Dem leuchtenden Gedenken an meine Ehefrau Tamara
gewidmet, die viele Jahre mit mir gemeinsam
im Tajmyr-Gebiet gelebt hat.
Bis 1941 lebte ich in der blühenden Republik der Deutschen, dem Wolgagebiet. Und dann, eines Tages, wurden mehr als eine Million Menschen in Viehwaggons nach Sibirien abtransportiert. Unter ihnen befand sich auch meine Familie. Mitten in der Nacht trafen wir in Kansk ein. Viele waren gekommen, um sich die lebendigen Deutschen (der Krieg gegen Deutschland war ja schon in vollem Gange!) anzuschauen. Aber wen gab es da schon groß zu sehen – die Russland-Deutschen?
Wir gingen in der Sowchose im Dorf Tschetscheul arbeiten. Überwintern mussten wir in der Kansker Geflügelzucht-Sowchose, und 1942 schickten sie Vater in die Trudarmee und Mutter und mich in den Norden - zum Fischfang. So geriet ich im September nach Potapowo, wo ich zehn Jahre lebte. Hier absolvierte ich sieben Schulklassen, hier bekam ich meinen allerersten Eintrag in mein Arbeitsnachweisbuch. Vorweggreifend sage ich, dass ich auch heute sehr stolz darauf bin, dass ich für die schwere Arbeit unter den im Hohen Norden herrschenden Extrem-Bedingungen eine Medaille für meine „Arbeit im Hinterland während des Großen Vaterländischen Krieges erhielt.
Es war eine schreckliche Zeit: mein Vater musste für nichts und wieder nichts eine dreijährige Haftstrafe absitzen. Nach damaligem Maß gemessen, gaben sie ihm eine geringe Strafe; zudem wurde er auch noch vorzeitig entlassen. Ich erinnere mich, wie der Vater erzählte:
- Der Untersuchungsrichter verhörte mich, ich beantwortete seine Fragen. Dann stand er plötzlich auf. Die Wände zwischen den Arbeitszimmern waren dünn, man konnte alles hören, was nebenan gesprochen wurde. Und der Ermittlungsrichter berichtete dem Leiter auch, dass sie wohl den Falschen gefasst hätten – der hier wäre unschuldig…
Menschen, die unschuldig verurteilt worden waren, konnte man auch in der Ortschaft Potapowo antreffen, hundert Kilometer von Dudinka entfernt. Zusammen mit ortsansässiger Bevölkerung (Nenzen, Dolganen, Ewenken) lebten hier auch Sonderumsiedler (Deutsche, Russen), sowie Häftlinge aus den Reihen derer, die schon nicht mehr unter ständiger Bewachung standen. Die Potapowsker Sowchose war Verbannungsort in den Jahren des Krieges und auch danach – bis 1949 stellte sie eine Filiale des Norilsker Kombinats und eines der Besserungs- und Arbeitslager des MWD dar.
An der Station der Rentierzucht-Sowchose wurde der Tajmyrer Versuchskomplex für Rentierzucht gegründet und, ihr angeschlossen, die Versuchs- und Produktionswirtschaft (im Grunde genommen die ehemalige Rentierzucht). Diese große Wirtschaft in den Bezirken des Hohen Nordens befasste sich mit Rentierzucht, Fischfang, der Gewinnung von Nutzholz, Heu, dem Beerensammeln, der Beförderung mit Rentiergespannen, der Haltung von häuslichem Vieh – Kühen und Pferden. Hier gab es auf einem Hektar gepflügten Ackerlandes Gewächshäuser, Treibkästen und Frühbeete. Die Sowchose gehörte zum Bestand des Norilsker Kombinats.
Hier lernte ich einen bemerkenswerten Mann, Wasilij Walerianowitsch Semjonow kennen. 1937 wurde er als Volksfeind verurteilt. Nachdem er seine Haftstrafe abgeleistet hatte, wollte Semjonow an seinen früheren Wohnsitz in Moskau zurückkehren. Man erklärte ihm jedoch, dass Personen, die eine Strafe verbüßt hätten, weder in Moskau noch in irgendeiner anderen Regionshauptstadt leben dürften.
So geriet Wasiloij Walerianowitsch in die kleine Stadt Taganrog. Dort lebte er sich gut in einer Familie mit drei Kindern ein und arbeitete an der örtlichen Berufsfachschule für Technik.
Einige Jahre vergingen, die Staatsmacht erinnerte sich der ehemaligen Volksfeinde wieder, und fing erneut damit an, sie als unzuverlässige Personen in entlegene Gegenden zu verschicken. Wasilij Walerianowitsch fiel die Ortschaft Potapowo (richtiger gesagt – die kleine sibirische Ansiedlung Potapowo) zu. Er war ein hochgebildeter Mann, aber vollkommen ungeeignet für manuelle Tätigkeiten …
Von Wasilij Walerianowitsch ging eine äußerst ungewöhnliche Güte und respektvolle Haltung gegenüber seinen Mitmenschen aus. Der Umgang mit ihm war unkompliziert, und seine Erzählungen über das Leben, das er bisher durchgemacht hatte, fanden kein Ende. Er berichtete über den Bürgerkrieg, an dem er teilgenommen und wofür er mit dem militärischen Rot-Banner-Orden ausgezeichnet worden war. Außerdem trug seine Orden eine Nummer unter den ersten hundert. Während seiner Inhaftierung holten sie ihn aus dem Lager auf der Kolyma und brachten ihn nach Moskau. Zusammen mit anderen gefangenen Ingenieuren wurde er von Berija empfangen, der ihn dazu bestimmte, in einem der Konstruktionsbüros, einer sogenannten „Scharaschka“, mit dem Konstrukteur A.N. Tupolew zu arbeiten. Seine Tätigkeit stand in Zusammenhang mit dem Bau von Motoren. Zum ersten Mal hörte ich von Wasilij Walerianowitsch von Flugzeugen, von Ziolkowskij, von der Spaltung des Urans und seiner ungeheuren Kraft und vielem anderen. Damals erfuhr ich von ihm von dem berühmten Brief W.I. Lenins über Stalin, dessen Veröffentlichung streng verboten war. Das alles war sehr interessant. Ich war ein aufmerksamer und neugieriger Zuhörer, und Wasilij Walerianowitsch widmete meiner Aufklärung etliche Stunden. So entstand unsere Freundschaft. Er freute sich gemeinsam mit mir, als ich zur Abendschule kam, interessierte sich für meine Belange und begeisterte mich für das Studium am Institut.
