Aufgrund meines Rehabilitationsgesuchs an die Staatsanwaltschaft der Stadt Leningrad erhielt ich einen Brief mit Datum vom 18.01.1990, unterzeichnet vom Ober-Stellvertreter des Staatsanwaltes I.W. Katukow, der mit den Worten endete: „Ich spreche Ihnen mein Bedauern anläßlich des Ihnen und Ihrer Familie widerfahrenen tragischen Schicksals aus.
Und dies ist die Geschichte unserer Familie.
Mein Vater, Boris Brunowitsch Eike, wurde 1884 in der Stadt Petersburg in die Familie eines kleinen Beamten hineingeboren (wahrscheinlich hat sein Vater als Kassierer im sogenannten „Roten Dreieck“ gearbeitet). Der Großvater meines Vaters war ein Zugewanderter aus Estland, woher auch der Familienname stammt – Eike. Sowohl der Vater (an den Großvater kann ich mich nicht mehr erinnern) als auch wir, seine Kinder, wurden in der Tradition der russischen Kultur erzogen, unsere Muttersprache war – Russisch.
Der Vater begann ein Studium in einer der höheren Petersburger Lehreinrichtungen, begeisterte sich dann aber für Chemie und fuhr zu Studienzwecken nach Karlsruhe in Deutschland. Er studierte dort etwa von 1904 bis 1909. Er erhielt das Diplom eines Chemie-Ingenieurs (das Diplom auf einem großen, dicken Blatt Papier erinnere ich noch gut). In Karlsruhe heiratete er Luisa Wilhelmowna Schefer, meine spätere Mutter.
Meine Mutter wurde am 28.09.1890 in die arme Familie eines Zimmermannes hineingeboren (es war ein guter Zimmermann, aber leider ein Säufer). In der Familie waren drei Kinder: Matilda, August, Luisa. Meine Mutter beendete 8 Klassen sowie die Wirtschaftsschule mit hervorragenden Noten. Ihr Glaubensbekenntnis war lutherisch. Vor ihrer Heirat arbeitete sie in Karlsruhe in irgendeinem Geschäft.
Nachdem der Vater seine Ausbildung in Deutschland abgeschlossen hatte, fuhren sie nach Rußland - nach Petersburg. Kinder wurden geboren:1910 - Wolodja, 1918 - ich, dann Jura. Vor 1933, vor der Machtergreifung Hitlers, ich weiß aber nicht genau, in welchen Jahren das war, besuchten die Eltern Verwandte in Deutschland und korrespondierten mit ihnen. Nach 1933 riß diese Verbindung ab und wurde nie wieder aufgenommen.
Nach der Rückkehr in die Heimat arbeitete der Vater in Petersburger Fabriken; um welche es sich genau handelte, vermag ich nicht zu sagen. In den 1920er Jahren arbeitete er in einer Pulverfabrik in Ochta, in der Fabrik "Lenschet-6". Zu dieser Zeit begann der Vater zu trinken, und danach gab es bei ihm immer wiederkehrende, lange Perioden der Trunksucht, die dazu führten, daß er häufig den Arbeitsplatz wechseln mußte. Aber er war ein hervorragender Spezialist. Zu Beginn der 1930er Jahre, als der Vater in der Stadt Woronesch, in der Fabrik SK-2, tätig war (die Familie lebte in Leningrad), schrieb er eine Abhandlung über das Thema "Nebenprodukte bei der Herstellung von synthetischem Kautschuk" (für dienstliche Zwecke).
Die Arbeiter unserer Krasnojarsker SK-Fabrik kannten es. Das Buch gehört zum Bestand der Öffentlichen Bibliothek in Leningrad.
