Nikolaj Fjodorowitsch GOLUBEW (10 Jahre GULAG). Ich, Nikolaj Golubew, wurde 1910 in der Stadt Wetluga als Bauernsohn geboren.
Zuerst hatte die Familie auf einem Einzelgehöft in Otlusicha gewohnt, aber die Sowjetmacht erteilte den Befehl, sich von dort aus dem Staub zu machen. Damals kauften sie dann ein kleines Häuschen in Wetluga. Insgesamt waren wir vier Kinder sowie Vater und Mutter.
Der Vater starb früh; da war ich drei Jahre alt. Und so fingen wir an Almosen zu sammeln – mit meiner kleineren Schwester streifte ich durch die umliegenden Dörfer.
Unter der Sowjetmacht schloß ich die vierte Klasse ab und arbeitete danach als Lehrling in der Kreis-Konsumgenossenschaft. Als ich in Wetluga wohnte, war ich in der alten Dreifaltigkeitskirche als eine Art Küster, der für das Schmücken des Altars zuständig war. Ich war immer ein gläubiger Mensch. Sogar in den schwierigsten Jahren habe ich nie meinen Glauben verloren.
1930 heiratete ich Marja Dmitrijewna Gladkowa, eine Bäuerin. Und gottlob lebe ich bis heute mit ihr Hand in Hand zusammen. Nachdem ich verheiratet war, fing ich an, in einem Eisenwarengeschäft zu arbeiten, und davor hatte ich Ofensetzer gelernt. In dem Eisenwaren-laden arbeitete ich als Gehilfe des Verwalters. In der Spät- und Sonntagsverkaufsstelle war ich vor der Verhaftung als Leiter tätig. Ich arbeitete rechtschaffen.
Eines Nachts holten sie mich. Sie verkündeten mir die Anklage: zusammen mit den Geistlichen sollte ich eine Verschwörung gegen die Sowjetmacht angezettelt haben. Ich hinterließ meine Frau mit drei Kindern: dem sieben Wochen alten Nikolaj, der zweijährigen Natascha und Ljudmila, die in ihrem sechsten Lebensjahr stand. Meine Frau erhielt weder eine Essensration noch bekam sie ein Stück Land zum Heu ernten, gar nichts. So hätte sie nicht einmal eine Kuh durchfüttern können.
Mich jagten sie in jener Nacht mit einem Gefangenentransport in die Stadt Warnawin. Tage und Nächte verstrichen, es war Winter, die Zeit des Nikola-Feiertages. Sie steckten mich ins Gefängnis, dann verlegten sie mich nach Nischnij Nowgorod, ebenfalls ins Gefängnis. Da waren so schrecklich viele Häftlinge, Väterchen, und auch andere Leute, man konnte sich nicht einmal hinlegen. 25 Mann schoben sie in eine Einzelzelle. An den Zellentüren sitzen sie ohne Hemden – es ist heiß, aber am Fenster tragen sie einen Mantel – weil es so kalt ist.
Es gab keinen Prozeß, eine Trojka verlas lediglich das Urteil. Zehn Jahre gaben sie mir und schickten mich ins Krasnojarsker Lager – ins „KrasLag“. Es befand sich in der Stadt Kansk. Und die ganzen zehn Jahre blieb ich auch an diesem Ort. Ich arbeitete am Fluß: beim Holzabflößen. Die Ration betrug 600 gr Brot am Tag, und von meiner Frau erhielt er Pakete und Briefe. Die Lagerleitung tat mir nichts Böses. Alle baten sie mich darum, Öfen zu bauen. 1947 ging ich nach Hause, arbeitete 2 Jahre bei der Holzbeschaffung. 1950 verhafteten sie mich erneut. Sie erhoben genau dieselbe Anklage, deretwegen ich bereits beim ersten Mal verurteilt worden war. Sie trieben mich ins Gefängnis nach Gorkij. Dort erkrankte ich im Kopf, bekam Anfälle von Wahnsinn, lag in der psychiatrischen Klinik, die dem Gefängnis angeschlossen war. Meine Frau ging in Wetluga zu NKWD-Leiter Korolew, um zu erfahren, weshalb ihr Mann keine Briefe schrieb. Jener antwortete, daß der im psychiatrischen Krankenhaus läge. Und da kam meine Frau nach Gorkij gefahren, aber sie erlaubten ihr nicht, mich wiederzusehen. Sie begründeten das damit, daß ihr Mann zu schwach wäre; aber das Paket nahmen sie an.
Danach verlangten sie von mir, daß ich in die Verbannung fahren sollte, obwohl ich so krank war. Sie stützten mich unter den Armen, als sie mich aus dem Gefängnis hinausführten. Und dann schickten sie mich mit dem Zug in die Verbannung in den Norden Kasachstans, an die Station Bulajewo, eine Sowchose, die 100 km von Petropawlowsk entfernt lag.
