Aus den Erinnerungen von Amalie Kondratjewna Fritzler (Muth), geboren 1936.
Als unsere Familie repressiert wurde, war ich noch klein – gerade vier Jahre alt. Ich weiß von diesen Ereignissen aus den Erinnerungen meiner Eltern und kann mich auch ein wenig selber an jene schreckliche Zeit erinnern. Meine Mutter Amalie Kondratjewna Muth (der Vater hatte mir ihr zu Ehren den gleichen Vornamen geben wollen) und mein Vater Konrad (Kondratij) Kondratjewitsch Muth lebten im Gebiet Saratow, ich glaube in der Ortschaft Grimm. Sie hatten drei Kinder, zwei Töchter und einen Sohn. Die Familie wurde 1941 verfolgt, damals repressierten sie alle Deutschen. Den Vater holten sie nach Swerdlowsk zum Bäume Fällen; von dort kehrte er nicht mehr zurück. Mutter und die Kinder kamen ebenfalls in die Holzfällerei, 12 km von Krasnojarsk entfernt. Meine Schwester starb während des Transports. Zuerst setzte man uns mit einer Fähre über die Wolga, dann schickten sie uns im Zug nach Krasnojarsk. Er zählte viele Waggons, von denen ein Teil in Krasnojarsk abgekuppelt wurde, ein anderer Teil in Nischne-Ingasch, andere fuhren bis nach Kasachstan weiter. Wir wurden schlecht verpflegt; Mutter und ich hausten in einer Baracke. Die Baracke verfügte über zahlreiche Räumer, jede Familie hatte ihr eigenes kleines Zimmerchen mit Ofen zur Verfügung, und es gab einen großen gemeinsamen Flur. Mama erzählte, dass die Bäume von Männern gefällten wurden. Mama zersägte per Hand Holz. Sie bekamen schlechtes Essen, wurden beschimpft und beleidigt; wer nicht arbeiten wollte, den stießen sie von den Pritschen und trieben ihn unter Zwang zur Arbeit. Für die Arbeiter kochten sie Runkelrüben, die gelegentlich mit Pflanzenöl gewürzt wurden. Einmal war die Mutter dabei, die Kantine zu weißen, und die Küche schütteten ihr Runkelrüben-Suppe mit Pflanzenöl in eine Kanne; wir haben uns so darüber gefreut und alles aufgegessen.
Im Sommer wurden die Kinder zusammen mit ihren Müttern in die Kolchose geschickt. Wir pflanzten Kohl, Kartoffeln und anderes Gemüse. Dann jäteten wir Unkraut. Während der Sommerzeit lebten wir in Erd-Hütten. Einmal stürzte die Erdbehausung ein, nur gut, dass niemand getötet wurde. Wir kamen im Pferdestall dieser Hilfswirtschaft unter; aber was sollte man machen, es gab ja keinen anderweitigen Wohnraum.
Nach dem Krieg fuhren wir zu Mamas Schwester Frieda Dynssis (sie war mehrmals verheiratet) nach Taramba. Wir wohnten bei Maria Michailowna Fritzler. Zu jener Zeit waren viele Menschen Repressalien ausgesetzt. Mutters Bruder Jakob Jakowlewitsch Lefler gehörte auch zu ihnen. Jakob Aleksejewitsch Salzman wurde ebenfalls verfolgt, Andrej Schwarz (an seinen Vatersnamen kann ich mich schon nicht mehr erinnern) wurde auch verschleppt. Mein Bruder Fjodor Kondratjewitsch Muth befand sich in Ingasch in der Verbannung. In Taramba lernte ich später meinen zukünftigen Ehemann kennen, den ebenfalls repressierten Alexander Fritzler. Auch Saschas Bruder Karl Karlowitsch Kaiser wurde verfolgt; er arbeitete irgendwo im Lagerpunkt Sawodowka im Ingaschsker Bezirk; später kam er nach Taramba. Die Mutter meines Mannes, Emilie Jakowlewna Fritzler und ihre Schwester Rosa gehörten auch zu den Verfolgten; sie arbeiteten in einem forstchemischen Betrieb im Lagerpunkt Sawodowka. Später zogen sie nach Taramba um; das war 1948 – und da lernten wir uns dann auch kennen. Dann zogen mein Mann und ich nach Juschnaja, wo wir 40 Jahre lang lebten. Ja, es gab so viele repressierte Deutsche, aber auch die Litauer mussten Leid ertragen. Viele waren es.
Irgendwelche unserer Verwandten lebte in Amerika, Mutter hatte sie gekannt, aber ich kann mich nicht erinnern.
Anfang der 1990er Jahre, nachdem Mutter bereits tot war (sie starb 1990), kamen Litauer hierher, um ihre Toten vom hiesigen Friedhof zu holen; sie nahmen die sterblichen Überreste zur Umbettung mit zurück in die Heimat. Ich kann mich an nichts erinnern, ich war damals zu klein, aber A(u)gust Felde und seine Frau kennen alle; sie haben in der Trudarmee geschuftet, sie müssen sich an alles erinnern. Sie wohnen in Juschnaja in der Mechanisatorskaja-Straße, ihre Tochter Irma weiß eine Menge über jene schwere Zeit. Und für wen, war die Zeit damals schon leicht? Aber für uns war sie besonders schwer, weswegen habe sie uns verschleppt?
Aufgezeichnet nach den Worten von Amalie Kondratjewna am 19.01.2014
Von T.A. Mileschko