Die Mutter arbeitete während der Hungerperiode in den 1920er Jahren, wohl als Leiterin, in der amerikanischen Spenden-Kantine "Ara". Die Kantine befand sich auf dem Gelände der Pulverfabrik in Ochta, wo wir zu jener Zeit wohnten. Alle Lebensmittel in der Kantine waren amerikanischer Herkunft - die unentgeltliche amerikanische Hilfe für das hungernde Rußland. Danach, in den 20er Jahren, während der Zeit der NEP (Neue Ökonomische Politk; Anm. d. Übers.), arbeitete die Mutter in einem genossenschaftlichen Betrieb für die Ausgabe von Fotopapier als Mechanikerin an einer Bandgießmaschine. Diese Genossenschaft hieß anfangs "Zyklon" und später "Ära".
Mein Bruder Wolodja, ein sehr guter, aber charakterschwacher Mensch, arbeitete nach Beendigung der Mittelschule (9 Klassen) als Dreher in der Fabrik "Roter Werkzeugmacher".
Ich beendete die Schule 1936 und wurde Student am Leningrader Institut für Industriewesen, Fakultät für Mechanik. Aber ich hatte mich noch nicht einmal ein Jahr mit diesem Studium befaßt, da war ich schon gezwungen, es abzubrechen, denn am 7. Oktober 1936 wurde mein Vater verhaftetet. Bis zu seiner Verhaftung arbeitete er als Ingenieur in der Leningrader Lackfarbenfabrik. Sie nahmen ihn zuhause fest, mitten in der Nacht. Damals lebten wir in der Gagarinsker Straße 26, Wohnung 16. Die ganze Nacht hindurch veranstalteten sie eine Durchsuchung, gegen Morgen brachten sie den Vater fort.
Einmal, als schon die kalte Jahreszeit hereingebrochen war, ging uns eine Benachrichtigung aus dem NKWD zu, unterschrieben vom Ermittlungsrichter Lewit. Es war eine Vorladung zu dem Zweck, dem Vater warme Kleidung hinzubringen. Das Paket trug ich dorthin. Das NKWD befand sich auf dem Litejnij-Prospekt, in einem neunstöckigen Gebäude. Der Ermittlungsrichter sagte mir: "Dein Vater ist natürlich schuldig. Ein Feind ist er. Und für Sie ist es aus mit dem Studium".
Die Ergebnisse des Untersuchungsverfahrens waren uns nicht bekannt, und es gab auch keinerlei Nachrichten über den Verbleib des Vaters. Aber Ende Juni 1937 wurde unsere Familie (Mutter, Bruder ud ich) auf dem Verwaltungswege aus Leningrad deportiert, unter
Konfiszierung des gesamten Besitzes. Sie beschlagnahmten Bilder, das Klavier, Bücher, persönliche Gegenstände des Vaters. Für die Vorbereitungen zur Abreise gaben sie uns drei Tage. Der Verbannungsort - die Siedlung Uil, in der Region Aktjubinsk, Kasachische SSR.
Wir fuhren mit dem Zug - natürlich auf eigene Kosten. Diese Siedlung befand sich an einem unbewohnten Ort in der Steppe, 300 km südwestlich von Aktjubinsk. Damals war Uil ein riesiges Zentrum für den Tauschhandel von kasachischem Vieh in Getreide. Aus jenen Zeiten sind noch ein großer leerer Platz und eine heruntergekommene Moschee übriggeblieben. Zum Zeitpunkt unserer Ankunft in Uil bestand die Bevölkerung aus etwa 3000 Menschen, einschließlich Verbannte. Bei der nationalen Zusammensetzung handelte es sich vorwiegend um Russen und Ukrainer. Die Häuser waren Lehmhütten ukrainischer Art, bedeckt mit Hirsestroh. Produktionsunternehmen waren in der Siedlung nicht vorhanden. Es gab Kreis-Dienststellen und eine dieselbetriebenes Kraftwerk. Die Ortsbewohner besapen Gärten und Melonenfelder. Auch Hirse wurde angebaut. In der Umgebung, am Fluß Uil und an den Seen, waren gute Jagd- und Fischfangmöglichkeiten - eine große Hilfe für den Lebensunterhalt.
