(Belvederska 41/16, 99-100 Lentschitza, Wojewodstwo Plotzk)
Im Gefängnis von Kaunas saß ich in der Zelle 91 für Politische. Außer mir als einzigem hatten alle den §58 wegen Partisanen-Aktivitäten. Nur drei Monate später kamen auch welche mit dem §82, wegen Fluchtversuch, hinzu. Alle waren sie jung, sie waren tatsächlich aus der Verbannung geflohen. Von solchen wie ich, die ganz legal weggefahren waren, gab es nur wenige. Ich erinnere mich an einen Russen, Wassilij Prosorow, der bis zum Krieg in Kaunas lebte. In sehr interessanter Weise erzählte er, wie er sich vor dem Krieg auf irgendeine Expedition nach Brasilien und andere südamerikanische Länder begeben hatte, um dort geeig-nete Plätze für Emigranten zu suchen. Er war schon 66 Jahre alt. Alle liebten und verehrten ihn sehr. Anscheinend bekam er 3 Jahre wegen Flucht aus der Verbannung, und ich weiß nicht, ob er am Leben blieb.
In Kolominskije Griwy waren wir zwei Jahre. Dann, im Juli 1943 verlegte man uns nach Gorelowka, in eben jenen Tschainsker Kreis, etwa 150 km von Kolominskije Griwy entfernt.
In Gorelowka war niemand aus Litauen, nur Esten. 1949 wurden Letten gebracht, und im Herbst 1951 Polen aus Wilna (Wilnius). Bis 1944 gab es dort polnische Ukrainer, aber sie wurden freigelassen und wegtransportiert. Jene von ihnen, die nicht nach Polen fuhren, sondern nach Hause zurückkehrten, gerieten nach einem Jahr erneut in die Verbannung, in den Ural.
In Kolominskije Griwy gab es drei Kolchosen: “Rodina“ (Heimat), „Kultura“ (Kultur) und „Serp“ (Sichel). Wir waren in der Kolchose „Rodina“, und Familien aus Birschaj und Zentral-Litauen gerieten in die Kolchose „Serp“. Ich kann mich an sie kaum erinnern. Schukauskene, Dambrauskene, Borisjawitschene, Mitzjunene und andere. Alle ihre Ehemänner kamen im KrasLag (Reschoty) noch im ersten Winter ums Leben.
Aus Wilnius hat man mir die Erinnerungen des St. Ankewitschjus geschickt, der von 1941 bis 1949 im 7. Lager-Stützpunkt (Reschoty) war, das heißt 8 Jahre.
Anmerkung: Gorelowka befindet sich am Fluß Baktschar, 20 km von der Mündung (Zusam-menfluß mit dem Parbig) und der Siedlung Ust-Baktschar entfernt.
K. SCHUKAS, aus dem Buch der Erinnerungen „BLICK IN DIE VERGANGENHEIT“
In Atschinsk kam ich nach Mitternacht an, um ein oder zwei Uhr. Was tun? Meinem zukünftigen Vorgesetzten konnte ich mich erst am Morgen vorstellen. Ich mußte auf dem Bahnhof übernachten. Viele Menschen waren dort, und der 1. Klasse-Erfrischungsraum war nachts geschlossen. Ich stellte meine Sachen in eine Ecke, setzte mich und begann zu schlummern.
Von Zeit zu Zeit gingen örtliche Eisenbahner an mir vorüber. Einer von ihnen lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich: seine Kleidung war aus grauem Tuch, ähnlich wie zuhause. Jedesmal, wenn ein Zug kam, ging er hinaus und zeichnete die Waggons ab.
Dann bekam ich Hunger, nahm ein Stück Käse heraus, das ich von zuhause mitgenommen hatte, und begann zu essen. Und plötzlich trat eben jener Eisenbahn-Angestellte auf mich zu und fragte:
„Sagen Sie, woher haben Sie solchen Käse?“
„Aus Litauen.“
“Dann sind Sie also von dort?“
„Ja“.
„Und Sie sprechen auch Litauisch?“
„Natürlich“.
„Und wie sind Sie hierher geraten?“
„Man hat mich an dieser Station als Telegrafisten eingesetzt. Ich bin gerade erst angekommen und warte darauf, daß es Morgen wird“.
„Bruder, ich heiße Kasis Gajgalas und stamme aus dem Swenzjansker Kreis. Gehen wir zu mir, ich wohne ganz in der Nähe.
Wir holten meine Sachen und begaben uns zu ihm nach Hause. Er ließ mich in seinem Bett schlafen; er selbst ging zurück an seine Arbeit.
Ich begann in Atschinsk zu arbeiten. Aber jenen guten Vorgesetzten, von dem man mir erzählt hatte, habe ich nie gesehen: er war fortgefahren, um sich in einem Sanatorium für Tuberkulosekranke behandeln zu lassen. Später erfuhren wir, daß er dort auch gestorben war. Er war der Sohn eines alten Aufständischen, den man nach Sibirien geschickt hatte.