Dort waren schon andere Verschleppte aus unserer Gegend. Sie hatten sich eine Erdhütte gekauft und nahmen mich darin mit auf. Ich fing eine Arbeit im Kälberstall an, ich hütete Kälber, und sie gaben mir ein Pferd, um damit das Futter und den Stallmist zu transportieren.
Sie erteilten den Befehl, die Kolchoswirtschaft wieder aufzubauen. Tschausow war der Direktor dort, ein sehr guter Mensch. Er war es auch, der meiner Frau einen Brief schrieb, in dem er ihr die Erlaubnis erteilte, die Familie hierher zu bringen. Die Älteste hatte die Fachschule für Medizin beendet, sie fand eine Arbeit im Dorf. Und dann kamen sie also: Nikolaj - 12 Jahre alt, Natascha – 15 Jahre alt. Die Familie richtete sich im Schweinestall ein. Sie fingen an, dort alle gemeinsam zu leben. Heizen taten sie mit Schilf und Stroh. Im Stall rieselte es immer von der Decke herab. Es gab eine Schule, dorthin gingen die Kinder. Die Frau fing auch an zu arbeiten. Der Sohn trieb das Pferd zur Tränke. Das Pferd trat ihn, und keiner glaubte, daß er durchkommen würde. Aber er erwachte wieder zum Leben. Natascha arbeitete; sie half dem Feldscher, fuhr herum und gab in den Revieren Medizin gegen Malaria aus. Den Winter standen wir durch, und dann zwangen sie uns, eine Erdhütte zu bauen. Sie gaben uns eine paar Ochsen. Wir pflügten eine Schicht vom Rasen um, deckten damit unsere Behausung ab - und da wohnten wir dann in zwei Zimmern. Die Kinder rührten die Masse an, und wir mauerten. Von diesem angerührten Material bekamen die Kinder sogar Nasenbluten. Später schafften wir uns Sachen für unsere Wirtschaft an: eine Kuh, Gänse, Enten. Die Menschen um uns herum, die hier ebenfalls in der Verbannung lebten, waren sehr gute Menschen, niemand nahm einem anderen etwas weg. Später schickten sie ein Väterchen zu uns in den Schweinestall – er hieß Vater Grigorij und stammte aus Bogorodsk. Er lebte nun mit uns und hatte bis zu dem Zeitpunkt zwanzig Jahre abgesessen. Es gab viele Nonnen aus Gorkij. Das Väterchen zog mit uns auch in die Erdhütte um. Sie erlaubten sogar, in einer gesonderten Erdhütte Gottesdienste anzuhalten. Das Väterchen hieß mit Nachnamen Sedow.
Vier Jahre hatten wir dort gelebt, als eine Verordnung erging, die besagte, daß wir für nichts hier saßen, daß wir nämlich überhaupt nicht schuldig waren. Da hatten wir bereits das Jahr 1956. Man schickte Komsomolzen zu uns, im Austausch gegen andere - sie erwiesen sich als Diebe und Gauner. Sie organisierten eine Miliz. Die Kinder durften auch nicht in den Klub gehen. Aus Jaroslawl stellten sie vier bei uns ein –gib ihnen zu essen und zu trinken, wenn du ihnen nichts gibst, dann setzt es was. Sie erpreßten Geld für Wein. Sonst, sagten sie, fackeln wir euch ab. Ich warf sie aus der Wohnung. Auch Vater Grigorij wurde freigelassen; er hielt noch einen Gottesdienst ab, dann fuhr er fort. Aber das Väterchen und die Nonnen blieben dort – für sie gab es keinen Ort, an den sie hätten fahren können.
Wir erreichten Wetluga, kauften ein Haus im Dorf. Bis 1994 bekam meine Frau keine Rente. Ich erhielt 60 000 Rubel, und meine Frau – einen „Fünfer“. Als meine Frau 80 Jahre alt wurde, bekam auch sie nach und nach eine Rente, weil sie während des Krieges Kinder großgezogen hatte.
Jetzt bekommt sie ihre Rente akkurat ausgezahlt. Zusammen erhalten wir 528 600 Rubel plus staatliche Zuwendungen. Das Leben ist teuer, wir müssen uns für alles Hilfe holen – Brennholz kaufen, zersägen und spalten. Wir haben unseren Sohn Nikolaj, der ist auch krank. Der ältesten Tochter hat man ein Bein abgenommen, sie ist Invalidin, kann uns nicht helfen. Die mittlere, Natascha – es ist jetzt 12 Jahre her, daß sie im Alter von 46 Jahren gestorben ist. Alle helfen sie uns für Geld. Unser Väterchen Nikolaj ist ein so guter Mensch, manchmal bringt er uns in die Kirche.
Aus dem Buch: „GULAG: seine Erbauer, Insassen und Helden“
Frankfurt/Main – Moskau, 1999