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Menschen und Schicksale. Den Opfern der politischen Repressionen des Krasnoturansker Bezirks gewidmet...

Bericht von Irina Alexandrowna Lisiza


Vorsitzende der Bezirksabteilung der regionalen Vereinigung der Opfer
der illegalen politischen Repressionen: I.A. Lisiza

Im August 1941, als das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR herauskam, setzten die Repressionen ein. Mein Vater war zu der Zeit 14 Jahre alt. Die Familie lebte in der Ortschaft Blumenfeld, Bezirk Gmelin, ASSR der Wolgadeutschen.

Ihre gesamte Familie, Mutter, Vater, 6 Kinder, von denen das älteste mein Vater Alexander Lindt war, wurden wie alle dort lebenden Deutschen aus nationalen Gründen ausgewiesen.

Sie verluden alle Leute im Dorf auf Fuhrwerke und brachten sie zur Bahnstation (nach den Erinnerungen des Vaters), die sich 15 km vom Dorf entfernt befand. Man erlaubte ihnen lediglich 20 kg Gepäck pro Person mitzunehmen. Alles mussten sie zurücklassen: das ganze Vieh, das gesamte Hab und Gut. Nachdem man sie zur Bahnstation gebracht hatte, sollten die Fuhrwerke ins Dorf zurückfahren. Zu dem Zweck schickten sie den Vater los. Er fuhr ins Dorf zurück, wo bereits die Säuberung im Gange war. Er lieferte das Gefährt ab und rannte die 15 km wieder zurück, um noch rechtzeitig den Zug zu bekommen und nicht hinter den Eltern zurückzubleiben und verlorenzugehen. Während er den Weg zurücklief überholte ihn ein Auto, in dem die Leute saßen, die das Dorf gesäubert hatten. Das Fahrzeug war bis unter das Dach voll mit geraubten Gegenständen. Als sie ihn passierten, richteten sie die Waffen auf ihn und lachten. Sie schossen, machten ihm Angst, und er fing an zu weinen und rannte immer weiter, denn er hatte furchtbare Angst, dass er den Zug verpassen könnte, weil er bereits die Dampflok tuten hörte – der Zug war abfahrbereit. Irgendwie gelang es seinem Vater, den Zug zurückzuhalten. Und so verlud man sie also auf Waggons und transportierte sie mit Zug-Nr. 829 am 6. September 1941 aus der ASSR der Wolgadeutschen ab in die Region Krasnojarsk. Im November 1941 holten sie den Vater ab (er war gerade 16 Jahre alt geworden) und brachten ihn aus der Region Krasnojarsk ins Gebiet Kujbyschew zur Sonderansiedlung, die sogenannte Trudarmee. Dort musste er hinter Stacheldraht, bekleidet lediglich mit nichts weiter, als ein paar Hosen aus Sackleinwand, 8 Jahre seines Lebens verbringen. Er arbeitete in einem Ziegel-Kombinat. Die Leute lebten in Baracken, schliefen auf dem Erdboden. Als ich ihn einmal kämmte (damals war ich bereits erwachsen), sah ich eine Vielzahl von Narben auf seinem Kopf und fragte ihn, was das sei. Mit Mühe hielt er seine Tränen zurück und berichtete, dass ihn als Kind betrunkene Wachmänner nachts misshandelt hätten. Sie hoben ihn hoch, brachten ihn in einen speziellen Raum und schlugen ihm mit dem Pistolengriff auf den Kopf, wobei sie durchzählten, wie viele ihrer Leute er ermordt hätte. Und so durchlebte er acht Jahre tiefster Erniedrigungen, Kränkungen. Kälte, Hunger – all das ertrug er und blieb nicht nur am Leben, sondern auch ein Mensch, der nie mit jemandem böse geworden war, der sich nicht hatte zermürben lassen, der nie jemanden um etwas gebeten hatte, ein stolzer und aufrichtiger Mann. So wie das ganze Volk, auf dessen Los eine so schwere Schicksalsherausforderung entfiel, und dass nur deswegen, weil es in der UdSSR lebte und in einer anderen Sprache redete.

