ man uns an den Sonntagen zum Spaziergang ins nahegelegene Dorf gehen, wo es einen kleinen Laden gab, in dem man ohne Marken „Kaschanka“, ein Brei-Tierblut-Gemisch kaufen konnte. Mehr als ein halbes Kilo gaben sie allerdings davon nicht aus, aber auch das war nicht schlecht, denn es war immerhin ein Zusatz zur Lagerverpflegung.
Bei Tabakwaren herrschte ein großes Defizit. Das was man im Lager bekam reichte weder für die Deutschen noch für uns.
Trotz des Verbots wurde in der Fabrik an verborgenen Stellen geraucht. Feuer beschaffte man sich, in dem man das als „Makkaroni“ geformte Schießpulver an eine Muffe des Elektromotors drückte, das nach ein paar Sekunden mit einem durchdringenden Gewinsel aufloderte. Allerdings war diese Methode weithin hörbar, so dass der Meister unseren Trick schnell herausbekam. Nach einer anderen Verfahrensweise wurde ein Steinchen in einen kleinen Holzklotz gepresst, was dann wie ein zerbrochener Pfriem aussah und bei der Durchsuchung überhaupt nicht auffiel. Durch Reibung eines Stückchens Glas am Feuerstein stoben Funken auf den kleinen Pulverhaufen und entflammten ihn.
Der Ober-Ingenieur der Fabrik, ebenfalls Raucher, fuhr heimlich an den Drahtzaun heran, zwängte seine Hände mit Streichhölzern und Zigarette durch die Öffnungen und rauchte dann hinter dem Zaun, so dass er auf diese Weise die Regeln nicht verletzte.
Zur gewöhnlichen Lagerkleidung gehörte neben den Sachen, die man von Zuhause mitgebracht hatte, ein Arbeitsanzug, der aus Baumwollhemd und Hose bestand. Auf der linken Ärmelseite war mit einem roten Faden die Nummer des Arbeiters aufgenäht (ich hatte die 1390). Da die Arbeit eine sehr saubere war, musste man die Sachen nicht oft waschen, zumal die ausgegebene Seife eher einem Stück vertrockneten Lehms ähnelte – sie schäumte nicht. Geholfen hat uns dann Soda, das wir aus der Fabrik mitbrachten.
Ein paarmal wurde Kleidung ins Lager gebracht – Hemden, Hosen, Kleider; man hatte sie offenbar Verhafteten weggenommen, die in Vernichtungslager gekommen waren. Wie üblich, wurden die Sachen alle auf einen großen Haufen geworfen; ich selber suchte mir nicht ein einziges Mal etwas davon aus, sondern begnügte mich mit dem, was ich von Zuhause mitgebracht hatte.
Als Schuhwerk dienten Holzleisten mit Ledersocken. Es war schwierig damit zu gehen, wenn man es nicht gewohnt war, aber schon bald konnten wir damit sogar schnell laufen. Wenn in der Fabrik die Schießpulverrollen anfingen zu glühen, dann flogen in er Regel zuerst die Holzschuhe ins Freie, und dann rannte derjenige hinaus, dem sie gehörten.
Im Herbst 1943 brachten sie ausgehöhlte, holländische Holzschuhe ins Lager. Im Winter waren sie wärmer als die Leisten, die wir zuvor getragen hatten, aber auch sie waren unbequem, und keiner mochte sie anziehen. Um die Arbeiter doch dazu zu überreden, fuhr der Obermeister mehrere Tage mit seinem Fahrrad über das Fabrikgelände, wobei er diese Holzschuhe anhatte. Aber wir zogen sie trotzdem nicht an.
In allen Lagerwohnheimen gab es Radiosendungen in deutscher Sprache. Wir hörten hauptsächlich Musik und Berichte über die Lage im Luftraum über Deutschland. Diese Nachrichten wurden zu Beginn jeder vollen Stunde übertragen. Bei Luftangriffen wurden der Flugzeugtyp und die Flugrichtung mitgeteilt. Wenn im ersten die Information erfolgte: „Über staatlichem Territorium befindet sich kein einziges feindliches Flugzeug“, so wurde im weiteren Verlauf der Ereignisse das Wort „Flugzeug“ durch den Begriff „Kampfeinheiten“ ersetzt, denn ab 1944 flogen ständig anglo-amerikanische Flugzeuge über Deutschland.