Unsere vertraulichen Beziehungen entstanden unter den Bedingungen einer eingeschränkten Freiheit. Wasilij Walerianowitsch befand sich, ebenso wie ich, unter der Aufsicht eines Kommandanten des MWD; jeden Monat gingen wir einmal zu ihm, um uns zu melden und registrieren zu lassen - das war eine sehr strenge gehaltene und unumgängliche Pflicht. Selbst in die Tundra durfte man sich nur mit seiner ausdrücklichen Erlaubnis entfernen, und das auch nur auf festgelegten Wegen. Dabei komme ich, um der Gerechtigkeit willen, nicht umhin anzumerken, dass die Mehrheit der Kommandanten gute Menschen waren und sich gegenüber denen, die unter ihrer Aufsicht standen, ganz loyal verhielten. Und einige von ihnen hatten sogar selber Strafen in den Siedlungen verbüßt, in denen sie ihren Dienst versahen. Einmal war beispielsweise Major Nikolaj Iwanowitsch Machailjuk, den man aus der Ukraine in den Hohen Norden geschickt hatte, unser Komandant, und wenn er beschwipst war, dann sang er alle möglichen Lieder vom lockigen Haarschopf.
Mit großer Dankbarkeit denke ich an meinen letzten Kommandanten in Potapowo – Hauptmann Torgaschin – zurück (zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mich an seinen Vatersnamen nicht mehr erinnern kann). Nachdem er meinen großen Wunsch zu einer Ausbildung bemerkt hatte, überredete er meine Eltern, mich nach Dudinka zu schicken. Er half mir dabei eine Arbeit im Hafen zu finden, an der Abendschule der Arbeiterjugend aufgenommen zu werden und sorgte dann selber dafür, dass ich in den Zuständigkeitsbereich der Kommandantur in Dudinka kam, die ich noch weitere vier Jahre regelmäßig aufsuchte.
… Einige Zeit später wechselte Wasilij Walerianowitsch an einen anderen Arbeitsplatz – und ging als Verkäufer an einen Verkaufsstand am Tajmen-See, ungefähr 40 Kilometer entfernt, am linken Ufer des Jenisej gelegen…
Auf jeden Fall stellte Wasilij Walerianowitsch allen einen eigenartig originellen Beleg, eine Notiz, aus (im Umlauf waren die kleinen Blättchen von Zigarettenpapier). Er unterschrieb und setzte das Datum darauf.
W.W. Semjonow genoss das uneingeschränkte Vertrauen der Hirten und Fischer – ganz im Gegensatz zum vorherigen Verkäufer Jurlow, der sich stets in unverschämter Weise verrechnete. Er war es gewohnt, jeden Käufer nach Abwicklung des Geschäfts an sein bis zum Dach vom Schnee zugewehten Hütte zu begleiten und ihn mit den Worten: „Gute Reise!“ zu verabschieden. Allmählich „hingen“ diese beiden Worte Wasilij Walerianowitsch als Ausdruck gegenseitiger Freundschaft und Achtung an. Wenn sie unter sich waren, dann sprachen die Rentierzüchter und Fischer von ihm immer nur als „Gute Reise“.
Die Ortsansässigen achteten und ehrten Wasilij Walerianowitsch. Häufig verbrachte er seine Zeit in Einsamkeit. In Erwartung des nächsten Wanderers und Käufers las er offizielle Literatur, um, wie er zu sagen pflegte, nicht hinter der Zeit zurückzubleiben. L.N. Tolstojs „Krieg und Frieden“ las er, bis das Buch völlig zerfleddert war. Auf den Seiten machte er alle möglichen Zeichen und Notizen, die nur für ihn verständlich waren. Ich bedaure es sehr, dass ich nicht das von ihm geschriebene Gedicht „Die Lärche“ aufgezeichnet habe. Es hat in mir eine starke Empfindung für die Standhaftigkeit und den Geist des Autors hinterlassen …
… Wenn ich durch die Siedlung Osero Beloje (Weißer See; Anm. d. Übers.) spaziere, begleiten mich immer häufiger meine Erinnerungen an das Durchlebte, Und ich wünsche mir so sehr, dass der Name „Gute Reise“, den man seinerzeit dem Nordbewohner Wasilij Walerianowitsch Semjonow verlieh, zum Symbol unserer Zukunft werden möge, in der es schon keine Massenverfolgungen und Demütigungen der Völker geben wird …