Anfangs wurden wir nicht zur Arbeit eingestellt. Die Mutter stellte zuhause auf Bestellung Orenburger Daunen-Tücher, Fausthandschuhe und ähnliche Dinge her. Etwas später fand ich Arbeit: zuerst als Buchführer im Uilsker Kinderheim, danach in der Kreisgenossenschaft für Massenbedarfsgüter. Für Wolodja war es schwieriger: es gab keine seiner Ausbildung entsprechende Arbeit; deswegen führte er nur Gelegenheitsarbeiten aus. Ich erinnere mich, daß er zum Beispiel einem Zimmermann irgendeine Bestellung erledigen half. " ... ohne
feste Beschäftigung" - steht in Wolodjas Rehabilitationsbescheinigung, die er im Jahre 1960 erhielt. Genausogut kann man daraus denken, daß ein Mensch sich bewußt von der Arbeit ferngehalten hat. Soll das Papier ruhig seelenlos sein. Ab er die Menschen, die es ausstellen - haben die kein Herz?
Wir lebten in einer Wohnung, wie alle anderen Verbannten auch: die Ureinwohner stellten uns Ecken und Kämmerchen zur Verfügung. Einige Ortsansässige verhielten sich anfangs in Uil, Gebiet den Verbannten fremd gegenüber - sie glaubten, daß wir aus in der Familien von "Volksfeinden" stammten. So bezeichnete einer Verbannung der Uilsker Bewohner namens Jaroschenko, wohl Buchhalter von Beruf, die verbannten Siedler mit einem gewissen Gefühl von Überlegenheit mit dem Pronomen "jene" (besser: "die da"; Anm. d. Übers.), als er auf einen entfernten Gegenstand wies.
Aber nach dem Krieg, daran erinnerte sich die Mutter, sagte er: "Das sind heilige Leute".
Von den Verbannten erinnere ich mich noch an: Jura Bersen, Oleg Bersen - Brüder aus der Ukraine, ich glaube aus Kiew: Jura war 26 Jahre alt, Oleg 20. Ebenfalls aus Kiew waren wohl auch Jura Perlin (20 Jahre alt) und seine Mutter, eine Frau von etwa 40 Jahren. Überhaupt stammten viele Verbannte aus der Ukraine, besonders wenn sie jüdischer Nationalität waren.
Und dann erinnere ich mich noch an folgende Familien: die Passows - Vater und Mutter waren schon sehr betagt, aber die Tochter erst um die 30; die Koschewnikos, Eheleute um die 50, er arbeitete als Hauptbuchhalter in der Kreisgenossenschaft für Massenbedarfsgüter, sie lebten sehr zurückgezogen von den anderen und verließen später die Siedlung Uil.
Hier in Uil wurden einige Verbannte verhaftet: plötzlich verschwanden die Menschen und tauchten nicht wieder auf. So geschah es auch mit unserem Wolodja. Er hatte nur ungefähr ein Jahr in Uil gelebt. Am Tage des 26. Juni 1938 verhafteten sie ihn. Bei der Verhaftung beschlagnahmten sie mein kleines 20-Kaliber-Jagdgewehr. Näheres über die Umstände der Verhaftung kann ich nicht erzählen, denn ich war zu der Zeit nicht zuhause. Ich weiß noch, daß der damalige Leiter des Uilsker NKWD Olblasow war, ein äußerst grausamer Mensch.
Einige Zeit lang wurde Wolodja im Uilsker NKWD-Gebäude festgehalten. Zufällig sah ich ihn einmal am Fenster. Der Anblick war schrecklich. Er schrieb mit seinen Fingern die Zahl 58 in die Luft - der Paragraph, nach dem er angeklagt worden war. Und ferner sah ich zufällig, wie sie ihn aus Uil fortbrachten. Ich ging in den Laden, um Brot zu kaufen, neben dem Laden stand ein offener Lastwagen. Im Wagenkasten saß Wolodja (und sogleich hatte ich den Eindruck, daß er ganz allein dort saß). Es gelang mir noch, ihm das Geld zuzuwerfen, das ich eigentlich für das Brot mitgenommen hatte - und da fuhr der Wagen auch schon ab.