Was Zeitungen betraf, so waren im Lager die Weißemigranten-Zeitung „Neues Wort“ sowie eine ukrainische Zeitung verbreitet, deren Namen ich vergessen habe. Aus ihnen schöpften wir natürlich tendenzielle Informationen über die Lage an den Fronten, das Zurückweichen der deutschen Armee „im Rahmen einer planmäßigen Verkürzung der Frontlinien“.
Unter den Arbeitern unseres Lagers fand sich ein guter Akkordeonspieler. Auf gemeinsame Kosten erstanden wir ein kleines Akkordeon, und organisierten dann abends und freien Tagen in der Kantine Tanzveranstaltungen. Mitunter zeigte man uns auch Kinofilme in deutscher Sprache, und einmal sogar einen Film (offenbar ein Emigrantenfilm) auf Russisch über die Zeit des Bürgerkriegs in Russland. Als Kinosaal diente die deutsche Kantine mit Konzertestrade; dort ließen sie uns abends zu den Filmvorführungen hinein.
Bereits im Jahre 1944 wurde aus den Reihen ehemaliger Stadtbewohner des Lagers eine kleine Gruppe gegründet, die sich der Amateurkunst widmete. Sie erinnerten sich an das Alte, dachten sich selber etwas aus, inszenierten kleinere Aufführungen und sangen Lieder. Für diese Veranstaltungen stellten die Deutschen uns ebenfalls den deutschen Kantinenraum zur Verfügung.
Vieles wussten wir nicht – und es war nicht das Alter, was uns naiv sein ließ. So gab es in einer der Aufführungen eine Szene aus dem Leben in einem Zigeunerlager – mit all seinen Liedern und Tänzen. Dumm wie wir waren hatten wir keinerlei Ahnung davon, dass die Deutschen die Zigeuner ebenso vernichteten wie die Juden.
Das zweite Vergehen war das Singen des eindeutig tendenzgeladenen ukrainischen Liedes „Sakuwala ta siwa sosulja…“. In den sowjetischen Konzentrationslagern stellten solche Veranstaltungen keine besonderen Brennpunkte dar. Offenbar gab es dort entweder gar keine ideologische Beaufsichtigung oder sie wurde sehr locker gehandhabt.
Im Lager behielten sie nur körperlich gesunde Arbeiter. Kranke mit unheilbaren Erkrankungen (festgestellt wurde das von einer medizinischen Kommission) kamen in ein Vernichtungslager, von dort kam niemand mehr zurück.
In ein solches Lager geriet auch unser Wirtschafsleiter Mitrofan, der aus den Reihen der West-Ukrainer stammte. Er klagte immer über Schmerzen in seinem Magen, in der Hoffnung, dass man ihn im städtischen Krankenhaus gesund pflegen würde. Auch ein Bauingenieur aus Charkow geriet in ein derartiges Lager. Zusammen mit seinem Sohn hatten sie ihn nach Deutschland vertrieben und ihn, ebenfalls mit seinem Sohn, ins Vernichtungslager gebracht, - offenbar hatte der Sohn sich geweigert, sich von seinem Vater loszusagen.
Trotz des freien Umgangs zwischen Männern und Frauen gab es im Lager so gut wie keine Schwangerschaften. Allerdings ereignete sich eine Kindsgeburt bei der „Frau“ des Leiters der Lagerpolizei, dem West-Ukrainer Iwan Lischuk. Man teilte ihm ein kleines Zimmerchen zu, in dem diese einzige Familie im Lager dann wohnte.
Mitunter kamen Vokalmusik-Ensemble zu uns zu Besuch ins Lager, die sich aus Künstlern verschiedener Lager formiert hatten. Sie hatten einen größeren Kontaktkreis, und deswegen brachten sie uns glaubwürdigere Informationen über die Lage an den Fronten mit.
Der Frontring zog sich nach der Landung der Alliierten unerbittlich immer mehr zusammen. Die Flächenbombardierungen Berlins gehörten schon fast zum Alltagsgeschehen. Aus westlicher Richtung des Lagers konnte man bereits Artillerie-Kanonaden hören – die Verbündeten näherten sich der Elbe.
Im Frühjahr 1944 gelang es mir, aus der Walzerei in eine Filiale der Firma „Siemens & Halske“ umzuziehen, die sich mit der Reparatur und der Nutzung von Schwachstrom-Ausrüstungen befasste – Uhren, Telefonen, Radiogeräten.
In unserer Gruppe waren wir vier: der Meister, ein Deutscher, Fernmelde-Ingenieur von Beruf, der hervorragend Französisch konnte; ein Uhrmacher – ebenfalls Deutscher; ein Elektroschlosser, Franzose, und ich, ein ehemaliger Funkamateur, der sich mit Schaltplänen für elektrische Leitungen auskannte.
