Das Material wurde von der Tubinsker Zweigstelle des Minussinsker Zentrums der deutschen Kultur «Wiedergeburt» und der Tubinsker Dirf-Bibliothek zur Verfügung gestellt:
Ich, Nadjeschda Sorokina, ehemaliger Mitarbeiterin im Zentrum der deutschen Kultur «Wiedergeburt» in der Ortschaft Tubinsk, bin unmittelbare Nachfahrin von Russland-Deutschen.
Die Geschichte der Russland-Deutschen nahm Jahrhunderte zuvor ihren Anfang. Aber meine Geschichte liegt nicht so weit zurück; sie fängt an mit dem Beginn des letzten Jahrhunderts, als meine Ururgroßmutter Kristina Jegorowna Raiswich das Licht der Welt erblickte.
Zu meinem großen Bedauern ist mir über meine Ururgroßmutter nur sehr wenig bekannt. Sie wurde 1901 geboren. Ihre Eltern waren Deutsche. Wann genau Kristina Jegorowna nach Russland gekommen ist, weiß man nicht, aber ich vermute, dass dies nach ihrer Heirat geschah. Ihr Mann war ein Russe mit deutschen Wurzeln namens Iwan. Sie lebten im Wolgagebiet, in der Ortschaft Nischnaja Wodjanka, Bezirk Gmelin, Gebiet Saratow. Dort wurden ihre fünf Kinder geboren, von denen eines (ein Sohn) in früher Kindheit starb; ihrem danach geboren Sohn gaben Iwan und Kristina denselben Namen. Alle Kinder erhielten den Nachnamen der Mutter – Raiswich: Klara, Iwan, Maria, Iwan Meida (?). Das älteste Kind in dieser Familie war meine Urgroßmutter Klara Iwanowna Raiswich. Sie wurde am 18. Juni 1922 geboren. Ihre Geschichte ist mir in vielen Einzelheiten bekannt…
Auf ihrem Lebensweg musste sie eine Menge durchmachen. 1941, als der Krieg noch nicht ausgebrochen war, heiratete sie und verließ das Elternhaus. In demselben Jahr wurde Sohn Sascha geboren, im darauffolgenden – Tochter Emma. Die Kinder waren noch ganz klein, als sie den Vater in einen Arbeitstrupp holten. Meine Urgroßmutter sollte weder ihren Mann, noch ihren Vater, den dasselbe Schicksal ereilte, jemals wiedersehen. Ihr weiteres Schicksal ist nicht bekannt. Das war der erste Schicksalsschlag.
Aber wie heißt es so schön – ein Schicksalsschlag kommt nicht allein. Während des Krieges starben die kleine Emma und Sascha an Masern. Bald darauf wurde Klara Iwanowna Opfer von Repressionsmaßnahmen und wurde in den hohen Norden verschleppt, wo sie bis 1956 in der Siedlung Krasnoselkupsk, Krasnoselkupsker Bezirk, Gebiet Tjumen, lebte. Es herrschten sehr raue Lebensbedingungen. Wie die Urgroßmutter selber erinnerte, «kam es vor, dass man sogar auf dem nackten, gefrorenen Fußboden schlafen musste, auf zurückgelassenem Stroh und mit einem Wams bekleidet. Wir aßen fast nur Fisch, etwas anderes fand sich nicht». Sie arbeitete in einer Fischfabrik. Am 16. Juni 1948 bekam sie eine Tochter, meine Großmutter Nadjeschda Petrowna Raiswich, zu deren Ehren man mir später meinen Namen gab.
