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Ludmila Jeremejewa. Märchen-Jahre

Das Schicksal war mir mein ganzes Leben lang vorausbestimmt, anfangs völlig unerwartet und dann das schon „eingeplante“ Treffen mit den Helden der wunderbaren, zauberhaften Märchen von S. J. Marschak. Durch diese Märchenhelden vollzog sich freilich die Bekanntschaft mit real existierenden Menschen, interessanten Persönlichkeiten, leiden-schaftlichen Theaterfreunden. Unter ihnen Laienkünstler und Laienregisseure. Aber vor allem eben jener Schriftsteller und Märchenerzähler Samuel (Sohn von Jakob) Marschak! Und wie bin ich dem Schicksal dankbar, daß sich die Dinge so gefügt haben und nicht anders. Aber alles der Reihe nach.

Es begann im Nachkriegsjahr 1945, als ich in der 7. Klasse der Schule Nr. 40 in Krasnojarsk lernte. Durch die Schuldirektorin Tamara (Tochter von Peter) Bratuchina, eine ausgebildete Literaturwissenschaftlerin, wurde damals ein Schultheater ins Leben gerufen. Für die Aufführung ihres ersten Theaterstückes „Die 12 Monate“ (Autor S. J. Marschak) wählte sie viele von uns aus. Später folgten weitere Aufführungen, ebenso einprägsame, musikalische, mit Chor und Tanz, mit zauberhaften Verwandlungsszenen, mit einer großen Anzahl von Akteuren. Untalentierte gab es bei Tamara Bratuchina nicht - jeder war für seine Rolle, ob groß oder klein, geeignet, - aber „Die 12 Monate“ war unübertrefflich. An diesem Stück war alles ungewöhnlich, alles – einmalig!

Nun, im großen und ganzen, ein Märchen! Uns so etwas brauchte man auch in jenem Hungerjahr 1945! Sowohl wir, die „Künstler“, als auch die Zuschauer, die von Bühnenwerken nicht gerade verwöhnt waren.

Und wieviele Vorbereitungen gab es, wieviele Proben, wieviel Hin und Her mit den Kostümen. Die Phantasien unserer Leiterin waren grenzenlos, ja, und unsere Mütter erwiesen sich als ebensolche sachkundigen wie guten Helferinnen: schufen sie doch buchstäblich „aus dem Nichts“ sowohl Kostüme für den königlichen Hof, als auch für die Waldtiere und die zwölf Gebrüder Monate. Sie schnitten Tischtücher und Teppiche neu zu (gottlob waren sie nur aus Tuch oder Samt), durchwühlten ihre Truhen nach Brauchbarem, malten, nähten, stickten, verzierten alles Mögliche mit Silberfäden, stärkten.

Als wir uns mit den Kostümen zur Generalprobe fertig machten, konnten wir, während wir uns gegenseitig anschauten, vor lauter „Achs“ und „Ochs“ lange Zeit unsere Fassung nicht wiedererlangen. Dann gewöhnten wir uns nach und nach daran; und wie erging es den Zuschauern, als sie diese Pracht zuerst sahen? In dem großen Saal hätte man keinen Apfel fallen hören; alle, Kinder und Erwachsene schauten und hielten den Atem an. So angespannt arbeitet unser Jugend-Theater während der ganzen Winter- und Frühlingsferien. Wir – die Helden des Tages. Uns, besonders die Hauptdarsteller, erkennt man auf der Straße; wir werden begrüßt. man lächelt uns zu, die Kinder aus anderen Schulen rennen in Scharen hinter uns her und schauen uns schwärmerisch in die Augen.

Ach wie hell und gehaltvoll wurde jetzt das Leben an unserer Schule; wie stolz waren wir auf unser Theater mit seiner ungewöhnlichen, unvergleichlichen Direktorin, Pädagogin und Regisseurin. Und da beginnt es am klaren Himmel zu donnern.