Wir haben ihn nie wieder gesehen, keinerlei Nachrichten mehr von ihm erhalten. Tatsächlich, während des Krieges, im Jahre 1943, bekam die Mutter in Uil einen Brief (mit Abakansker Stempel auf dem Umschlag) von einer guten Leningrader Bekannten. In sehr vorsichtiger Weise machte sie darin Angaben "eines Solikamsker Augenzeugen" über Jura. Aber da ich, Jura, ja in keinerlei Beziehung zu den Solikamsker Haftorten stand und außerden an der Front war und der Mutter Briefe schrieb, da entschied sie, daß wohl von Wolodja die Rede sein mußte, um so mehr, als das beschriebene Verhalten eher seinem Charakter entsprach. Mutter richtete eine ANfrage nach Solikamsk. Sie erhielt die Antwort, daß "Wladimir Borisowitsch Eike unter der Anschrift Solikamsk, Molotowsker Gebiet, Postfach No. 244" nicht geführt würde. Das kleine Fädchen Hoffnung war gerissen. Den Brief aus Leningrad sowie die Antwort auf die Anfrage haben wir aufbewahrt.
Aus Uil schrieb ich ein Gesuch, in dem ich um die Erlaubnis bat, zur Fortsetzung meines unterbrochenen Studiums den derzeitigen Aufenthaltsort verlassen zu dürfen. Daraufhin wurde mein Verbannungsort in die Stadt Kineschma, Iwanowsker Gebiet (Anordnung der NKWD-Verwaltung des Leningrader Gebietes vom 16.07.1939), verlegt, und im Herbst 1939 fuhr ich nach Kineschma ab. Die Mutter blieb in Uil. In Kineschma bekam ich Arbeit in der Chemiefabrik und mußte dort die chemischen Apparaturen ölen und fetten. Ich arbeitete so gut, daß ich um ein Vielfaches das Arbeitssoll übererfüllte. Arbeiter, die eine geringere Normerfüllung erreichten als ich, wurden angespornt und ihre Namen sogar auf der Ehrentafel vermerkt. Solche Einstellung zu uns wurde zur Norm, sie verfolgte uns durchs ganze Leben.
Man erlaubte uns, die keinen Paß besaßen (stattdessen hatten wir eine Bescheinigung mit einer Fotografie erhalten), den Kindern von "Volksfeinden" in der Gebietsstadt Iwanowo zu studieren. Und so trat ich 1940 ins Iwanowsker W.-I.- Lenin-Institut für Energiewirtschaft ein. Ich studierte dort ein Jahr lang.
Am 1. September 1941 wurden wir die Studenten, die zum Lernen dorthin gekommen waren, zum Feldheer mobilisiert. Ich kam zu den Pioniertruppen. Ich diente dort als Oberinspektor der Lebens- und Futtermittelversorgung. Weil ich meinen Verpflichtungen ordentlich nachging, schenkte man mir Vertrauen. Dennoch verhielt man sich uns, den Söhnen von "Volksfeinden" gegenüber in einer besonderen Weise. Sie gaben uns eine Uniform, aber ohne Dienstgradabzeichen, ohne Schulterstücke, die Versorgung entsprach nicht denen der Offiziere, und wir aßen getrennt von ihnen - in der Soldatenkantine. Mit Auszeichnungen wurden wir umgangen. In unserem Truppenteil war ich nicht der einzige, dem es so ging.
Aber wir alle dienten in aufrichtiger Weise dort, wohin man uns bestimmte. Zusammen mit unseren Truppen war ich in Polen, Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei.
Im Juli 1946 wurde ich demobilisiert, kehrte nach Iwanowo zurück und bekam beim Vorzeigen der Demobilisierungsbescheinigung einen Paß. Ich setzte mein Studium am Iwanowsker Institut für Energiewirtschaft fort. Ich erhielt ein Stipendium (500-600 Rubel). So gut es ging half ich finanziell der Mutter.