Marta Jegorowna Obert (Lindt), geb. 1922

Die Geschichten der Deportierten sind bei fast allen gleich. Das tragische Schicksal suchte das gesamte deutsche Volk heim. Der schmerzliche Verlust erlosch mit den Jahren nicht. Und es gibt keine Antwort: «Weswegen?». Weswegen musste man solche Entbehrungen ertragen? Meine Mutter wurde damals gerade 19 Jahre alt, als das Dekret über die Aussiedlung aller Personen deutscher Nationalität aus dem Wolgagebiet erging. Meine Großmutter starb 1933, und an Mutters Rockzipfeln, die das älteste Kind war, blieben drei kleine Brüder zurück (6 Jahre, 3 Jahre und 1 Jahr). Die Deportationen begannen. Alle wurden auf Waggons verladen, in denen sonst üblicherweise Vieh transportiert wurde, und am 6. September ging es bereits auf nach Kasachstan. Unterwegs starben alte Menschen und Kinder. Der Zug hielt, damit die Toten hinausgeworfen werden konnten. Angehörige und Verwandte erfuhren ihr ganzes Leben nicht, wo und wie man die verstorbenen begraben hatte und ob dies überhaupt geschehen war. In Kasachstan ließ man sie inmitten der Steppe aussteigen, es war bereits Oktober und sehr kalt. Sie gruben sich Erd-Hütten, retteten ihr Leben, so gut sie es vermochten. Den Vater (meines Großvaters) zogen sie sofort in die Trudarmee ein. Danach holten sie auch die Mutter. Mama wurde zur Trudarmeee mobilisiert und geriet nach einem Verteilungsschlüssel nach Kujbyschew (heute Samara), dort mussten sie 9 Jahre in Baracken verbringen. Hinter Stacheldraht, in Aufstellung zur Arbeit, in Aufstellung von der Arbeit, unter Bewachung, unter unmenschlichen Bedingungen mussten sie im Schacht und in der Ziegelfabrik arbeiten. Sie waren gezwungen, Erniedrigungen, Beleidigungen, Misshandlungen, spöttisches Gelächter zu ertragen und überlebten diese Hölle.

Wenn sie sich erinnern, fangen sie sofort an zu weinen. Ein Beispiel aus den Erinnerungen. Die Freundin starb, die Mutter saß die ganze Nacht neben ihr, sammelte die Läuse von ihr ab und passte auf, dass die Ratten sie nicht zerfraßen. Die Toten wurden in gesonderten Scheunen gelagert, wo sie von Ratten gefressen wurden. Später lud man sie in Fahrzeuge und brachte sie irgendwo hin. Die Mutter sagte niemandem etwas vom Tod der Freundin und beschützte ihren Körper. Sogar darüber zu schreiben fällt einem sehr schwer. Aber meine Eltern und tausende andere mussten all das miterleben, aber sie überlebten und zerbrachen nicht daran. Und ich neige den Kopf vor ihrem Mut, der Kraft ihrer Seele und ihres starken Willens. Ich beuge die Knie vor allen, die unter den unmenschlichen, schwierigen Bedingungen ihre menschliche Würde bewahrten.

9 Jahre Arbeitslager bis 1950. Kommandantur bis 1956. Ohne Erlaubnis der örtlichen Behörden war es nicht gestattet, den Wohnort zu verlassen, der ihnen zugewiesen worden war. Da wurde mit 20 Jahren Zwangsarbeit bestraft.

1949 lernte Mama in der Arbeitsarmee Alexander Lindt kennen und heiratete ihn.


Alexander Lindt und Marta Jegorowna

1950 wurde ihre Tochter geboren, die auf dem Weg von Kujbyschew nach Sibirien verstarb. Nachdem sie sich in Sibirien niedergelassen hatten, lebten die Eheleute noch 50 Jahren zusammen. Und bis ans Ende ihrer Tage erinnerten sie sich an ihre Heimat, ihr Haus, die verlorenen Angehörigen. Mama bekräftigte immer wieder: «Ich will nach Hause» - und weinte. Aber wie sich herausstellte, waren sie für immer vertrieben worden und hatten ihre Heimat auf ewig verloren. Man hatte ihnen das Recht auf Rückkehr an ihre vorherigen Wohnorte genommen.


Alexander Lindt

Sieben Kinder zogen sie groß. Zwei von ihnen wurden ebenfalls rehabilitiert. Alexander, geb. 1952, und Viktor, geb. 1955. Sie starben einer nach dem anderen. Der eine war 57 Jahre alt, der andere 60.


Auf dem Foto in der oberen Reihe: Bruder Alexander Lindt, Bruder Viktor Lindt, Bruder Wladimir Lindt, Bruder Fjodor Lindt, Bruder Iwan Lindt


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