In den dreißiger Jahren wohnte Ippolit Grigorjewitsch Belinskij bei uns – ein Mann mittleren Alters, d.h. so 35-36 Jahre alt. Er arbeitete in der Planungsabteilung der Mansker Forstwirt-schaft. Er war ein vielseitig begabter Mensch: er verstand es, gute Unterhaltungen zu führen; sogar wir Kinder lauschten ihm mit stummem Staunen, wenn er irgendetwas erzählte. Ippolit Grigorjewitsch war nicht nur ein begabter Gesprächspartner, sondern auch von Geburt an ein ausgezeichneter Musikant. Er spielte ganz hervorragend auf fast allen Instrumenten – Gitarre, Geige, Mandoline, Balalajka, Bajan und sogar mit hölzernen Löffeln. Er sagte, daß er auch auf dem Pianino spielen konnte, aber leider besaß Belinskij keins. Ippolit Grigorjewitschs Haltung war militärisch. Aufrecht. Er war von mittlerer Körperfülle und mittlerem Wuchs.
Er kleidete sich äußerst akkurat – ohne ein einziges Fältchen. Reithose und chromlederne Stiefel – auf Hochglanz geputzt. Und gesellig war er. Selbst unserer Aufmerksamkeit entging dies nicht, obwohl wir noch Kinder waren.
Er war gebürtig aus Kamenez Podolsk, oder jedenfalls aus dessen näherer Umgebung. Er war verheiratet und hatte zwei Töchter. Seine Familie lebte einstweilen in der Heimat. Nichtsdestoweniger liebte er seine Familie sehr und war ihr treu ergeben, denn er schloß keinerlei Bekanntschaften mit irgendwelchen anderen Frauen und sie luden ihn auch nicht ein.
Abends, wenn er Zeit hat, nimmt er ein Album vom Tisch, und ruft mich oder meine Mama zu sich: „Seht euch mal meine Mädchen an. Dieses Foto habe ich euch noch nicht gezeigt. Nette Mädels, nicht wahr?“ „Sehr sympathisch“, antwortet Mama. Und ich bin ganz verwun-dert darüber, weshalb Ippolit Grigorjewitsch jeden Tag, genauer gesagt jeden Abend vor dem Schlafengehen, mit diesem Album dasitzt. Ist er dessen denn noch gar nicht überdrüssig? Ich kann mich noch gut daran erinnern, daß Ippolit Grigorjewitsch eine Chor- und Musikgruppe organisierte. Er machte leidenschaftlich gern bei Laienspiel-Aktivitäten mit. Viele der dazu Herangezogenen, die früher noch nie eine Gitarre oder ein Bajan in den Händen gehalten hatten, unterrichtete er geduldig und mit Erfolg. Oft ging er zum Angeln und nahm mich und meine Freundin Awrelija mit zum Ufer. Wir trieben für ihn Würmer auf, indem wir einen kleinen Erdhügel aufhäuften, und Ippolit Grigorjewitsch saß am Ufer mit zwei oder drei Anfelruten und beobachtete, ob Fische anbissen. Wir freuten uns über jeden gefangenen Häs-ling. Wenn wir zu viel Lärm machten, dann drohte uns der Angel-Nachbar mit dem Finger, aber wir hatten keine Angst vor ihm. Wir wußten, daß er uns nicht bestraft.
Wenn wir abends nach Hause gekommen waren, teilten wir die Fische durch drei. Wir zehn-jährigen Mädchen freuten uns über unseren Anteil an den Fischen und übergaben sie feierlich der Mutter. Aber anstatt uns zu loben schimpfte jene uns aus: „Schämt ihr euch den gar nicht? Der arme Kerl ist den ganzen Abend von den Mücken zerstochen worden und ihr freut euch
über fremde Beute?“
„Natalja Jewgenjewna, schimpfen Sie nicht. Es geht immer fröhlich zu, wenn wir beisammen sind. Ich liebe Kinder. Sie verschönern unser Leben“.
Vier Jahre lang lebten wir mit Ippolit Grigorjewitsch Belinskij in ein und demselben Haus zusammen und vernahmen in dieser Zeit nicht ein einziges böses Wort von ihm. Ob er Mit-glied der kommunistischen Partei war oder nicht, das weiß ich nicht. Damals hat mich das noch nicht interessiert, genauer gesagt, ich begriff es auch noch gar nicht. Ich bin überzeugt, daß er ein treuer Sohn seines Vaterlandes war - ebenso wie er seinen Kindern, den beiden blondhaarigen Mädchen mit den abstehenden Zöpfchen, ein treuer Vater war.
Es kamen schwere Tage, die Massenverhaftungen setzten ein. Verhaftet wurden Urban - der Direktor der Waldwirtschaft, Pschenko – sein Stellvertreter, mein Papa – der Hauptbuchhalter Andrej Michailowitsch Sokolowskij und viele, viele andere Leute, über die ich in meinem nächsten Brief schreiben werde. Im Sommer 1938 wurde Ipplolit Grigorjewitsch festgenom-men. Es war tiefe, sternklare Nacht, als er das Haus verließ. Er blickte zum Himmel auf und
sprach: „Was für eine wundervolle Nacht!“ Alle Nachbarskinder nannten ihn Onkel Polja. Und ich sagte immer scherzhaft: „Onkel Pelageja kommt vom Angeln. Dafür wurde ich von Mama nicht ein einziges Mal ausgeschimpft. Er ging fort und ... wir hörten nie wieder etwas von ihm. Der Mensch verschwand sozusagen spurlos.
Jene nächtlichen Besucher nahmen Belinskijs Album mit und wahrscheinlich auch die Anschrift seiner Angehörigen. Alles wurde durchwühlt und danach sah es aus, also ob eine Bombe eingeschlagen hätte. Niemals werde ich irgendjemandem glauben, daß Ippolit Grigorjewitsch zu Gemeinheiten fähig gewesen wäre.
Narwa,
L. A. Gorelowa