Im Dienst stieß ich weder auf schwierige noch auf unbekannte Dinge. Es gab viel Arbeit, aber für einen jungen Menschen war das eine Lappalie. Ich hatte alle fünf Tage zweimal Tag-und Nachtdienst. Von fünf Nächten mußte ich also zwei arbeiten, und das war ein wenig ermüdend. Ich wohnte bei Kasis Gajgalas, weil an jungen Telegrafisten keine staatlichen Wohnungen vergeben wurden, und die Stadt auch vom Bahnhof ziemlich weit entfernt lag, ungefähr 4 Kilometer. Von dort aus mußte man durch den Wald bis in die Stadt gehen, wo man gelegentlich von Räubern überfallen wurde.
Wir lebten wie Geschwister zusammen. Beide freuten wir uns, daß wir einen Landsmann an unserer Seite hatten. Wir hatten zwei große Zimmer mit Heizung und Beleuchtung. Es kam das Jahr 1900.
Mein Atschinsker Kamerad, Kasis Gajgalas, wurde ständig befördert, und als ich Sibirien verließ, arbeitete er als Gepäck-Kassierer und bekam ein gutes Gehalt. Später, als er eine ausreichende Summe beisammen hatte, kehrte auch er nach Hause, nach Litauen, zurück, gründete eine Familie und bewirtschaftete erfolgreich in seinem Heimatdorf seinen Grund und Boden.
1941 ergriffen ihn die Bolschewiken und brachten ihn nach Sibirien zurück. In Krasnojarsk arbeiteten zwei Litauer als Haupt-Zugführer – Jatzyna und Krikschtschjukajtis. Sie beglei-teten Schnellzüge, was als gehobene Laufbahn galt. Auch den Maschinisten Sidsikowskij darf ich nicht unerwähnt lassen. Er stammte aus Wladislawow und hielt sich, trotz seines polnischen Nachnamens, für einen Litauer. Er lenkte Schnellzüge, darunter auch solche, die zu ermäßigten Preisen oder kostenlos verkehrten: mit großen Fürsten, Ministern, Oberbefehls-habern.
Von derartigen Zügen gab es nicht wenige. Zum Beispiel fuhr der Minister für Verkehrswege, Fürst Chilkow, allein im Jahre 1903, vor dem Russisch-Japanischen Krieg, fünfmal nach Sibirien. Es war sehr interessant anzusehen, wie Sidsikowskij den Zug lenkte. Er selbst war hochgewachsen, rotbärtig, mit einem weißen Hemd bekleidet, einem langen Smoking und weißen Handschuhen, auf dem Kopf einen Halbzylinder und zwischen den Zähnen eine Zigarre. Die Lokomotive glänzte wie Gold. Minister Schilkow reiste bei jeder seiner Fahrten, obwohl es nur um eine Strecke zwischen zwei Stationen ging, in der Kabine des Maschinisten. Auf diese Weise bekundete er Sidsikowskij seine Verehrung, wie einem Berufskollegen. Schilkow selbst lebte nach Beendigung der Oberschule einige Zeit in London, wo er anfangs als Weichensteller arbeitete und dann als Heizer und Maschinist. Ich kann mich meiner Dienststellung in jenen Jahren rühmen. Ich arbeitete als gewöhnlicher Telegrafist an der sehr wichtigen Linie Tomsk-Krasnojarsk, über die alle Telegramme aus Petersburg nach Irkutsk, Chita, Charbin, Wladiwostok und umgekehrt liefen. Dies waren größtenteils Regierungstelegramme. Mein Gehalt stieg bald auf 45 Rubel. Und als der Krieg begann, wurden ich und der Telegrafist Rischkus, ebenfalls Litauer, Haupt-Telegrafisten, und unser Gehalt, einschließlich Zuschlägen, kam auf 90 Rubel im Monat. Bei den damaligen niedrigen Preisen (Fleisch kostete 5-6 Kopeken das Pfund, Mehl 28-35 Kopeken pro Pud und ein Hase 5 Kopeken), konnte bei uns von Armut keine Rede sein. Rischkus und ich teilten unsere Pflichten auf die Weise, daß er sich mit den administrativen und Personal-Angelegen-heiten beschäftigte, und das waren in unserem Einzugsbereich schon mehr als 90 Personen, und ich mit der Abwicklung sowie Korrektur von Telegrammen und unserer gesamten Rechenschaftslegung.
So beschreibt der ehemalige litauische Verteidigungsminister, Oberst K. Schukas, in seinem Buch „Blick in die Vergangenheit“, das nach dem Krieg in den USA herausgegeben wurde, das Zusammentreffen mit Kasis Gajgalas und anderen litauischen Eisenbahnern, die zu Beginn des XX. Jahrhunderts in Sibirien gearbeitet haben. Vieles erzählte Kasis Gajgalas seinem Sohn über die Jahre, die er mit Schukas in Atschinsk verbracht hatte (sie hatten einige Jahre zusammen gearbeitet und während der ganzen Zeit in einer gemeinsamen Wohnung gelebt).