Im Sommer 1948 fuhr ich, wie immer, zur Mutter nach Uil. Dort fand ich sie nicht vor. Ich brachte in Erfahrung, daß man sie ins Koktschetawsker Gebiet verlegt hatte, in das Dorf Borki
(sie hatte es nicht mehr geschafft, mir dies mitzuteilen). Ich begab mich dorthin. Es war eine kleine Siedlung. Man sagte mir: in einem der kleinen Häuschen nehmen sie von den angkommenden Verbannten Fingerabdrücke. Die Tür des Häuschens stand offen, und dort sah ich die Mutter. Sie schaute seltsam zu mir herüber und gab mir dann Handzeichen, als ob sie mich abschrecken und mir bedeuten wollte, ich sollte gehen. Ich verließ das Haus, ließ mich im Gras nieder und fing an, auf die Mutter zu warten. Lange Zeit erschien sie nicht. Ich stand auf, um nachzusehen, wo sie geblieben war, und sah, wie sie mit irgendeiner anderen Frau zusammenstand. Die Mutter gestikulierte lebhaft und sagte irgendetwas. Später erklärte sie mir, daß sie erzählt hätte, wie ihr die Gestalt ihres Sohnes erschienen war. So hatte nicht geglaubt, mich in Wirklichkeit gesehen zu haben, um so mehr als mein Auftauchen völlig überraschend gewesen war. Die Mutter hatte Angst, daß man mich hier verhaften würde und zwang mich buchstäblich am nächsten Tage fortzugehen.
Hier in Borki gingen alle Verbannten landwirtschaftlichen Arbeiten nach - andere Beschäftigungsmöglichkeiten gab es hier nicht. Aufgrund ihres Alters und der gesundheitlichen Verfassung konnte die Mutter diese Arbeiten schon nicht mehr ausführen. Und nach etwa einem halben Jahr hatte sie ihre Verlegung in die Siedlung Borowoje, Koktschetawsker Gebiet - 90 km von Koktschetaw entfernt - erreicht. Ich fuhr in den Ferien zu ihr. Von Koktschetaw gelangte ich entweder mit vorüberfahrenden Fahrzeugen hierher, oder, was häufiger der Fall war, mit einem dreisitzigen, offenen Flugzeug (der Pilot und zwei Passagiere).
1950 beendete ich das Institut mit Auszeichnung. Bei der Verteilung der Dienstreisescheine für den zukünftigen Arbeitsplatz wurden diejenigen, die das Rote Diplom gemacht hatten, als erste vorgeschlagen, mich rief man als letzten heraus, und ich erhielt keine Arbeitsplatz-Einweisung gemäß meiner beruflichen Fachausbildung, sondern - auf Montage, im Trust "Promtechmontasch" ("industrietechnische Montagen"; Anm. d. Übers.). Und dort im Trust sagten sie: nur nach Sibirien. Und so kam ich nach Krasnojarsk.
Im Jahre 1954 erlaubten sie der Mutter zu mir nach Krasnojarsk zu fahren. Bis zum Erhalt eines Passes (ich weiß nicht mehr genau, wann das war), stand die Mutter weiter unter Aufsicht und mußte sich bei der Kommandantur in der Pawlow-Straße registrieren lassen.
Nach dem Tode Stalins, als man mit der Rehabilitierung der Repressionsopfer begann, stellte auch die Mutter entsprechende Anträge und erhielt Rehabilitationsbescheinigungen sowie die Sterbeurkunden ihres Mannes (die Todesursache und der Sterbeort sind darin nicht genannt; das Todesjahr - 1937) und des Sohnes (gestorben 1943 an einer Lungenentzündung, Sterbeort nicht angegeben). Wir zogen all diese Angaben über Wolodja und auch den Brief der Bekannten "über den Solikamsker Augenzeugen" in Betracht und dachten, daß Wolodja an der Front gewesen und verwundet worden war. Damals wurde auch ein bestimmter Entschädigungsbetrag wegen des beschlagnahmten Besitzes gezahlt. 1960 bekam auch die Mutter ihre Rehabilitationsbescheinigung. Ihre Verbannung wurde als unbegründete Maßnahme für ungültig erklärt. Diese ganze große und unangenehme Arbeit hat meine Mutter geleistet. Sie starb am 23. Juli 1974 im Alter von 83 Jahren und wurde auf dem Slobinsker Friedhof in Krasnojarsk beigesetzt.
