Arthur Alexandrowitsch Jung teilte das Schicksal der aus dem Wolga-Gebiet deportierten Deutschen. Er wurde in dem Dorf Nischnaja Woljanka im Bezirk Gmelin, Gebiet Saratow, geboren. Dort lebte er bis zur Ausweisung mit seinen Eltern, das heißt bis September 1941.
- Man kann sagen, dass in dem Dorf ausschließlich Deutsche lebten; es gab nur sehr wenige Russen – höchstens in gemischten Familien, - erzählt Arthur Alexandrowitsch. - Familien– in denen ein Ehegatte Russe war, wurden nicht ausgesiedelt. Ich erinnere mich noch, dass der Tag, an dem wir ausgesiedelt wurden, ein Sonntag war. Zuerst wurde das Vorhaben verkündet. Die Mutter fing an zu weinen und sagte: „Sie wollen uns fortbringen…“. Es war Anfang August – die Zeit der Ernte. Am Sonntag ruhten sich normalerweise alle aus, man brachte die Brigaden vom Feld nach Hause, und dort blieb nur der Diensthabende zurück. An dem Tag hatte gerade der Vater Dienst. Ich war damals fünf Jahre al5t, ich war das einzige Kind meiner Eltern. Mutter sagt: „Geh‘ zum Vater, erzähl‘ ihm von der Aussiedlung; er soll alles stehen und liegen lassen und nach Hause fahren“. Ich spurtete zum Feld. Der Vater war vollkommen verwirrt, als er die Neuigkeit hörte. Und uns erklärten die Behörden-Vertreter, man würde uns vorübergehend zum Bäume fällen schicken. Nehmt Sägen mit und alles an Kleidung, was in erster Linie notwendig ist. Alles andere lasst hier, so einfach verschwindet hier nichts. Und wir ließen, wie alle anderen auch, unser Haus und unser Vieh im Stich und fuhren los. Niemand ging zu Fuß. Alle Familien bekamen Fuhrwerke zur Verfügung gestellt. In der Nacht trafen wir an der Bahnstation ein. Dort befanden sich viele Menschen, hauptsächlich Familien. Jede von ihnen nahm ein kleines Eckchen ein. Auch wir suchten uns im Bahnhofssaal ein Plätzchen. Wir hatten ein wenig Essen mitgenommen, nur das, was wir in der Eile hatten einpacken können. Aber es gab keinen Zug. Sie sagten, er würde morgen kommen. Doch auch am folgenden Tag traf kein Zug ein. Wir mussten mehrere Tage auf ihn warten.
Schließlich rollte ein Zug mit Viehwaggons heran – Kälberwaggons, wie man sie damals nannte. Darin gab es keine Sitzbänke, sondern nur Pritschen. Man befahl uns: steigt ein! Wir setz6ten uns irgendwo hin. Der Zug fuhr los. Unterwegs passierte alles Mögliche, aber wir, die Passagiere, wurden nicht unterdrückt. Es kam vor, dass der Zug in der Steppe hielt und lange stehen blieb. Man durfte den Waggon verlassen und sogar schauen, ob man irgendeine warme Mahlzeit zubereiten konnte. Sie entfachten Lagerfeuer, kochten in Kesseln Wasser auf und machten etwas zu essen. Die Lokomotive pfiff – alle ergreifen ihre Töpfe (egal, ob der Inhalt bereits gekocht war oder nicht) und rennen zurück in ihren Waggon.
Uns brachten sie nach Kasachstan, in irgendeinen Bezirk. Später transportierten sie uns weiter durch Kasachstan. Wir trafen in Karaganda ein. Dort befand sich ein Wolfram-Molybdän-Bergwerk. Daneben eine Siedlung namens Akschatal. Aber man brachte uns nicht sofort hier unter, sondern teilte uns zunächst der kleinen Bahnstation zu, die zwischen dem eigentlichen Bahnhof und dieser kleinen Siedlung gelegen war. Damals gab es entlang der gesamten Trasse kleine Stationen. An unserer gab es nichts weiter als – ein einziges Häuschen. Ein Teil der Menschen wurde ausgeladen, die anderen wurden weitertransportiert. Der Leiter der kleinen Station kam an, ein äußerst roher Mensch. Er erteilte die Anordnung: „Los! Alle auf den Schotterweg! Zum Aufschütten!”
