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Der Sohn eines Volksfeindes

Er war damals acht Jahre alt. Er erwachte durch die zärtliche Berührung der Hand seines Vaters (so wurde er morgens immer geweckt). Aber warum brannte die Lampe? Er blickte sich um und begriff, dass das Unheil über sie hereingebrochen war. An der Tür standen Leute in Uniformen, die Mutter lehnte fröstelnd und weinend an der Wand, und über ihn beugte sich mit dem Anflug eines Lächelns der Vater und sagte:

- Es ist nichts, mein Söhnchen. bald komme ich wieder. Jetzt bist du der Mann im Haus.

Er sprang aus dem Bett, umarmte den Vater fest und ließ ihn lange Zeit nicht los, als ob er fühlte, dass er ihn zum allerletzten Mal sah. Und später, während er sich mit seiner Schwester die schwermütigen Winterabende vertrieb, dachte er oft an diesen unheimlichen, verhassten Moment zurück.

Am nächsten Tag erfuhren es in der Schule alle ( die Lehrerin hatte ihnen schon Bescheid gesagt: sie haben den Vater verhaftet), und damit begann das neue, qualvolle und strapaziöse Leben des Sohnes eines „Volksfeindes“.

Kindliche Grausamkeit kann äußerst geschickt und grausam sein. Anatolij wurde verprügelt, gehänselt und quälendem Hohn und Spott ausgesetzt. Und als auch für seine Mutter das Leben in der Stadt unerträglich wurde, zogen sie in die Schtschetinkin-Sowchose um, wo die Mutter Arbeit an der Schule fand. Ein kleines, gemütliches Zimmerchen, nahrhafte Mittagsmahlzeiten. Aber sie hatten sich zu früh gefreut. Wer braucht schon die Ehefrau eines Volksfeindes mit Kindern, wer ist bereit, ein gutes Wort für sie einzulegen?

Mehrfach mussten sie von einem Ort an einen anderen umziehen. Er und seine Schwester spannten sich vor einen Holzschlitten, damit sie ihr kümmerliches Hab und Gut transportieren konnten. Die Mutter mit einem großen Bündel und dem jüngsten Bruder auf dem Arm (er war erst nach der Verhaftung des Vaters geboren) ging hinterher.

Die ältere Schwester ging zur Schule, die Mutter arbeitete und er passte auf das kleine Brüderchen auf. Und erst drei Jahre später konnte er selber wieder die Schule besuchen, die Abendschule. In jenen Kriegsjahren war es schwierig, von dem geringen Lehrerinnen-Gehalt den Lebensunterhalt zu bestreiten. Alles, was sie nur irgendwie hergeben konnten, tauschten sie in Kartoffeln ein, sie mussten sich alles selber erarbeiten. Und sie waren früh über jede Arbeit – ganz egal welche.

Einmal kam die Nachbarin zu ihnen und fragte:

- Dein Junge könnte mir Brennholz aus Kriwuch holen, drei Kubikmeter, dafür gebe ich euch zwei Eimer Kartoffeln.

Hin und zurück mit einem großen Holzschlitten durch den hohen Schnee (es gab keine Straßen), und das viele Male hintereinander. Die Nachbarn stellten billige Arbeitskräfte ein: zum Brennholz-Sägen, Boden-Umgraben und Unkraut-Jäten.

Nach Beendigung der Sieben-Klassen-Schule machte er eine Ausbildung zum Kinomechaniker. Jetzt konnte er seiner Mutter endlich Geld bringen. Er verehrte sie. Sie war es, die ihm Fleiß und Güte beigebracht hatte. Etwa vierzig Jahre lang arbeitete sie bei der Jermakowsker Kreisabteilung für Volksbildung. Die pensionierten Lehrkräfte erinnern sich an diese bescheidene, rastlos arbeitende Frau.

Lange sagte ihm niemand, wer er eigentlich war. Seine Altersgenossen gingen zur Armee, während er sich vor dem Gedanken fürchtete, dass ihm der Weg dorthin verschlossen war. Und da beschloss er einen Brief an Stalin zu schreiben, um die Erlaubnis zum Armeedienst zu bekommen. Die Antwort traf schon sehr bald ein: ein Sohn ist für seinen Vater nicht verantwortlich.

Anatolij freute sich. Aber er hatte den Vater nie für einen Feind gehalten, er wusste schließlich, was für ein Mensch sein Vater gewesen war. Martin Karlowitsch Tschakar wurde als Teilnehmer am Bürgerkrieg von Schtschetkin selber mit einer namentlich gekennzeichneten Waffe geehrt. Später erlitt er in einem der Kämpfe einen Durchschuss der rechten Hand, die er danach nicht mehr beugen konnte. Aber er fing an, alles mit der linken Hand zu erledigen – er pflügte und säte, konnte sehr geschickt Sauerteig kneten und, sofern es nötig war, wusch er auch die Wäsche. Als er bereits in Rente war, führte er die häusliche Wirtschaft, hielt ein Pferd und eine Kuh. Freundlich und fürsorglich ging Martin Karlowitsch mit seinen Kindern um, las ihnen oft vor und erzählte ihnen Märchen. Ach, Vater, Vater!

Und dann der Armeedienst, wo sie ihn in die Komsomolzen-Organisation aufnahmen (zu den Pionieren hatten sie ihn nicht gelassen). Und dann die Arbeit, die Ausbildung am Technikum, am Institut und Jahre einer schweren Erkrankung des Beines…

Vierzig Jahre Berufsleben sind allein in seinem Arbeitsbuch notiert. Anatolij hat es in seinem Leben nie leicht gehabt: er arbeitete als Traktorist, Mechaniker, Ingenieur und Elektriker. Und immer konnte man sich auf ihn verlassen. Egal wo er auch beschäftigt war, immer wieder wählte man ihn zum Sekretär der Partei-Organisation. Die Leute kamen mit Beschwerden wegen groben Verhaltens seitens der Leitung zu ihm, er war mitfühlend gegenüber ihren Bedürfnissen und Sorgen. Eine schwere Erkrankung warf ihn schließlich aus der Bahn des Arbeitslebens, Aber die Jungs aus der landwirtschaftlich-technischen Berufsfachschule besuchten ihn noch lange und luden ihren Anatolij Martinowitsch zum Arbeiten ein.

Sein Fleiß verwunderte alle. Als einmal ein Nachbar ihm zusah, meinte er:

- Tschakar stirbt selber nicht, aber er lässt es auch nicht zu, dass andere sterben.

Die Nachbarn, seine geliebten Kinder und Enkel - alle begegneten ihm mit Respekt. Ich lebte 52 Jahre mit ihm zusammen. Und ich sah ihn nur ein einziges Mal weinen, als er die Bescheinigung über die Rehabilitierung seines Vaters erhielt. Offenbar war er furchtbar gekränkt über all das – niemand bringt ihm seinen Vater zurück, niemand begreift, wie schrecklich es ist, wenn der beste Mensch, der, den man am meisten liebt, als Volksfeind bezeichnet wird, wenn sie verlangen, dass man sich von ihm lossagt. Niemand gibt ihm seine mit Schimpf, Schande und Pein durchsetzte Kindheit zurück. Aber auch die verspäteten Tränen verschaffen ihm keine Erleichterung.

W. Tschakar

Schmerz und Erinnerung. Gewidmet den Opfern der politischen Repressionen in den 30er bis 50er Jahren des 20. Jahrhunderts im Bezirk Jermakowskoje, Band 2


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