Meinen Vater, Sergej (Sohn von Anissim) Jur, Wasserbauingenieur bei der Jenissejsker Fluß-Schiffahrtsgesellschaft, versetzen sie an einen Arbeitsplatz im Norden, weit abgelegen, mehr als 400 unnütze Kilometer von Krasnojarsk entfernt. Leb wohl, geliebte Schule, leb wohl, Theater, lebt wohl, ihr Träume von neuen Rollen. Denn dort hat schließlich noch niemand ein Theater gebaut, es gibt nur 10-Klassen-Schulen; wo soll ich weiter lernen, - wahrscheinlich gar nicht?! (Letzteres bewahrheitete sich übrigens).

Man hatte gerade erst damit begonnen, die Binnenschiffer-Siedlung Podtjossowo zu bauen, und nahm uns freundlich auf. Es schien, daß man hier auf Papa schon lange gewartet hatte. Ein Wohnraum in einem behaglichen Haus mit zwei Wohnungen war schon für uns vorbereitet, und dort standen schon ein Eisenbett, ein grob zusammengebauter Tisch und Schemel. Papa hängte an den Wänden seine Musikinstrumente auf – Mandolinen, Gitarren, Balalajkas – die er immer immer mit sich nahm, und dazwischen hängte Mama ihre Stickereien – und damit war das Wichtigste auch schon getan. Sie begannen sich in der neuen Umgebung einzuleben.

Das nächste wichtige „Objekt“, das unsere Familie besichtigen und an das sie sich gewöhnen sollte, war der Klub, eine langgezogene und solide gebaute Baracke mit einem ziemlich geräumigen Saal, einem Foyer zum Tanzen und einer Bühne, wo übrigens die Akustik ganz hervorragend war. Das demonstrierte Papa sogleich auf seiner klangvollen Mandoline. Sogar das kleinste Piano war noch in der entferntesten Ecke des Saales zu hören.

"Wie schön wäre es, hier Marschak, Ostrowskij, Gogol, Tschechow zu hören, wo selbst die leiseste Rede, sogar Flüstern, das Rascheln der Kleider, überall wahrnehmbar ist", begeisterte sich Mama, die aktives Mitglied im Dramaturgie-Kreis war, egal wo wir auch gerade unseren Wohnort hatten.

Papa war im Klub schon bald ganz er selbst, nach ihm streckten alle Musikliebhaber die Hände aus – und schon war ein Orchester mit Volksinstrumenten gegründet! Aber Mama fand nicht ihren Weg, so sehr sie sich auch bemühte. Gleichgesinnte, Theaterliebhaber gab es wohl nicht wenige in dieser Abgeschiedenheit, aber sie untereinander vereinigen – das hätte eine einzige Person, eine bekannte Person, ein Regisseur, machen müsen – und so einen Menschen gab es dort zu der Zeit nicht. Wahrscheinlich gab es einen, aber wo?! Flüsternd und furchtsam um sich blickend erzählten die Leute Mama, daß in dieser bislang noch kleinen Siedlung, außer den Ureinwohnern und einigen zugereisten Bau-Spezialisten (wie Papa es war), Mechanikern und Lehrern, außerdem auch noch viele Verbannte oder „Zehnjährige“, wie man sie damals auch nannte, lebten. Sie waren nach §58 verurteilt worden und saßen hier ihre 10 oder mehr Jahre ab, obwohl sie nicht hinter Schloß und Riegel saßen, aber dennoch ohne jegliche Rechte waren: sie durften nicht wählen, nicht ihrem Beruf entsprechend arbei-ten, nicht weiter als bis an die Grenzen der Siedlung fahren – und viele Dinge mehr waren ihnen nicht erlaubt.