An dieser winzigen Station lebten wir zwei oder drei Jahre. Es gab dort eine Kantine. Wir bekamen nur morgens und abends zu essen. Während die Erwachsenen arbeiteten, fingen wir Kinder (wir waren zwei Jungs) Vögel; wir wollten doch so gern essen. Aus Pferdehaar machten wir Knötchen, die wir an einem Brett befestigten; das ergab eine Falle. Der Hunger zwang einen zum Nachdenken. Die kleinen Vögelchen kochten und aße4n wir.
Es gab auf dem Areal technisches Gerät – eine motorbetriebene Walze und einen Straßenhobel zum Anhängen. Die Walze befand sich in einem schlechten Zustand – eine Reparatur war erforderlich. Sie erfuhren, dass mein Vater Traktorist war, und wandten sich an ihn. Vater reparierte also die Walze und fing dann an, damit zu arbeiten.
Es herrschte immer noch Krieg; Amerika lieferte an die Sowjetunion Traktoren und Automobile. Aber es gab nur wenige Spezialisten, denn die meisten Männer kämpften an der Front. Sie holten Vater zum Bergwerk, er nahm einen großen Traktor. Mutter und Vater fuhren über die Trasse und ebneten die Straße ein. Vater saß auf dem Traktor, Mutter arbeitet mit ihm als Kollege am Straßenhobel. Einmal sah er vor sich etwas Weißes. Er hielt an, um es sich genauer anzusehen. Es stellte sich heraus, dass am Straßenrand ein Sack mit Mehl lag. Was sollte er tun? Mutter zog ihren Rock aus und band ihn zusammen. Dann schütteten sie das Mehl hinein. Das im Sack verbliebene Mehl versteckten sie in der Steppe unter einem großen Busch.
Und alle, die beim Straßenbau beschäftigt waren, lebten zusammen in einem großen Zelt. Es gab für alle nur einen einzigen Ofen. Und alle konnten alles sehen. Die Mutter stellte aus dem Mehl einen Teig her und kochte daraus Knödel. Alle waren natürlich erstaunt darüber, woher sie das Mehl hatte. Doch niemand verriet die Familie. Das war damals so eine Zeit, als es kein Rowdytum und keine Intrigen gab!
Und das Mehl beförderte damals der Begleiter. Er traf vor Ort ein und – ein Sack fehlt ihm. Wo kann der nur sein? Vermutlich hat er ihn unterwegs verloren. Er begann zu suchen, die Leute zu befragen, ob sie nicht jemanden gesehen hätten… /Und da erinnerte sich jemand an unsere Knödel… Der Vater gestand alles, sagte, dass er die Reste des Mehls unter einem Strauch versteckt hätte. Sie fuhren dorthin, aber da lag unter dem Busch schon nichts mehr. Sie ließen den Vater nicht frei, sondern steckten ihn in den Kerker. Vater war nicht imstande zu lügen, er hatte stets die Wahrheit gesagt. Ein Dank dem Ermittlungsrichter, der sich als gutmütiger Mensch erwies. Er entließ den Vater in die Freiheit. Soll der, der ihn verloren hat, vor dem Gesetz auch die Verantwortung dafür übernehmen.
Nahe der Stadt Karaganda befand sich ein Lager für politische Gefangene. Den Traktor, auf dem der Vater arbeitete, verladen sie auf einen Anhänger und bringen ihn zusammen mit dem Vater zu diesem Lager. Die Steppe ist riesengroß, und auch das dort befindliche Lager hat ungeheure Dimensionen – die Wachtürme der Wachmannschaften standen bis an den Horizont heran. Dort saßen wohl nicht tausende, sondern Millionen von Menschen ein. Die Häftlinge verpflegten sich selber. Sie bauten dort Kartoffeln und Kohl an und salzten ihnen selber ein. Sie versorgten nicht nur sich, sondern brachten ihre Erzeugnisse auch in Areale außerhalb des Lagers.