Nach der Geburt wechselte Klara Iwanowna den Arbeitsplatz, damit sie näher an ihrer kleinen Tochter sein konnte – sie wirkte im Kindergarten als Köchin. An ihren Vater kann meine Großmama sich nicht erinnern, und den Vatersnamen Petrowna erhielt sie von ihrem Stiefvater - Pjotr Gordejew, den zweiten Ehemann der Urgroßmutter. Klara Iwanowna und Pjotr bekamen zwei gemeinsame Kinder -Nikolai und Michail. Beide starben im Kindesalter an einer Infektion und aufgrund mangelnder medizinischer Hilfe. Pjotr Gordejews weiteres Schicksal ist nicht bekannt. Meine Urgroßmutter blieb mit der kleinen Tochter auf dem Arm allein zurück. Die schweren Nachkriegszeiten machten sich bemerkbar. Allein führte Klara Iwanowna ein sehr schweres Leben. Hilfe bekam sie von Nachbarinnen und Freundinnen. Dich wirkliche Angehörige gab es in ihrer Nähe nicht. Da beschloss sie, ihre Tochter zu sich zu holen und sich auf den Weg zu ihrer Mutter und ihren Geschwistern nach Sibirien zu machen. Das war 1956. Es war eine lange, schwierige Reise. Auf dem Fluss fuhr sie mit einem Schiff, das von Russen geführt wurde. Als sie erfuhren, dass sich an Bord Deutsche befanden, eben jene, die vor noch nicht allzu langer Zeit Krieg gegen sie geführt hatten, wollten sie das Schiff mit sämtlichen Passagieren untergehen lassen. Meine Urgroßmutter musste mühselig erklären, dass sie zwar Deutsche seien, aber bereits ihr ganzes Leben lang in der UdSSR gelebt und keineswegs gegen sie gekämpft hätten! Wie durch ein Wunder gelang es ihr, die Russen zu überzeugen, und so gelangte sie schließlich ans Ziel ihrer Reise.
Bald darauf erreichte Klara Iwanowna mit ihrem Töchterchen die Ortschaft Kortus, Krasnoturansker Bezirk, Region Krasnojarsk, wo Kristina Jegorowna lebte, meine Ururgroßmutter, mit ihrem Sohn, ihrer Nicht und deren kleinen Tochter lebte. Nachdem sie so viel Leid durchgemacht hatten, konnten meine Verwandten endlich ein ruhigeres Leben beginnen. Die kleine Nadja wuchs heran und ging in die Schule. 1960 zogen Mutter und Tochter in die Siedlung Dschirim im Krasnoturansker Bezirk. Klara Iwanowna arbeitete on der Kolchose als Melkerin, ihre Tochter besuchte die Iwanowkser Schule.
Die Zeit verrann, die Tochter wurde erwachsen. 1966 heiratete Nadjeschda Petrowna Aleksander Aleksejewitsch Sokolow, meinen Großvater. In demselben Jahr wurde Sohn Sascha geboren, 1970 – Tochter Sweta (meine Mama), und 1976 – Tochter Ljuda. Klara Iwanowna, meine Urgroßmutter, kümmerte sich rührend um die Enkel und half bei ihrer Erziehung. Zu dem Zeitpunkt arbeitete sie bereits als Köchin im Kindergarten. 1977 zogdie gesamte große Familie in die Ortschaft Tubinsk im Krasnoturansker Bezirk.
Die Zeit verging immer schneller. Bal darauf gab es für Klara Iwanowna die ersten Urenkelkinder: Aljoscha, Serjoscha, Arthur, Andrej und die einzige Urenkelin – Nadja (ich). Auch die Urenkel hielt unsere Uroma auf ihren Armen. Sie mochte Kinder sehr, ihre Familie! In fortgeschrittenem Alter bereitete Baba Alja (so nannten wir sie) uns mit Vergnügen das Mittagessen zu. Ihr Leibgericht waren Schnitzsupp, Strudel und mein Riwwelkuche. Unsere ganze große Familie liebte sie sehr, und, soweit ich mich erinnern kann, lebte sie in unserem Haushalt.Вся наша большая семья её очень любила, а проживала прабабушка, сколько я себя помню, в нашем доме.
Erste in hohem Alter bekam Klara Iwanowna ihre langersehnte Großfamilie, gute Lebensbedingungen und seelischen Frieden. Es ist äußerst schade, aber in dieser Welt gibt es nichts von ewiger Dauer. Uroma verstarb am 11. November 2008. Aber wir werden uns immer an sie erinnern und sie lieben, und zur Erinnerung ist uns noch ein Buch in alter deutscher Sprache geblieben, außerdem Medaillen , Ehrenurkunden und zahlreiche Fotos.