Außerdem waren sie verpflichtet, sich jeden Abend in der Kommandantur zu melden: da bin ich, sagt man, und ich bin auch nicht weggelaufen. Wenngleich es sehr schwierig war, irgendwohin zu verschwinden: umgeben von dichter Taiga und dem breiten Jenissej, den man nur mit einem kleinen Kutter überqueren kann, der einmal am Tag fährt, und diese Fahrten werden pflichtbewußt von eben jenem Kommandantur-Mitarbeiter kontrolliert.

Und unter diesen rechtlosen Zehnjährigen, so erzählten die Leute, gibt es einen, den Sie brauchen können. Arthur (Sohn von Jakob) Hahn – berufsmäßiger Künstler, mit einer klaren Stimme, ein wunderbarer Mensch. Man muß ihn retten. Er ist überhaupt nicht tauglich für die schweren Kolonnen-Arbeiten: er besitzt keinerlei Winterkleidung, und unsere sibirischen Fröste kennen keine Nachsicht. Und tatsächlich, bald sahen wir ihn in einer Kolonne einheitlich grau gekleideter, mit gesenkten Köpfen einherschreitender Menschen. Die Kolonne bewegte sich auf die Fabrik zu, wo sie schwere Arbeiten an den durch Frost beschädigten Schiffen durchführten. Der hochgewachsene, hagere, ein wenig gebeugt gehende Mann, der von den Leuten ehrfürchtig Artist genannt wurde, trug einen riesengroßen grauen Mantel aus grober Wolle, um den er als Gürtel einen Bindfaden geschlungen hatte. Auf dem Kopf eine alte, zerfetzte Mütze, die er offensichtlich von einem Ortsansässigen geschenkt bekommen hatte.

"Sergej", wandte sich Mama mit unterdrücktem Weinen flüsternd an Papa. "Du bist hier doch jetzt schon so etwas wie die "Obrigkeit". Ich flehe dich an, versuche alles Mögliche und Unmögliche für diesen Menschen zu tun. Auf dich hören sie doch. Wir müssen es irgendwie erreichen, daß er im Klub arbeiten darf!"

Nach zahlreichen Laufereien der aus mehreren Leuten bestehenden Delegation durch die Instanzen, nach vielem Zureden, Anrufen, Abmachungen, Beteuerungen und Bürgschaften wurde dem "Volksfeind" dann dennoch gestattet (allerdings nicht als bezahlter Regisseur, sondern einfach als gewöhnlicher Amateur), den Klub abends zu besuchen und an den Aufführungen mitzuwirken.

Das war schon ein Sieg, und mit diesem Tag begann eine neue Ära im kulturellen Leben der Siedlung. Der Klub wurde für uns allmählich zu einem echten Theater, mit richtiger Bühnen-dekoration, richtigen, zur jeweiligen Epoche passenden Kostümen und echten Schauspielern!

Denn das wurden nach und nach alle, die mit Arthur Hahn von Probe zu Probe in Berührung kamen.

Es organisierte sich eine große Anzahl von Enthusiasten und Fanatikern, die tagsüber in Fabriken, ins Krankenhaus, in die Schule zur Arbeit gingen und abends dann Hals über Kopf in den Klub eilten. Dort brühten sie zwischen den Proben in den Pausen auch Tee auf, kochten Kartoffeln, aßen und bereiteten für ihre Ehemänner und Kinder etwas zu essen, wobei sie auch diese häufig für die Mitarbeit an den Aufführungen gewannen. Das waren sowohl "Zehnjährige" als auch Ortsansässige. Alle fanden sich zusammen, freundeten sich an und wurden wie eine Familie.

Für die Stücke wurden Dekorationen benötigt, und dazu schleppte jeder von Zuhause irgend-etwas Geeignetes heran - bei dem einen fanden sich altertümliche Stühle, ein anderer hatte sogar ein Tischchen mit gedrechselten Beinen, gar nicht zu reden von den prunkvollen, alten Samowaren oder dem Geschirr, die noch aus Großvaters Zeiten stammten - die Ortsansäs-sigen besaßen all diese Dinge. In der Fabrik wurde zu jener Zeit eine Tischlerei- und Zimmer-mannswerkstatt eingerichtet, wo man mit Vergnügen die Bestellungen aus dem Klub entge-gennahm: nur macht so schnell wie möglich!

