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In der Verbannung blieben sie ohne Vater

Viktor Alexandrowitsch Kapis kennt die Siedlung Oiskoje gut. Jetzt ist er Rentner, aber irgendwann einmal ertönte sein Name nicht nur im Jermakowsker Bezirk, sondern im gesamten Land. Er war ein bedeutender Mais-Züchter. Für seine Mühevolle Arbeit erhielt er den Orden des Roten Arbeiter-Banners, mehrere Medaillen, zahlreiche Ehrenurkunden. Er zeigte seine Produktionsergebnisse sogar in Moskau auf der Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft. Bei ihm lernte das halbe Land, die Leute kamen, um sich seine Erfahrungen anzueignen. Doch es gibt in der Biografie dieses arbeitssamen Menschen auch traurige Seiten, weil seine Kindheit durch die Jahre der Repressionen versengt wurde.

Viktor Alexandrowitsch stammt aus einer deutschen Familie. Die Wurzeln seines Stammbaums gehen zurück auf das 18. Jahrhundert.

Seine Ururgroßväter gerieten unter Peter I nach Russland, der aus Deutschland Arbeitsmänner und Handwerker mitbrachte. Die aus Bayern zugewanderten Kappes (väterlicherseits) waren Schiffsbauer. Die Schneiders (mütterlicherseits) – Architekten.

In den 1920er Hungerjahren machte sich manch ein Verwandter auf der Suche nach einem besseren Los mit dem Dampfer auf nach Amerika. Die Frauen starben unterwegs, während ein einziger Junge (ein Angehöriger der Familie Kappes) bis auf den amerikanischen Kontinent gelang und dort auch blieb.

Warum wird der Familienname Viktor Alexandrowitschs Kapis und nicht Kappes geschrieben, wie es beim Vater und Großvater der Fall war? Weil beim Ausstellen der Papiere des Sohnes für die Aufnahme an der Fabrikfachschule sein „Kirchenregister“ verloren ging, und bei der Abschrift vom Duplikat im Dokument ein Fehler passierte. In der neuen Geburtsurkunde ist auch als Geburtsjahr 1934 vermerkt, nicht 1935.

Die kindliche Erinnerung hat Seiten aus der Familiengeschichte bewahrt: sie stammen sowohl aus Erzählungen der Eltern, als auch aus eigenen Erlebnissen.

Viktor Alexandrowitsch berichtet, dass seine Großeltern an der Bahnstation Nieder-Urbach im Gebiet Saratow lebten, und seine Eltern in der Stadt Engels. Der Vater, Aleksander Iwanowitsch Kappes, arbeitete als Modellierer in der Fabrik. Die Mutter, Jelisaweta (Elisabeth) Filippowna war an der Gemüse-Einsalzungsstelle tätig.

-Unser Großvater war 92 Jahre alt,- erzählt Kappes. – Sie enteigneten ihn als Großbauern noch vor Beginn des Krieges. Weil er reich war. Er besaß ein Haus, in der zweiten Etage wohnte die Familie mit neun Kindern, und im ersten Stock befand sich ein Laden. Die Familie hielt auch Kamele, die als Arbeitsvieh galten. Dort war ringsherum nur Steppe (Nieder-Urbach befindet sich unweit von Astrachan), da kommst du ohne Kamele nicht aus!

Noch vor dem Krieg, im Jahre 1939, kam der Onkel (Mutters Bruder) Stepan Filippowitsch Schneider, der bei der Miliz tätig war, eines Tages zu uns zu Besuch und gab uns den Rat, den Ort zu verlassen. Er warnte uns vor, dass eine Razzia beabsichtigt war – und sie alle Deutschen nach Sibirien schicken würden. Die Eltern folgten seinem Rat und reisten nach Usbekistan, nach Taschkent. Dort wurde ich auch geboren.