Später wohnten wir, so erzählt Arthur Alexandrowitsch, am Bergwerk, dort, wo sich die Schachtanlagen befanden. Wir holten Gestein herauf, zerkleinerten es, wuschen es aus – so wie man es auch mit Gold macht. Der Vater arbeitete in diesen Schächten. Anfangs richteten sie diese Gruben selber ein, danach förderten sie dort schon Wolfram und Molybdän. In den Bergwerken war es finster und staubig, und die Menschen atmeten diese Luft ein. Der Vater erkrankte dort an Lungen-Silikose. Das ist eine schreckliche Krankheit: der Staub in den Lungen verhärtet dort zu Zement. Mit 46 Jahren starb der Vater.
Als ich volljährig wurde, stellten sie mich ebenfalls unter Aufsicht. Ich musste mich jeden 10. Tag im Monat in der Kommandantur melden. 1956 wurde diese Aufsicht abgeschafft. In der Siedlung wohnte ein Mann, ein Koreaner, der allen dabei behilflich war, ihre Verwandten zu finden. Gegen ein bestimmtes Entgelt schrieb er an verschiedene Instanzen und machte auf diese Weise Angehörige ausfindig. So fand unsere Mutter mit seiner Hilfe ihre Schwestern wieder. Wir beschlossen, zu ihnen in die Stadt der Metallurgen, nach Temirtau, zu fahren. 1946 kam mein Schwesterchen Lida zur Welt. Zu dritt fuhren wir dann dorthin.
In Temirtau lebten wir schon in Freiheit. Als man uns aus der Verbannung entließ, bestätigten wir alle mit unserer Unterschrift, dass wir auf den seinerzeit an der Wolga zurückgebliebenen Besitz keinen Anspruch erheben würden. Der Kommandant drohte uns: „Schreib, dass du verzichtest. Wenn du das nicht tust, dann wirst du weiter Zwangsarbeit leisten“. Mutters Schwestern fuhren ebenfalls mit. Mutter starb 1977. Schwester Lidia lebt bis heute in der Gegend.
Eine vernünftige Ausbildung erhielt ich nicht, denn in der kleinen Siedlung gab es keine Schule. Mit zehn Jahren kam ich in die Schule. Nach 5 Klassen musste ich anfangen zu arbeiten. Ich lernte Elektriker. Man gab mir einen Lehrmeister. Ich stieg schnell auf. Aus dem Lehrling wurde ein Elektriker der 3.Leistungsklasse. Und dafür gab es schon so etwas wie einen Lohn. Mutter war zufrieden. Schon bald verliehen sie mir die 4. Leistungsgruppe, wenig später die fünfte, dann die sechste und schließlich die siebte – die höchste. Ich bekam Lohn auf dem Niveau eines Meisters.
Wenn ich mein Leben und jene Zeiten Revue passieren lasse, dann muss ich sagen, dass alle damals gut gearbeitet haben, niemand faulenzte. In Temirtau arbeitete ich als Elektriker der 7. Klasse in der Fabrik. Ich leistete gute Arbeit. Aber wie bewerteten sie meine Arbeit? Zu jedem Feiertag hielt der Direktor eine Rede und verlas einen Befehl über die Anerkennung der besten Arbeiter. Ich wurde in dieser Anordnung nie erwähnt. Was war das für eine Ungerechtigkeit! Und nur deswegen, weil ich Deutscher war. Damals verstand ich das nicht. Heute sehe ich, dass dem ganzen Volk eine derartige Prozedur widerfuhr.
Ich bin nicht böse auf dieses System. Weshalb nicht? Die Deutschen als Volk – sind ein ganz besonderes. Der Staat hat durch die Umsiedlung viel getan. Die Deutschen haben Kasachstan kultiviert. Und die Kasachen haben von den Deutschen alles Gute und Kulturelle übernommen. Eine ganze Nation haben sie kultiviert. Kasachstan tat einen Ruck aus dem Feudalismus unverzüglich in den Sozialismus. Dort standen vorher schmutzige Auls, und nun sind schöne Städte daraus entstanden. In dieser Hinsicht hat die Regierung gewonnen.
Aufgezeichnet von Larissa Golub
Arthur Alexandrowitsch Jung