Es wurden Stücke von Ostrowskij aufgeführt:"Unschuldig schuldig", "Eine Dummheit macht auch der Gescheiteste", "Alle Tage ist kein Sonntag", "Lichtschein ohne Wärme", und viele andere, deren Titel weise, russische Sprichwörter und Redensarten bezeichneten.

In der noch nicht sehr umfangreichen Ortsbibliothek fanden sich Stücke von Tschechow, Gogol, Puschkin, sogar Shakespeare - aus denen wählte Arthur Hahn auch etwas Passendes für unsere Bühne aus. Wie die Leute dieses Theater liebten! Fanden sich doch nicht nur die Bewohner von Podtjossowo zu den Premieren ein - alle kamen sie, aus der näheren Umge-bung, aber auch aus entfernter gelegenen Dörfern. Ihre Pferde binden sie an die Klubtür, an den Telegraphen-Mast oder an eine Kiefer und gehen dann hinein, um sich mit der ganzen Familie die Aufführung anzusehen. Zuvor fragren sie aber noch:

"Heute treten doch ganz bestimmt die Artisten auf und nicht die Feuerwehrleute? Wir sind doch nicht umsonst hergekommen!?"

(Die Feurwehr war an der Stirnseite diser Baracke untergebracht. Und früher, "vor Zeiten des Theaters", erfanden die Feuerwehrmänner allen möglichen Unfug und traten damit auf der Bühne auf).

Vor jeder Premiere erschienen grundsätzlich jedes Mal sogenannte "Zensoren", mit dem Parteiorganisator an der Spitze. Die Theatergruppe spielte das gesamte Stück ganz persönlich nur für sie. Kein anderer Zuschauer hatte das Recht dort anwesend zu sein. Es könnte ja sein, daß der "Volksfeind" plötzlich irgendetwas Unpassendes von sich gibt. Und nicht nur einmal sagte der von Kunstahnung weit entfernte Parteiorganisator (alle nannten ihn hinter seinem Rücken Schergej Schergejewitsch (abgeleitet von dem Wort Scherge, Verfolger), nachdem er eine Zeitlang bedeutungsvoll geschwiegen hatte:

"Das geht so nicht!"

"Weshalb nicht?" fragte der Regisseur und faßte sich an den Kopf.

"Ideenloses Zeug!" - so, deshalb.

Als "ideenloses Zeug" erwies sich das Stück "Unschuldig schuldig" von Ostrowskij (und einige andere ebenfalls).

Alle stürzten sich dann eifrig darauf, den ideologischen Schicksalsmacher zu überzeugen, ihm zu erläutern, daß das doch ein klassisches Stück sei, daß solche Aufführungen in Moskau und allen Städten der Sowjetunion gespielt würden, und daß es ganz unmöglich sei, daran irgend-etwas zu ändern. Arthur Hahn stand nur schweigend und mit bleichem Gesicht an der Seite und biß sich auf die Lippen: er hatte doch kein Recht seine Meinung zu äußern.

Als die Nerven aller zum Zerreißen gespannt waren, entfernte sich der Parteiorganisator mit dem Gefühl, seine Pflicht getan zu haben: auch wenn es ihm nicht gelungen war, die Auf-führung zu verhindern, aber einigen Wirbel hatte er wenigstens gemacht! Nun, so war das damals eben.

Aber Mama und mir gab ein Gedanke keine Ruhe: die Wiederaufführung der "12 Monate" auf der Bühne von Podtjossowo. Den Kindern ein Geschenk machen. Aber würden wir es schaf-fen, so ein überzeugendes, musikalisches Schauspiel ohne Tamara (Tochter von Peter) Bratuchina zuwege zu bringen? Ja und wo sollte man überhaupt den Text hernehmen?