Unweit der Republik-Hauptstadt befand sich die Station Tarbasa mit einer Sowchose namens Mirsoljana. Eine Zeit lang lebten wir dort, dann erhielten wir von Stepan Schneider einen Brief mit der Mitteilung, dass die Hetzjagd beendet wäre und wir zurückkehren könnten. Das taten wir auch. Doch lange konnten wir im heimatlichen Haus nicht wohnen. Im September 1941 kam Stepan Schneider erneut, ganz unerwartet, und sagte, dass am kommenden Tag die Evakuierung der Deutschen beginnen würde.

Und so kam es auch. Am zweiten Tag kamen Bewaffnete (ich war damals sieben Jahre alt) und verkündeten unsere Evakuierung. Sie erlaubten jedem von uns ein Kissen, eine Decke und eine Ausstattung an Oberbekleidung mitzunehmen. Die Deutschen wurden fortgebracht, dafür holten sie die Juden an die Wolga. Sie sollten ihrerseits ein Schutzschild vor den einmarschierenden Deutschen sein.

Wir wurden in Viehwaggons abtransportiert. Außer mir gab es in der Familie auch schon den jüngsten Sohn Andrej, der vier Jahre jünger war als ich. Der dritte Bruder, Sascha, wurde dann schon in der Verbannung geboren.

Als wir durch Kasachstan fuhren, hielt unser Zug unterwegs an. Zu dem Zeitpunkt fuhr Onkel Stepan in einem Zug in die andere Richtung. Sie begegneten sich, und er sagte zum Vater: „Spring ab!“ Aber der weigerte sich: „Nein! Sollen sie uns doch hinbringen, wohin sie wollen“.

Sie verschleppten uns in den Schuschensker Bezirk, in das Dorf Srednaja Schusch, wo es eine Kolchose mit dem Namen „Weg des Kommunismus“ gab. Der Vater begann in der Schmiede zu arbeiten. Innerhalb einer Woche erlernte er dieses Handwerk. Er galt als unersetzbarer Fachmann im Ort. Alle hielten sich an ihn. Und eines Tages kamen sie und holten diesen meisterlichen Menschen in die Arbeitsarmee. Bei der Abfahrt befahl Vater der Mutter: „Verlasst Sibirien auf keinen Fall! Es ist ein reiches Land, hier kann man leben: die Taiga, Nüsse, Beeren, Pilze“. Und so blieben wir im Schuschensker Bezirk hängen.

Den Vater brachten sie in die Taiga zur Holzfällerei. Später erzählte man, dass der Vater im Traum gesehen hätte, dass ihm ein Sohn geboren wurde (tatsächlich erblickte Sascha in Abwesenheit des Vaters 1941 das Licht der Welt). Später kam ein Brief aus der Holzfällerei mit der Mitteilung, dass Alexander Kappes gestorben wäre. Nur ein einziges Jahr hatte er gearbeitet und nicht mehr erfahren, dass er noch einen weiteren Sohn bekommen hatte.

So blieben wir ohne Vater zurück. Mutter schleppte uns allein durchs Leben. Bald nachdem der Vater verstorben war, verlangten sie aus der Bezirkskommandantur, dass die Mutter einen Beweis über den Tod des Vaters erbringen sollte. Sie ging zu Fuß dorthin und gab das Dokument ab. Und als sie wieder hinging, um es abzuholen, sagte man ihr, dass die Urkunde verloren gegangen wäre. Wie sich später herausstellte, hatten sie sie einfach in den Mülleimer geworfen. So verhielt man sich also gegenüber den Repressierten.

Einige Zeit später wurde der Schuschensker Bezirk aufgeteilt. Es enstand der Jermakowsker Bezirk. Man verlegte uns in die Sowchose „Erwachen“, unweit von Kasanskoje. Dort lebten wir bis 1947. Der Ort war weit von der Kommandantur entfernt, in der die Mutter sich regelmäßig melden musste. Auch ich musste mich, als ich heranwuchs, zweimal im Monat dort melden. Ich war noch ein Jungchen, aber trotzdem besaß ich nicht das Recht, mich vom Verbannungsort zu entfernen. Unter Chruschtschow wurde die Kommandantur abgeschafft.

