(Fragment aus den Erinnerungen von Arnold Moisejewitsch Gordin)
Andrej Josifowitsch Kukulinskij tauchte bei uns auf dem Bau im Frühjahr 1931 auf; er war von der Politischen Abteilung für Straßenbau geschickt worden. Damals war er 25-26 Jahre alt. Etwas mehr als mittelgroß, schwarzhaarig, mit länglichem, hübschem Gesicht, glänzenden, kastanienbraunen Augen, war er stets am Lächeln – so erinnere ich mich an ihn aus jenen Jahren. Er verfügte über einen klaren Verstand und ein gutes Gedächtnis; er sprühte vor Energie und war ein geschickter, sachkundiger Partei-Propagandist, hervorragender Sportler und wunderbarer Kamerad. Ganze Tage verbrachte er in Montage-Brigaden, eignete sich schnell alle Arbeitsmethoden eines in großen Höhen arbeitenden Monteurs sowie die dazu erforderlichen akrobatischen Fertigkeiten an. Alle mochten ihn. Beim Bau arbeitete er gut zwei Jahre und war mir Gehilfe und Freund zugleich. Gemeinsam meisterten wir das Durcheinander und die Schwierigkeiten der ersten Jahre auf Montage.
Andrej heiratete. Seine Frau war 6 oder 7 Jahre älter als er, korpulent, eine etwas schwammige Frau, die mir nicht gefiel. Aber Andrej fühlte sich ihr sehr zugetan.
Im Herbst 1933 wurde Kukulinskij nach Swerdlowsk abberufen. Er beendete das Technikum und arbeitete beim Lokomotiven-Dienst, wobei er auf der Dienstleiter schnell voran kam.
Einige Jahre vergingen. Im Herbst 1938 wurden mehrere tausend Gefangene über den Nordmeer-Seeweg auf dem Dampfer „Budjonnyj“ von den Solowezker Inseln nach Norilsk geschafft. Die Mehrheit der Häftlinge, unter ihnen auch ich, waren nach „§58“ verurteilt worden, nachdem man uns 193?, während der Zeit des Stalinschen Personenkults, verhaftet hatte. Sie waren keine Verbrecher, sondern Opfer der Willkür.
Etwa ein Drittel der Passagiere waren Kriminelle – Diebe, Mörder, Leute, die in Bestechungen verwickelt gewesen waren, usw. Die Verbrecher versuchten sich die Politischen gefügig zu machen, sich ihre Sachen und einen Teil ihrer täglichen Essensration anzueignen. In den Frachträumen des Schiffes herrschte Kampfstimmung, es kam häufig zu Schlägereien. In jeder Frachtabteilung gab es einen Starost, einen Ältesten, über den die Wachen ihre Anordnungen weiterleiten ließen; außerdem verteilte er die Rationen und regelte die Gänge an Deck.
Der Starost unseres Frachtraums war Andrej Kukulinskij. Wir beide freuten uns über die Begegnung. Andrej ließ den Mut einfach nicht sinken. Wie früher strahlten die Zähne in seinem lächelnden Gesicht; auch hier liebte man ihn, denn er brachte es fertig, mit allen gut auszukommen, sowohl mit den Politischen, als auch mit den Kriminellen.
Das Jahr 1937 war auch an ihm nicht spurlos vorüber gegangen. Er wurde zusammen mit der gesamten Leitung verhaftet. Das Ermittlungsverfahren verlief sehr streng; er wurde dabei mehrfach geschlagen, und man versuchte ihm ein Geständnis abzupressen, obwohl er sich keinerlei Vergehen schuldig gemacht hatte. Doch er bekannte sich, ebenso wie der Leiter des Straßenwesens, der alte Kommunist Schachgisjan, nicht schuldig. Trotzdem wurde er zu 10 Jahren Haft verurteilt.
In Norilsk kamen wir in verschiedene Brigaden und sahen uns mehrere Monate nicht. Im Winter 1939-40 war ich mit „ungelernten Arbeiten“ beschäftigt, hob Erde aus, war häufig krank, und das Leben insgesamt gesehen war sehr schwierig.
Irgendwie begegnete ich im Lagerpunkt Andrej. Auch im Lager war es ihm gelungen sich anzupassen. Man hatte ihn zum Brigadeleiter ernannt. Seine Brigade galt als eine der besten im Lager, sie übererfüllte die Norm und erhielt Vergünstigungen bei der Verpflegung.
Andrej machte Anstalten mir zu helfen. Der „Arbeitsanweiser“, mit dem er ganz gut bekannt war, legte während der Nacht meine Arbeitskarte aus der Erdarbeiter-Brigade zu denen der Installateure. Ich kam demzufolge in die warme Armaturen-Werkstatt und eignete mir nach und nach die Fähigkeit des Zusammenschweißens von Armaturen für Träger-Balken an.