Zu jener Zeit dachten wir noch nicht daran, Samuel (Sohn von Jakob) Marschak zu schreiben, aber alle gingen davon aus, das ganze Stück aus dem Gedächtnis zu inszenieren, sie erinner-ten sich und haben auch mit Papa zusammen eine Melodie komponiert. Arthur Hahn schrieb die gesamte Inszenierung und übernahm die allgemeine Leitung.

Mit der Auswahl neuer Künstler, besonders von Kindern und Minderjährigen, gab es soviele Mühen, soviele Schwierigkeiten und soviele lustige Geschichten.

"Die Leitung läßt Ihre Tochter (das heißt meine) als Königin in dem Stück auftreten, und meiner hat sie bloß die Rolle einer Hausangestellten gegeben?!"

"Und meine, sagen sie, wird so eine Hof... Hof... (Hofdame) spielen, pfui, das kann man ja gar nicht aussprechen!"

" Und meinem Jungen - es ist fast peinlich zusagen, aber es wäre auch Sünde, es zu verheimli-chen - haben sie befohlen, einen Hasen zu spielen".

Na, und so ging das weiter. Und als ich jeder Mutter und jeder Großmutter eines zukünftigen Schauspielers mit Begeisterung alles der Reihe nach erklärt und ihnen unsere 5 "Königs"-Kostüme, die sorgsam bei uns verwahrt wurden, gezeigt hatte, da war dann alles klar, und alle lachten aus vollem Herzen. Darüber, und auch über andere lustige Vorfälle, schrieb ich Samuel Marschak, und er anwortete mir. Er war sehr gerührt und zufrieden, daß man im fernen Sibirien mit Erfolg seine Stücke vorbereitete und auf einer Laien-Bühne vorführte. Und der Erfolg war schon ganz verblüffend. Jedes neue Stück stellt eine Sensation dar.

Der Briefwechsel mit Samuel Marschak begann erst viel später, Ende der 50-er Jahre, als ich als Ärztin arbeitete, schon selbst Kinder hatte und wir, bereits mit einem neuen Bestand an Schauspielern, zusammen mit Mutter überlegten, wie wir für sie und ihre Altersgenossen die unvergeßlichen "12 Monate" wieder auf die Bühne zurückholen könnten. Damit begann eine neue Märchen-Ära in unserem Podtjossowo, allerdings ohne Arthur Hahn. Zu jener Zeit hatte man ihn bereits rehabilitiert, und er verließ die Siedlung.

Zur Verabschiedung unseres geliebten "König Lear", "Johann Ohnefurcht", "Paschka, der Artillerist" -, der sogar von keinem Filmstar übertroffen wurde, kamen alle Bewohner herbei. Und so sehr auch unser Idol von der Freiheit träumte und sich nach Hause in seine heimatlichen Gefilde losreißen wollte, so war es ihm doch irgendwie schwer ums Herz abzureisen. Die Schiffssirene des Dampfers an der Anlegestelle ertönte unaufhörlich, aber er kehrte immer wieder zurück, umarmte uns alle. Freude, vermischt mit Tränen in den Augen...

Meine Mutter, Anna (Tochter von Georg) Jur, setzt ihre Arbeit fort, jedoch lediglich mit der Inszenierung von Kinder-Märchen: ohne Arthur Hahn und in Ermangelung einer eigenen speziellen Ausbildung wollte sie es nicht riskieren, Stücke von Ostrowskij, Gogol, Tschechow, geschweige denn Shakespeare, auf die Bühne zu bringen. Ja, und es ist schließ-lich nicht möglich, zweimal in den selben Fluß zu steigen, wie die Weisen ganz richtig sagen. Jeder soll seinen eigenen Weg gehen.