Wir warteten sämtliche Apparaturen in der Fabrik und den umliegenden Dörfern, wobei wir stets mit Fahrrädern dorthin fuhren. Jetzt hing über mir schon nicht mehr die zu erfüllende Arbeitsnorm, und ich erhielt die Erlaubnis, mich zu jeder beliebigen Zeit ungehindert außerhalb des Lagerterritoriums und des Fabrikgeländes zu bewegen. Von besonderem Wert war die Möglichkeit, die deutsche Kantine aufzusuchen, auf deren Tischen nach dem Mittagessen Speisen übrigblieben, welche dem vorherigen Esser aus irgendwelchen Gründen nicht gefallen hatten. Mir kamen sie ganz wunderbar zupass….
Bei der Installation oder Reparatur von Telefonen und Rundfunkgeräten bei den Bauern im Dorf bekamen wir immer ein gutes Mittagessen, mitunter gaben sie uns auch Brot.
Einmal richteten der Uhrmacher und ich ein Telefon beim Förster ein. Am Ende der Arbeiten zwinkerte der Uhrmacher mir zu und verkündete leise, dass wir heute gebratenes Schweinefleisch bekommen würden. Und tatsächlich – der Förster ließ sich keineswegs lumpen.
Das neue Jahr 1944 durften wir ebenfalls in der deutschen Küche feiern - unter der Aufsicht der stellvertretenden Leiterin unseres Lagers, einer äußerst sympathischen und freundlichen Deutschen.
Man fühlte bereits das nahende Kriegsende, die allgemeine Stimmung verbesserte sich. Essen und Trinken gab es natürlich nicht. Wir bereiteten eine kleine Aufführung vor, tanzten, spielten „Post“. Es ging fröhlich zu – und niemand erwartete mehr irgendetwas Schlechtes.
Die viel gerühmte deutsche „Ordnung“ zerbrach vor aller Augen. Immer häufiger flo0hen Arbeiter aus dem Lager. Bei der Kontrolle sah man, dass die von zwei Seiten in die Mangel genommene deutsche Bevölkerung, in einen Zustand der Brownschen Bewegung (gemeint ist im übertragenen Sinne die Brownsche Molekularbewegung; Anm. d. Übers.) verfiel. Ein- und dieselben Menschen fuhren mit ihrem Gepäck mal von West nach Ost, mal von Ost nach West. Was da vor sich ging – war schwer zu verstehen.
Ein paar Tage später, nach Neujahr, wurde ich völlig unerwartet zusammen mit einer nicht sehr großen Gruppe Arbeiter mit Sachen herausgerufen und mit einem Auto irgendwohin gebracht. Wir fuhren mehrere Stunden durch das vollkommen zerstörte Berlin gen Osten. Gegen Mittag näherten wir uns einer großen Stadt, an deren Einfahrt ein Schild mit der Aufschrift „Eberswalde“ stand. Der Wagen hielt neben der Zufahrt zu einem großen, in einer waldlosen Niederung gelegenen Lager.
Unsere Übergabe dauerte nicht lange; sie brachten mich in dem kleinen Zimmer (für vier Personen) einer Holzbaracke unter und sagten, dass ich als Elektromonteur in der Waggon-Reparaturwerkstatt arbeiten sollte.
In diesem Konzentrationslager herrschte eine schlimmere Lagerordnung als in dem Lager davor. Ich verlor sämtliche Verpflegungsvorteile im neuen Lager – wieder gab es nur diese Lagerbrühe. Die übrige Ration unterschied sich nicht von der im vorherigen Lager.
Alle Baracken hier waren aus Holz gebaut, innen ausgestattet mit zweistöckigen Holzpritschen und strohgefüllten Matratzen, zumeist ohne Wolldecken.
Die Lagerbevölkerung bestand aus Personen, die von russischem Territorium vertrieben worden waren: aus der Umgebung von Leningrad und Kalinin. Ukrainisch hörte ich hier niemanden reden. Wie es auch früher schon der Fall gewesen war, gab es im Lager Männer- und Frauenbaracken, allerdings sah es in ihnen erheblich schmutziger aus.
Ich schaute mich flüchtig im Klubhaus um – auf der Estrade stand eine große Trommel mit Becken. Man erklärte mir, dass hier an den freien Tagen Tanzveranstaltungen stattfinden würden.