Als Mama allein mit ihren drei Kindern zurückblieb, arbeitete sie in der Sowchose „Erwachen“ zuerst als Arbeiterin, später als Melkerin. Nachdem wir nach Oiskij umgezogen waren, wurde sie bei den Mägden Brigadeführerin, bis zur Rente an ein und demselben Platz, und nach dem Eintritt in die Rente arbeitete sie noch drei Jahre weiter. Wenn man sich zurückerinnert – dann haben wir ein schweres Leben gehabt. Wir litten Hunger, fingen Ziesel-Mäuse, um etwas zum Essen zu haben. Zum Anziehen hatten wir auch nichts. Nur gut, dass die Mutter selber nähen konnte.

Übrigens, als wir an unserem Verbannungsort eintrafen, konnten wir kaum Russisch, und es gestaltete sich in der ersten Zeit sehr schwierig, sich mit der ortsansässigen Bevölkerung zu verständigen. Deutsch sprachen wir nur Zuhause. Mama hatte Angst sich vor den Leuten mit uns in unserer Muttersprache zu unterhalten. Uns, den Kindern, fiel es leichter Russisch zu lernen, als den Erwachsenen. Ich konnte beispielsweise als kleiner Junge drei Sprachen – Deutsch, Russisch und Usbekisch. Vater wurde von der Anklage entlastet und erst 1995 rehabilitiert. Mama erfuhr davon nichts mehr – sie starb 1994.

Damals trat Viktor Kapis in Schuschenskoje der Komsomolzen-Organisationbei. Der Sekretär fragte: „Nationalität?“ Der Jugendliche antwortete: „Ich bin Deutscher“. „Wie – Deutscher!? Fragte der Sekretär beunruhigt.- Schreib, dass Russe bist“.

-Das tat ich nicht, - meinte Viktor Alexandrowitsch. – Warum sollte ich den meine Nationalität geheim halte! Der Mann bedrängte mich einen ganzen Tag lang, aber ich gab nicht nach. Schließlich nahmen sie mich auf. Später wurde ich Kandidat für die Mitgliedschaft in der Partei, ich trat der KPdSU bei. Der Sekretär des Bezirkskomitees bat mich im Büro: „Erzähl‘ deine Biographie“. Das tat ich. Im Saal fing eine Frau an entrüstet zu rufen: „Ein Deutscher!“ Und dann schlug sie voller Entrüstung auf ihren Stuhl. Der Sekretär sagte: „ Verlassen Sie den Saal!“ Sie ging. Mich nahm man in die Partei auf.

In seiner Kindheit durchlief Viktor lediglich drei Schulklassen. Später erhielt er die mittlere Schulbildung an der Abendschule, wo er alles Versäumte nachholte. Er beendete das Abakansker polytechnische Technikum auf dem Spezialgebiet „technische Wartung und Reparatur von Automobilen“. Er hatte beruflich mit Traktoren unterschiedlicher Marken zu tun. Er war Brigadeleiter, danach Leiter der Reparatur-Werkstatt in Oiskoje (Sowchose namens Schtschetkina), Maiszüchter. Inzwischen ist er bereits seit 20 Jahren in Rente.

Seine Ehefrau, Walentina Michailowna, ist Arbeitsveteranin; sie hat ihr ganzes Leben, angefangen mit 16 Jahren, als Melkerin gearbeitet. Die Kapis haben einen Sohn und eine Tochter, fünf Enkel- und vier Urenkelkinder.

Larissa Golub


Stepan Schneider mit den Eltern


Jelisaweta (Elisabeth) Filippowna Kappe


Viktor Alexandrowitsch in reiferen Jahren


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