Der Ukas vom 28. August 1941 über die Umsiedlung der Deutschen aus dem Wolgagebiet wird „der schwarze“ genannt. Seine etlichen amtlich-offiziellen Zeilen zerbrachen das Schicksal tausender völlig unschuldiger Menschen, entzogen ihnen den heimischen Herd, alles, was sie sich im Laufe der Zeit mit ihrer Hände Arbeit angeschafft hatten. Unmittelbar nachdem dieses Dokument das Licht der Welt erblickt hatte, begannen die Repressivmaßnahmen gegen die Menschen deutscher Nationalität.
Die rehabilitierte Karolina Karlowna Lorenz, die in der Ortschaft Jermakowskoje lebte, erzählt:
- Vor der Deportation gab es im Wolgagebiet eine autonome deutsche Republik. Ich wurde in der Ortschaft Messer geboren. Das war ein großes, kulturelles Dorf. Dort wurde ich in einer Kirche getauft, die heute noch dort steht.
Im August 1941 kam der Ukas über die Aussiedlung der Deutschen aus dem Wolgagebiet heraus, unterzeichnet von Schwernik (aufgrund der Ironie des Schicksals wurde einer meiner Enkel, Aleksej, am 28. August geboren, das heißt genau an dem Tag, an dem viele Jahre zuvor, dieser Ukas über die Deportation der Deutschen das Licht der Welt erblickte). Alle Einwohner wurden beim Sowchosen-Kontor versammelt. Ein Mann in Militär-Uniform wartete geduldig, bis alle sich beruhigt hatten, und fing dann sogleich an, von der Gefahr zu sprechen, welche der örtlichen Bevölkerung drohte: „Es herrscht Krieg, und in erster Linie leidet dieses Volk, - sagte er. – Diese Menschen müssen evakuiert werden…“
Niemand begriff, weshalb alle wegfahren sollten. Alles, was ich verstand, war, dass nun Elend über die Familie kommen würde. Im Augenblick der Deportation, im September 1941, lebte Papa schon nicht mehr mit uns zusammen. Er und Mama hatten sich scheiden lassen, und er hatte bereits eine andere Familie (er war nach Saratow gefahren, um dort an der Arbeiter-Fakultät zu studieren – und war nicht zurückgekehrt). Ich war damals 12 Jahre alt, Mama 36. Außer mir hatte sie noch zwei ältere Töchter, Dora und Irma. Wir hatten nicht lange Zeit, um unsere Sachen zu packen. Jeder von uns trug ein Bündel mit dem Allernotwendigsten in der Hand (wir Mädchen hatten jeder bloß zwei Kleidchen dabei); dann warfen wir noch einen letzten Blick auf unser Heim, versuchten die Tränen zurückzuhalten und traten auf die Stra0ße hinaus.
Obwohl ich noch klein war, kann ich mich erinnern, dass wir, die Kolonne der Abreisenden, von Panzern begleitet wurden. So gelangten wir bis nach Saratow und von dort weiter mit dem Güterwaggon in den Osten. Während der Fahrt bis zum Ural galten wir noch als Evakuierte. Unterwegs bekamen wir an den großen Bahnstationen sogar heißes Mittagessen in den bahnhofsnahen Restaurants. Aber sobald wir den Ural überquert hatten, wurden wir unverzüglich zu Sonderumsiedlern, und es war, als ob si unsere Mittagsmahlzeit ganz vergessen hätten. Wir hatten schrecklichen Hunger. Wir, die Kinder, wagten nicht, Mama um Essen zu fragen. Und sie meinte später: „Nur gut, dass die Kinder mich nicht mit dem Wunsch nach Essen behelligten; als ob sie alles verstanden hatten…“
Mitte Oktober trafen wir im Koktschetawsker Gebiet in Kasachstan ein. IN der Steppe wurden wir abgeladen – kein Baum, kein Strauch, kein Haus. Einige Zeit später trafen Bewohner der benachbarten Auls und Dörfer mit Fuhrwerken ein, und die Sonderumsiedler wurden auf ihre Familien verteilt. Wir gerieten in die Ortschaft Serenda, wo man uns bei Russen unterbrachte. Bis heute kann ich mich an diese Familie erinnern, in der man sich uns gegenüber äußerst menschlich verhielt: sie halfen einem, wo sie nur konnten, unterstützten uns, trösteten uns und sprachen uns Mut zu. Aber im Großen und Ganzen sind die Erinnerungen daran, wie wir lebten, schrecklich. Den gesamten Krieg hindurch irrten wir in fremden Ecken und Baderäumen umher, ertrugen Erniedrigungen und bemühten uns, es den Herren Recht zu machen. Wenn sie den Deutschen ein Stückchen Land zum Anbauen von Kartoffeln gaben, dann lag es weit-weit entfernt. Es war für uns sehr schwer. Das Verhältnis seitens der Bevölkerung gegenüber den ausgesiedelten Deutschen war unterschiedlich. Manche mochten u8ns nicht, andere zeigten Anteilnahme. Die Kasachen teilten zum Beispiel ihr Essen mit uns. Vielleicht hätten die Menschen sich uns gegenüber auch besser benommen, aber es war wohl eher so, dass sie Angst davor hatten, bei den Behörden in Ungnade zu fallen. Schließlich herrschte Krieg…
1943 schickten sie meine 16-jährige Schwester Dora in die Trudarmee, nach Solikamsk, wo sie in der Holzfällerei arbeiten musste. Mama, die an der Wolga Deutschlehrerin an einer russischen Schule gewesen war, bekam anfangs überhaupt keine Arbeit zugewiesen – sie war klein und hager. Später fand sie eine Arbeit als Lehrerin.