Kukulinskij verfügte in der Brigade über uneingeschränkte Macht. Wie hatte er das erreicht? Er hatte sich zwei Gehilfen ausgesucht. Einer von ihnen war zur Zeit des Bürgerkriegs Partisanen-Kommandeur gewesen, ein Mann mit gewaltiger Körperkraft, der in der Lage war, mit einem einzigen Faustschlag jemanden in s Jenseits zu befördern. Bei dem Zweiten handelte es sich um einen der Diebes-Anführer mit Spitznamen „Grauer“. Beide sahen in Kukulinskij den Organisator und Führer und ordneten sich ihm widerspruchslos unter. Nachdem er in der Brigade Disziplin eingeführt und ein paar erfahrene Schlosser ausgesucht hatte, gelang Kukulinskij die Übererfüllung des Aufgabenplans auf 200-300%. Die Lager-Leitung zählte auf ihn, verbesserte die Verpflegung und erhöhte den Arbeitslohn. Der Brigadeführer und seine Helfershelfer genossen jegliche Lagervorzüge – beliebige Lebensmittel, selbstgemachten Wein, mitunter sogar Wodka. Mir legte Andrej nahe, mich nicht zu sehr in die Arbeit hineinzustecken und versicherte mir, dass man „zu leben verstehen müsse“.
Schon bald hatte ich mir die Arbeit eines Maschinenschlossers angeeignet; meine Hände, die in den ersten Woche aufgrund des ständigen Kontakts mit Metall von zahlreichen Rissen durchzogen gewesen waren, verheilten und verhärteten.
Später benötigte das Norilsker Kombinat Ingenieur-Elektriker, und man verlegte mich zum Projektierungskontor des Kombinats; die Lebens-und Arbeitsbedingungen verbesserten sich. Die schwierigste hatte ich Dank der Hilfe Kukulinskijs durchstehen können.
Ein weiteres Jahr verrann, der Krieg gegen die Faschisten war bereits in vollem Gange. Einmal, als ich nachts in der Baracke auf meiner Pritsche lag und schlief, weckte mich jemand. Ich erhob mich und sah beim trüben Schein der Glühbirne das aufgeregte, strahlende Gesicht Kukulinskijs: „Sie lassen mich frei. Das Urteil in unserer Sache wurde aufgehoben. Ich bin vollständig rehabilitiert“. Wir umarmten uns beim Abschied. Am nächsten Morgen befand Andrej sich schon nicht mehr im Lager.
Wieder vergingen ein paar Jahr. 1946, nachdem ich meine Strafe bis zum allerletzten Ende verbüßt hatte, wurde ich freigelassen. Und wieder begegnete ich Kukulinskij. Nach seiner Freilassung war er nicht aufs „Große Land“ zurückgekehrt, sondern arbeitete in Dudinka als Revisor beim Lokomotiven-Dienst er Eisenbahn. Er erzählte, dass seine Ehefrau, die in Swerdlowsk zurückgeblieben war, nach seiner Verhaftung die Verbindung mit ihm abgebrochen, einen anderen geheiratet und die Tochter in ein Heim gegeben hätte. Andrej fuhr in den Ural und holte die Tochter zu sich nach Dudinka. 1945 heiratete er. Später lernte ich seine Frau kennen. Sie war eine hoch gewachsene junge, sehr interessante Frau. Sie benahm sich sehr würdevoll und verstand es, den anderen Respekt vor ihr ein zu flößen. Beide liebten das Mädchen und verhätschelten es.
Andrej kam mehrmals nach Norilsk und hielt sich bei mir auf. Dann spielten wir gern Schach oder Preference.
1947 beschloss ich zur Familie nach Nischnij-Tagil zurück zu kehren, wo meine Frau als Ober-Chirurgin der Stadt tätig war. Kukulinskij kehrte in die Ukraine zurück, in seine Heimatgegend. Wir entschlossen uns, gemeinsam mit dem Schiff auf dem Jenisej bis nach Krasnojarsk zu fahren. Es herrschten warme, sonnige Julitage. Fünf Tage war der Dampfer auf dem Jenisej unterwegs. Nach Igarka erstreckten sich an den Ufern endloser Hügelketten hohe Nadelwälder. Ich war auf nach 10-jähriger Abwesenheit auf dem Weg nach Hause, meine Frau wartete auf mich und ein bereits erwachsener Sohn. Wahrscheinlich waren diese Tage auf dem Jenisej die schönsten meines Lebens.
Kukulinskij und ich trennten uns in Krasnojarsk. In so vielen Dingen im Leben hatte mir dieser fröhliche, unverzagte Mann geholfen. Danach sollte ich ihm nie mehr begegnen.