Da sich in unserer Zeit Möglichkeiten eröffnet haben, etwas über das Schicksal der Verwandten in Erfahrung zu bringen, habe ich am 25.11.1989 eine Anfrage bezüglich meines Vaters und Bruders an die KGB-Verwaltung der Region Krasnojarsk gerichtet. Beim persönlichen Erscheinen in der KGB-Verwaltung (man hatte mich dorthin bestellt) teilte man mir mündlich folgendes mit:
1. Mein Bruder, Wladimir Borisowitsch Eike, geb. 1910 in Karlsruhe (Deutschland).
Verhaftet wegen Spionage. Befand sich im Aktjubinsker Gefängnis. Verurteilt zum Tod durch Erschießen. Das Urteil wurde am 11. Oktober 1938 vollstreckt. Der Bestattungsort ist nicht bekannt. Posthum rehabilitiert durch das Militärtribunal des Turkestaner Wehrkreises am 27. April 1960.
2. Mein Vater, Boris Brunowitsch Eike, beschuldigt der Spionage zugunsten Deutschlands
(Grundlage der Anklage - Selbstbezichtigung). Auf Beschluß des Militärtribunals des Leningrader Wehrkreises zur Höchststrafe verurteilt - Erschießung. Legte Berufung ein. Die Berufung wurde am 04. April 1937 abgelehnt. Das Urteil wurde am 20. April 1937 vollstreckt. Der Vater wurde in der Nähe des Dorfes Lewaschowo, Kreis Wyborg, Stadt Leningrad, beerdigt (dort wird ein Gedenkstein entstehen). Posthum rehabilitiert vom Militärkollegium des Obersten Gerichtshofes der UdSSR am 26. Mai 1960.
In den "Archivbescheinigungen" über mich und meine Mutter vom 12.02.1990, die ich von der Hauptverwaltung für Innere Angelegenheiten des Leningrader Gebiets- und Stadt-Exekutivkomitees erhielt, heißt es, daß wir aus Leningrad auf unbestimmte Zeit verbannt wurden, weil wir Familienangehörige des "wegen Spionage zur Höchststrafe verurteilten Boris Brunowitsch Eike" waren. Auf Beschluß der UOOP (Verwaltung zum Schutz der öffentlichen Ordnung; Anm. d. Übers.) beim Leningrader Gebiets- und Stadt-Exekutivkomitee vom 28.08.1964 wurde diese unbegründete Maßnahme für ungültig erklärt. Wolodjas Archivakte wurde, wie man mir von der Leningrader Staatsanwaltschaft mitteilte, an die KGB-Verwaltung der Region Aktjubinsk weitergeleitet, im Zusammenhang mit Wolodjas Verhaftung im Jahre 1938. Aus Leningrad verbannt - und die Akte befindet sich in Aktjubinsk - mit dem Resultat, daß man eine Rehabilitationsbescheinigung für Wolodjas Verbannung aus Leningrad nicht bekommen kann.
Das ist das Schicksal unserer Familie.
Ich habe einen Wunsch.
Die Rehabilitationsdokumente sollen menschlicher sein. Ihr Wortschatz trifft einen im Innersten. Die Bescheinigungen, die Aussagen sollen wenigstens ein menschliches Wort beinhalten: "unschuldig" oder "ungesetzlich" - und zwar im Zusammenhang mit den Begriffen "verurteilt", "erschossen".
Mit den Worten des Jurij Borisowitsch Eike
Aufgezeichnet von K.A. Dsjuba, Gesellschaft "Memorial",
Krasnojarsk,
Dezember 1989 - März 1990