Ich hatte vor der Ausweisung fünf Klassen an der deutschen Schule absolviert. Obwohl es eine deutsche Schule war, unterrichteten sie täglich zwei Stunden Russisch, denn das war die Amtssprache. Trotzdem war ich ihr nur unzureichend mächtig, und deswegen verstand ich, nachdem wir in Kasachstan eingetroffen waren, nur sehr wenig von dem, was gesprochen wurde. Erst mit der Zeit erlernte ich die Sprache von Grund auf.
Als ich herangewachsen war, schickten sie mich ebenfalls in die Trudarmee, nach Karaganda; dort musste ich in der Ziegelfabrik arbeiten. Wir arbeiteten nur nachts, tagsüber wurden unsere Arbeitsplätze von Häftlingen eingenommen. Und wir lebten auch nicht viel besser als sie, nur dass wir uns nicht hinter Stacheldrahtzäunen befanden. Wir wohnten strikt in dem uns zugewiesenen Stadtbezirk, ein Schritt zu weit nach rechts, einer zu weit nach links vom befohlenen Territorium entfernt – schon bekam man fünf Tage Arrest. Regelmäßig mussten wir uns in der Kommandantur melden. Alle zehn Tage ging ich dorthin, um mich registrieren zu lassen. Der Kommandant war ein Mann namens Chruschtschow. Er war äußerst grausam. An einen Fall erinnere ich mich. Ich rannte direkt von der Arbeit, noch mit dem Schraubenschlüssel in der Hand, zur Kommandantur. Zu der damaligen Zeit war das ein wertvolles Werkzeug, und einfach liegenlassen durfte man so etwas nicht, denn sonst hätten sie in aller Strenge nachgefragt. Ich kam also in die Kommandantur, stehe mit meinem Schraubenschlüssel in der Schlange, und irgendwie komme ich einfach nicht an die Reihe. Es werden immer nur die anderen aufgerufen. Ich wartete und wartete, und schließlich frage ich: „Wann komme ich denn endlich dran? So viele Leute sind schon vor mir aufgerufen worden!“ Und der Kommandant erwidert: „Nimm du erstmal die Waffe weg!“ Ich musste hinausgehen, warten, bis jemand kam, dem ich den Schraubenschlüssel vorübergehend anvertrauen konnte…
Zwei Jahre später verlegten sie Karolina von der Ziegelei zum zentralen Holzverarbeitungskombinat und schickten sie dann zu einer Heizeri9nnen-Ausbildung. Nachdem sie die Kurse beendet hatte, war sie in diesem Beruf sieben Jahre lang an Lancashire-Kesseln tätig. Sie ruinierte ihre Gesundheit, bekam die Berufskrankheit Tuberkulose, neue Probleme begannen – eine lange Behandlung, Operationen… Insgesamt arbeitete sie in Karaganda neun Jahre.
1956 wurden die Einschränkungen für die Deutschen aufgehoben., und in diesem Moment verlangte man von ihnen ihre Unterschrift unter die Bestätigung, dass sie keinerlei Ansprüche auf Rückkehr an die Wolga und Kompensation für den seinerzeit zurückgelassenen Besitz erheben würden. Auch Karolina setzte ihre Unterschrift unter das Schriftstück.
Nachdem sie das Recht auf Bewegungsfreiheit erhalten hatte, kam Karolina nach Jermakowskoje, wo ihre Schwester und Mutter lebten. Zu dieser Zeit hatte sie schon ihre eigene Familie. Hier absolvierte sie sieben Klassen an der Abendschule und besuchte danach das Schuschensker landwirtschaftliche Technikum, wo sie den Beruf der Technikerin und Mechanikern erlernte. Das Jermakowsker Klima war, wie es schien, ungeeignet für die junge Frau mit ihrer offenen Form der Tuberkulose. Sie erkrankte noch schlimmer. Zudem war die Versorgung in der Ortschaft, im Vergleich zu Kasachstan, nicht besonders gut. Karolina verließ den Ort, um auf dem Neuland ein besseres Los zu suchen. Sie arbeitete dort als Mechanikerin, Sortiererin, Normsachbearbeiterin. Später kehrte sie erneut nach Jermakowskoje zurück, war in der Mast-Sowchose tätig, und als diese liquidiert wurde, wechselte sie als Dispatcherin zur Jermakowsker Filiale der Minussinsker Fahrzeug-Depot. Sie bekam von dem Unternehmen eine gut eingerichtete Wohnung. Von hier ging sie 11 Jahre später in Rente.