In den Baracken gab es keinerlei sanitäre Einrichtungen; wir wuschen uns im Badehaus oder in den Duschräumen der Fabrik. Die Toilette wurde von allen benutzt – eine Grube, eine Art Plumpsklosett.
Ich unterhielt mich mit meinen Zimmernachbarn, Leningradern, und erfuhr, dass die Disziplin bereits gelockert worden war, aber der Arbeit durfte man auf keinen Fall aus dem Weg gehen – dafür wurde man ausgepeitscht.
Die russischen Truppen standen bereits an der Oder, 25 km von der Stadt entfernt. In die Fabrik wurden keine Waggons zur Reparatur gebracht, sondern beträchtlich angeschlagene Panzer. An der Werkstattwand hing eine Karte Deutschlands mit von den Deutschen eingezeichneten Frontlinien, allerdings mochten die Deutschen es nicht, wenn die Russen sich lange neben ihnen aufhielten und sie ansahen. Einmal stieß mein Meister, als er gerade neben der Karte stand, mit Bitterkeit in der Stimme hervor: „Oh, großes Deutschland, wie klein bist du geworden! …“ Ich lächelte nicht ohne einen Anflug von Schadenfreude – es näherte sich die Vergeltung für all das, was sie uns angetan hatten.
Einmal befahl mir der Meister einen Arbeiter ins Krankenhaus zu bringen, der sich die Hand verletzt hatte. Wir kamen dort an und stellten uns vor der Abteilung Traumatologie in die Warteschlange. Plötzlich drängelte sich irgendein unverschämter Mensch von einem Deutschen an der ganzen Schlange vorbei. Eine bereits etwas betagte deutsche Frau sagte vorwurfsvoll zu ihm, er solle sich, wie alle anderen auch, ans Ende der Warteschlange stellen. Aber der knurrte drohen, dass das doch alles bloß Russen wären … „Na und, - meinte die Deutsche, - die Russen sind auch Menschen“. Nach dieser Erwiderung trat der Flegel den Rückzug an.
In der Nacht zum 24. April forcierte die Rote Armee ihren Vormarsch in Richtung Oder und eroberte die Stadt nach erbitterten Artilleriekämpfen und dem Beschuss mit Granatwerfern.
Während der Beschießung verbargen sich die Lagerbewohner in primitiven Luftschutzräumen – Gräben, die mit Betonplatten abgedeckt waren. Das Lager wurde mit Granatwerfen (möglicherweise „Katjuschas“) und Splittergeschossen bombardiert.
Eine unserer Frauen wurde von einer Mine getötet, als sie versuchte, von einem Graben in den anderen zu wechseln; die Mine explodierte nur wenige Meter von ihr entfernt. Weitere Opfer gab es nicht.
Gegen Abend verstummte die Schießerei, und im Lager trafen unsere Soldaten ein. Nach einer freudigen Begrüßung sagten di9e Soldaten, dass wir im Lager übernachten und uns am nächsten Morgen zum Sammelpunkt begeben sollten, von wo aus wir in die Heimat verschickt würden. Dabei ließen sie die Bemerkung fallen, dass wir vor unserer Abfahrt nach Hause noch einmal überprüfen würden.
Dieses Wort „überprüfen“ machte uns ein wenig stutzig, aber keiner von uns fühlte sich in irgendeiner Weise schuldig.
Im Lager blieb natürlich niemand, die Menschen zerstreuten sich in der Stadt, um in den Kellern der Häuser nach Essbarem zu suchen.
Die deutsche Bevölkerung hatte die Stadt beim Heulen der Sirenen verlassen und dabei auf den Tischen alles an Essen und Getränken zurückgelassen, was sie in der Eile nicht mehr mitnehmen konnten. Die Stadt war wie leergefegt. Nachdem ich einer der luxuriösen Wohnungen eines großen Hauses übernachtet hatte, nahm ich am Morgen den Sack mit meinen Sachen und machte mich auf die Suche nach dem Sammelpunkt.
Unterwegs traf ich einen Rotarmisten, und wir kamen ins Gespräch. Da ich sehr gut gekleidet war (als ich das Lager verließ, hatte ich meine ganzen Sachen von Zuhause angezogen), gab er mir den Rat, eine rote Binde über die Ärmel zu ziehen, sonst würde man mich womöglich noch für einen Deutschen halten und auf jeden Fall erschießen. Das tat ich auch und setzte dann meinen Weg fort.
Ich fragte mehrere Soldaten, wo sich der Sammelpunkt befände, aber keiner von ihnen wusste es.