Aber da sie von Arthur Hahn und auch früher schon bei Tamara Bratuchina vieles gelernt hatte, sie war in einer einzigen Person Regisseurin, Kostümausstatterin, Künstlerin sowie Bühnenrequisiteurin, erreichte sie bei der Inszenierung der Bühnenstücke ebenfalls unglaub-liche Erfolge. Der Ruhm des Märchentheaters erschallte in der gesamten Region. Angesehene Schauspieler und Persönlichkeiten aus dem Kulturleben der Stadt Krasnojarsk, wie z. B.

N. Prosorow und I. Klejmitz, kamen extra nach Podtjossowo, um Stücke für regionale und zonale Leistungsvergleiche durchzusehen und auszuwählen. Und das Kollektiv der Laien-spielgruppe aus Podtjossowo wurde mehrmals Preisträger dieser Wettbewerbe.

Der Saal des neuen, schönen Hauses der Kultur war unverändert überfüllt. Die Kinder spielten in den Straßen die Helden der Stücke nach.

Über unsere Erfolge schrieben wir Samuel Marschak und Arthur Hahn. Samuel Marschak schickte uns Bücher mit seinen Märchen sowie die anderer Schriftsteller, mit Stücken, die für eine Aufführung geeignet waren, und freute sich über unseren Erfolg, gab Ratschläge und träumte davon, zu uns an den Jenissej zu kommen. Diesen Traum konnte er nicht mehr wahrmachen. Der Märchenpoet starb 1964.

Lange Zeit hielt sein Sohn Emmanuel Marschak die Verbindung mit uns aufrecht, antwortete

freundlich auf all unsere Briefe, plante ebenfalls zu uns an den Jenissej zu kommen und schickte uns nochmals neu aufgelegte Bücher seines Vaters sowie bereits herausgebrachte Übersetzungen. Aber dann brach auch dieser Briefwechsel ab. Wie ich kürzlich erfuhr, weilt auch er schon längst nicht mehr unter den Lebenden.

Seit nunmehr zwei Jahren antwortet auch schon niemand mehr auf meine Briefe in die Stadt Bugulma, wo Arthur Hahn lebte und am Theater arbeitete. Ungeachtet seines vorgerückten Alters spielte er weiter, die örtlichen Zeitungen schrieben ständig über ihn als einen wundervollen Schauspieler. Uns, genauer gesagt, mir, schickte er Zeitungsausschnitte und Fotografien von den Aufführungen. Mit was für einer Wärme erinnerte er sich trotz allem an seine Lebensjahre in Sibirien, an Podtjossowo, sein künstlerisches Schaffen, die Sibirjaken - so wertvoll war für ihn die Kunst, die ihm selbst in den schweren Stunden Halt gegeben hatte.

Und nun - schon zwei Jahre Schweigen. Mit den Fingern über seine alten Briefe gleitend werde ich nicht müde, mich über den ungewöhnlichen (aber für ihn gewohnten) Zusatz oben auf den Breifumschlägen zu wundern - "ENTHÄLT KEINE VERBOTENEN ANLAGEN".

Man muß sich einmal hineindenken! Wem von uns, der nicht verschiedene Straflager durchlaufen hat, würde es jemals einfallen soetwas auf einen Briefumschlag zu schreiben?!

Und er mußte das schon ganz mechanisch tun. So wurde es verlangt, und so gehörte es sich im Lager.

Jene Seite seines Lebens ist uns vollständig unbekannt. Und was dieser Mensch und seine Kameraden durchgemacht haben - wissen wir auch nicht. Für unsere Generation, für unsere Siedlung war und blieb er "der Schauspiel-Künstler".

Lediglich eine einzige Fotografie (die uns der Vorsitzende der Gesellschaft "Memorial", W. G. Sirotinin, zur Verfügung stellte) ist ein Dokument aus jener Zeit. Nicht ohne Schaudern kann ich das Bild ansehen. Als wenn das ein ganz anderer Mensch wäre - so ein qualvoller Ausdruck im Gesicht...

Eine gütige Spur hinterließen die "Feinde des Volkes" auf unserer sibirischen Erde.


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