- Wo ich auch tätig war – immer mochte ich die Arbeit und habe sie geschätzt. Die Arbeit stand für mich immer an erster Stelle, - lächelt die Frau. – Was ich im Leben nicht alles durchgemacht habe. Kann man den mit Worten vermitteln, was man in all den Jahren erlebt hat. Sie haben uns beleidigt und gedemütigt, uns bedroht. Trotzdem hat es noch mehr gute Menschen gegeben.. Egal, wo ich auch gelebt habe – ich hatte immer die besten Nachbarn, die besten Arbeitskolleginnen. Besonders warme Erinnerungen sind mir an die Klassenkameradinnen geblieben; in der Lehreinrichtung nannten sie mich nicht anders als Linotschka.
Karolina Karlowna wurde noch in Kasachstan rehabilitiert. Dem gingen Jahre des Schriftverkehrs und Papierkriegs voraus. Es stellte sich heraus, dass das alles eine langwierige Prozedur war. „Nein – es soll nicht eine ganze Nation, die der Deportation ausgesetzt war, auf einmal rehabilitiert werden, - philosophiert die leidgeprüfte Frau. – Nein, jeder einzelne soll die Rehabilitation erhalten“.
Karolinas Vater, Lehrer für Geschichte und Geografie, wurde mit seiner neuen Familie ebenfalls aus dem Wolgagebiet ausgesiedelt. Er war krank, trotzdem schickten sie ihn siebenmal in die Arbeitsarmee, in den Norden der Region Krasnojarsk. Er starb in der Ortschaft Idscha, im Schuschensker Bezirk, nachdem er sich selber vor seinen Töchtern und insbesondere vor Karolina angeklagt hatte, dass er sie einst im Stich gelassen hatte.
Auch andere Mitglieder der großen Familie Lorenz waren Verfolgungen ausgesetzt. Den Einen schickten sie hier-, den anderen dorthin: nach Kasachstanh, ins Altai-Gebiet, in die Region Krasnojarsk. Den leiblichen Onkel Alexander Genrichowitsch verschleppten sie beispielsweise mit seiner Familie in die Altai-Region. Später wurde er verhaftet und ins Lager geschickt. Dort verbrachte er 14 Jahre und kehrte dann zurück. Während seiner Abwesenheit starben seine Frau und sein Sohn aufgrund von Hunger. Später, nach der Rehabilitierung, zahlten sie ihm seinen gesamten Lohn für 14 Jahre aus, sprachen ihn frei und nahmen ihn wieder in die Partei auf.
- Als er in Rente ging, kam er zu uns und traf mit allen Schwestern zusammen, - sagt Karolina Karlowna. – Ich weiß noch, dass wir die ganze Nacht mit ihm redeten. Ich meinte: „Du hast so viel durchgemacht, Onkel Sascha. Bist du böse auf den Staat?“ Er antwortete folgendermaßen: „Hat die Mama dich irgendwann geschlagen?“. „Ja“. „Und bist du ihr deswegen böse?“ – “Nein, das bin ich nicht“. „Siehst du, und ich bin es auch nicht“.
Doch bei mir ist der Unmut geblieben. Alles, was war, haben sie uns genommen – DIE Kindheit, die Jugend. Wir haben viel gearbeitet, uns nicht geschont und dabei unsere Gesundheit eingebüßt. Nach der Schlacht um Stalingrad trafen so viele Todesbenach-richtigungen bei den Menschen ein. Es war den deutschen Kindern nicht möglich, nach draußen zu gehen – sie wurden gehänselt und geschlagen. Aber worin lag denn die Schuld der Kinder? Und wessen hatten sich die russifizierten Deutschen schuldig gemacht, die bereits seit mehreren Jahrhunderten in Russland lebten und längst Bürger dieses Landes geworden waren? Weshalb hatten sich die fleißigen, ehrbaren und ordentlichen Deutschen plötzlich im Handumdrehen in Menschen zweiter Klasse verwandelt und waren Verfolgungen ausgesetzt?! – fragt sich Karolina Karlowna.
Jahrzehnte sind vergangen. viele Repressionsopfer sind längst aus dem Leben gegangen, und haben somit auch keine Antwort auf die ständig quälende Frage erhalten: „Warum?“ Darauf gibt auch den heute noch Lebenden niemand eine Antwort.
Nina Kotowa
Die neunjährige Karolina mit ihrer Mutter
Die Lorenz-Schwestern (von links nach rechts) – Karolina, Irma und Dora
Karolina im Alter von 17 Jahren