In einer der Straßen riefen mich aus einer höheren Etage ein paar Mädchen, die ich aus dem Lager kannte, mit meinem Namen an. Der Hauseingang befand sich hinter einer Ecke. Nachdem ich herumgegangen war, wollte ich auf die Tür zugehen, wurde jedoch von einem bewaffneten Soldaten angehalten, der mir sagte, dass ich hier falsch wäre, und mich dann zum Gebäude gegenüber schickte. Vor der Tür stand ebenfalls ein bewaffneter Soldat, der mich hinein ließ.
Nachdem ich durch alle Räume gegangen war, in denen sich bereits einige Russen wie ich befanden, schaute ich mich genauer um und bemerkte, dass alle Ausgänge aus den Wohnungen gesperrt waren. In Erwartung der weiteren Ereignisse setzte ich mich in der Nähe eines Fensters nieder.
… Nach eineinhalb Stunden betrat ein Rotarmist den Raum, ging geradewegs auf mich zu und befahl mir ihm zu folgen. Ohne irgendetwas zu ahnen oder zu argwöhnen ging ich ihm hinterher. Man führte mich zu demselben Vorbau, den ich am Morgen nicht hatte betreten dürfen, und der Begleitsoldat brachte mich in ein Zimmer, wo an einem Tisch ein Offizier im Leutnantsrang saß.
Der Leutnant bat mich auf einem Stuhl Platz zu nehmen, fragte nach meinem Nach-, Vor- und Vatersnamen, meinem Geburtsjahr und dem Lager, in dem ich gewesen war, notierte sich alles und stellte mir dann, während er mich unverwandt ansah, die Frage: „Dann bekennen Sie sich also vor Ihrer Heimat schuldig?“
Diese Frage kam vollkommen unerwartet, wie alle Ereignisse an diesem Morgen, so dass ich ganz naiv zurückfragte, von welcher Schuld hier eigentlich die Rede sei.
Ein mörderischer, professionell ausgeführter Schlag traf mich am Hinterkopf, im Bereich des rechten Ohrs, und ließ mich zu Boden sinken.
Als ich das Bewusstsein wiedererlangt hatte, begriff ich: nun würde die nächste Etappe meines Umherirrens in Kummer und Elend beginnen – das war die Spionageabwehrorganisation „Smersch“ (Abkürzung für „Tod den Spionen“; Anm. d. Übers.) der 61. Armee der 1. Weißrussischen Front.
Bei der Beschreibung dessen, was mit mir in diesem bestimmten Zeitraum geschah, habe ich keineswegs versucht die Ereignisse weiß oder schwarz zu malen, sondern lediglich ganz objektiv und in chronologischer Reihenfolge das dargestellt, was ich durchmachen musste.
Inwieweit mir das gelungen ist – darüber müssen andere urteilen.
Dokument N° 1
MWD der UdSSR
Behörde für innere Angelegenheiten
W 1/3-D-7693
Bescheinigung
Ausgestellt auf Boris Petrowitsch Dubizkij, geb. 1921, gebürtig aus dem Gebiet
Charkow, darüber, dass er nach § 58-1a des Strafgesetzes der RSFSR zu 10 Jahren
Freiheitsentzug verurteilt wurde, unter Bemessung der Haftstrafe ab dem 25.
April 1945. Am 23. Oktober 1954 aus dem Norilsker Arbeits- und Besserungslager,
Region Krasnojarsk, entlassen. Nach der Haftverbüßung in die Verbannung zur
Ansiedlung in der Stadt Norilsk, Region Krasnojarsk, geschickt. Aufgrund des
Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 17. September 1955 „Über
die Amnestie“ am 9. November 1955 aus der Verbannung entlassen.
Leiter
Abteilung der Behörde für Inneres
W.G. Bogdanow
Dokument N° 2
Militärgericht des
Weißrussischen Wehrkreises
13. November 1957
N° 1435
Bescheinigung
Die Anklageschrift in Sachen Boris Petrowitsch Dubizkij, verhaftet am 25. April 1945, wurde vom Militärtribunal des Weißrussischen Wehrkreises am 5. November 1957 revidiert. Das Urteil des Militärgerichts der N-ten Armee vom 6. Juni 1945 gegen Boris Petrowitsch Dubizkij ist aufgehoben; die Akte wird wegen Nichtbeweisbarkeit der Anschuldigungen geschlossen.
Stellvertretender Vorsitzender des
Militärtribunals des
Weißrussischen Wehrkreises
Oberst der Justiz W. Kondratjew