Geboren 1923 im Dorf Kind, Kanton (Bezirk) Unterwalden, ASSR der Wolgadeutschen. Im Juni 1941 beendete sie die pädagogische Fachschule in Marxstadt. Wurde im September 1941 in die Region Krasnojarsk verschleppt. Befand sich ab 1942 in Sonderansiedlung im Ust-Jenisejsker Bezirk. Während des Krieges war sie im Fischfang tätig; arbeitete in der Ust-Porter Fischkonservenfabrik. Lebte in der Siedlung Ust-Port. Fuhr später mit ihrem Mann an die Wolga zurück.
Am 19. Juni 1941 fand in unserer pädagogischen Fachschule abends die Abschlußfeier statt, und drei Tage später brach er Krieg aus, der unser gesamtes Leben veränderte. Am 31. August traf ich mit meinen zukünftigen Schülern zusammen; nach dem Mittagessen erfuhr ich davon, dass die Deutschen umgesiedelt werden sollten. An dem Tag wurde die Schule von Soldaten besetzt.
In der Nacht fuhr ich zu den Eltern ins Dorf. Alle waren voller Gram und weinten. Am 4. September mußte sich unsere ganze Familie – Mama, mein Bruder und ich – für immer von unserem Haus verabschieden...
Im Juni 1942 brachten sie uns mit der ersten Partie Sondersiedler auf dem Jenisej nach Norden. Am 1. Juli wurden wir am Ufer der Nosonowsker Inseln, unweit der Siedlung Ust-Port, an Land gesetzt. Sie ließen uns einfach auf dem Ufersand zurück. Die Menschen lagen überall am Ufer des Jenisej. Ein Sturm kam auf, und alle wurden innerhalb kürzester Zeit ganz mit Sand zugeweht. In der Siedlung gab es einen kleinen Laden und eine Fischannahmestelle. Häuser gab es nicht. Wir beschlossen uns eine Behausung aus Grassoden zu bauen. Meist waren es Frauen, Kinder und Minderjährige, welche diese Bauarbeiten ausführten, denn die gesunden Männer waren alle in die Arbeitsarmee mobilisiert worden. Ab Juli bis Mitte Oktober lebten wir in diesen Hütten. Zu der Zeit wurde die Kolchose „Fischer des Nordens“ organisiert. Wir arbeiteten beim Fischfang. Man hatte immer wieder zu uns gesagt: „Euer Essen findet ihr im Jenisej!“ Wir fischten bis in den tiefen Herbst hinein barfuß im Schnee.
Der Erste unter uns starb am 12. November. Wir begruben ihn in Ladygin Jar. Ein junger Mann wurde bei lebendigem Leibe von Läusen zerfressen. Im Dezember brach der Skorbut aus. Die Menchen litten an Entzündungen von Zahnfleisch und Gelenken. Viele wurden von Epidemien befallen. Dijenigen, die sich noch auf den Beinen halten konnten, halfen den anderen, so gut sie konnten. Lebensmittel wurden nur bis zum Januar ausgegeben. Um sich vor dem sicheren Hungertod zu retten, kochten und aßen die Menschen Lemminge.
Im ersten Winter kamen zwanzig Menschen durch Hunger un Skorbut um. Das war der scherste Winter überhaupt. Im März brachte man uns Rentierblut und einen Sud aus Tannennadeln. Alle wurden gezwungen, ein halbes Glas von diesem bitteren Gebräu zu trinken. Mama und mein Bruder erkrankten ebenfalls schwer, nur ich blieb irgendwie auf den Beinen.
Mama rettete mich und meinen Bruder vor dem Hungertod. Aus Wolle, die sie von der Wolga hatte mitbringen können, strickte sie warme Kleidungsstücke und tauschte diese dann gegen Lebensmittel ein. Was man nicht alles für Arbeiten verrichten mußte: wir holten Eis aus dem Jenisej, schleppten auf unseren Schultern Torf und Kohle. Es war ein schweres Leben, aber wir lebten es in der Hoffnung, dass nach dem Krieg alles in Ordnung kommen würde und wir wieder nach Hause zurückkehren könnten. Wir dachten: „Wie soll es an der Wolga nur ohne uns weitergehen?“.
In der Siedlung Ust-Port waren insgesamt dreizehn Nationalitäten vertreten. Alle lebten einträchtig miteinander. 1948 wurden wir gezwungen ein Schriftstück zu unterschreiben, welches besagte, dass wir niemals in unsere Heimat zurückkehren, sondern für immer hier bleiben sollten. 1956 reisten viele Sondersiedler in ihre Heimatorte ab, aber die meisten Deutschen blieben. Es gab nichts, wohin sie hätten zurückkehren können.
Ich und meine schon betagte Mutter – Therese Andrejewna Karle träumten oft von unserem Heimatdorf, unserem Haus an der Wolga ... Ich wäre an die Wolga zurückgefahren, wenn nur unser Haus noch dort gestanden hätte ...
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Theresea Andrejewna Karle starb im Herbst 1993 im 95. Lebensjahr in der Siedlung Ust-Port. Im Museum wird ihr Spinnrad verwahrt, dass sie wie durch ein Wunder von der Wolga hatte mitnehmen können. Dieses Spinnrad rettete der Familie in der Verbannung hinter dem Polarkreis das Leben. Luisa Davidowna Filbert fuhr mit ihrem Mann, Peter Theodorowitsch, 1998 zurück an die Wolga.
Leitung für Kultur und Kunst der Verwaltung des Autonomen Gebietes Tajmyr (Dolganen
/ Nenzen).
Heimatkunde-Museum des Autonomen Gebietes Tajmyr.
„Museumsbote“. Ausgabe 1.
Dudinka, 2001