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Menschen und Schicksale. Den Opfern der politischen Repressionen des Krasnoturansker Bezirks gewidmet...

Irma Adamowna Raitz (Reitz)

Jahrzehnte sind vergangen, und nachdem man sich am neuen Wohnort eingelebt hat, scheint es so, als ob die Erschwernisse der Vergangenheit und die zahlreichen Entbehrungen in Vergessenheit geraten, aber man wird niemals vergessen, was die Menschen in jenen schrecklichen Kriegsjahren durchmachen mussten.

1941, als der Große Vaterländische Krieg ausbrach, war ich 9 Jahre alt. Geboren wurde ich am 21.04.1932 in der Ortschaft Kano, Bezirk Gmelin, Gebiet Saratow. Unsere Familie war groß – Vater Adam Augstowitsch Kail / Keil (geboren 1988, Mama Jekaterina Jegorowna Kail (geboren 1892) und wir Kinder – der älteste Bruder Alexander, die Schwestern Emma, Lida, Mila und ich - Irma, Walja und der jüngste Bruder Iwan. Unsere Ortschaft war nicht groß, sie lag in einer Ebene am Ufer der Wolga. Es gab keine Berge, keine Anhöhen, nur niedrig gewachsenen Wald und Steppe. Im Dorf gab es zwei lange Straßen, in einer der Straßen, im Zentrum, war ein Brunnen, aus dem das Wasser geholt wurde. Es gab auch einen Dorfrat, eine Grundschule, einen kleinen Laden (Kiosk), ein Postamt und eine Bäckerei. Am Ende des Dorfes stand in einer der Straßen unser Haus, ein großer Bauernhof, umgeben von einem Staketenzaun, mit einem Gemüsegarten, landwirtschaftlichen Gebäuden, einem Badehaus und einer Notunterkunft. Im Haus befanden sich drei Zimmer und eine Küche, der Ofen wurde mit Stroh oder Stallmist geheizt. Wir hielten auch Vieh: eine Kuh, Schafe, Schweine, Gänse und Hühner. In Haus und Hof herrschten stets Sauberkeit und Ordnung. Das Haus verfügte über eine große Diele und eine Vorratskammer, eine Stiege führte von ihr auf den Dachboden. Dort war es genauso sauber wie im übrigen Haus. Auf dem Dachboden hatten die Eltern Weizensaat gelagert, die sie gegen Tagesarbeits-einheiten erhalten hatten.

Unweit des Dorfes befand sich das Kolchosfeld, auf dem Weizen, Hafer und Roggen angebaut wurden. Außerdem gab es Melonenfelder, auf denen Wasser- und Honigmelonen gezogen wurden. Auf den Feldern wurden auch Tomaten gezüchtet. Im Nachbardorf Blumenfeld wuchsen Obstbäume, und der Vater brachte von dort im Herbst immer Äpfel, Birnen und Pflaumen mit.

Der Vater arbeitete in der Erntehauptzeit als Verwieger, in der übrigen Zeit war er bei der Post tätig – als Briefträger, und Mama arbeitete in der Bäckerei. Die Familie lebte einträchtig miteinander, alle waren sehr fleißig. Der älteste Bruder Alexander und zwei der älteren Schwestern – Emma und Lida, lebten mit ihren Familien separat. Alexander arbeitete als Vorsitzender des Dorfrats, seine Frau – war in der Bibliothek tätig. Schwester Emma lebte mit ihrer Familie in der Bezirksstadt Gmelinsk, sie war beim Telegraphenamt beschäftigt, ihr Mann – bei der Miliz.

Vater und Mutter liebten uns sehr und sorgten sich stets darum, dass wir satt wurden und gekleidet waren. Vater fuhr oft in die Städte Engels, Moskau Seelmann und brachte uns von dort Kleidung, Lebensmittel und Geschenke mit. Der Vater sprach sehr gut Russisch.

Im August 1941 kam das Dekret von der Umsiedlung der in den Wolgagebieten lebenden Deutschen in andere Regionen des Landes heraus – die Gebiete Nowosibirsk und Omsk, die Altai-Region, die Region Krasnojarsk, Kasachstan, Kirgisien und andere. Mutters Geschwister gerieten nach Kirgisien. Unsere Familie war in der Region Krasnojarsk Repressionen ausgesetzt. Weder für Kommunisten, noch für Komsomolzen gab es eine Ausnahme. Allen Familien wurde eine Benachrichtigung des NKWD ausgehändigt und ihnen 24 Stunden Zeit zum Packen gegeben. Pro Familie durften nicht mehr als 200 kg Sachgegenstände und Lebensmittel mitgenommen werden. Alles, was sie sich angeschafft hatten – Vermögenswerte, Haus, Haushaltsgegenstände, Familien-Reliquien – alles mussten sie zurücklassen. Im September 1941 wurde unsere gesamte Familie auf zwei Fuhrwerke verladen und unter der Aufsicht des NKWD zur Bahnstation Gmelinsk gebracht. Am Bahnhof verlud man sie auf «Towarnjaks» (Güterwaggons; Anm. d. Übers.), Waggons, in denen üblicherweise Vieh transportiert wurde. Unter Konvoi-Begleitung fuhr unser Zug nach Krasnojarsk, von Krasnojarsk bis Sorokino ging es dann auf einem Lastkahn.

Unsere Familie und die Familie des ältesten Bruders Alexander wurde in Alt-Krasnoturansk untergebracht, Schwester Emmas Familie kam in den Bolschemurtinsker Bezirk. Vater fuhr dorthin, um sie ebenfalls nach Krasnoturansk zu holen. Unsere Familie wurde bei den Kosins untergebracht; sie waren sehr gute Menschen und halfen uns so gut sie konnten. Im Winter wohnten wir bei ihnen, später lebten wir bei den Rudenkos und den Gordetschuks.
1942 wurden die deutschen Männer und Frauen, die zwischen 16 und 55 Jahre alt waren, in die Arbeitsarmee mobilisiert. Aus unserer Familie holten sie den Vater, den ältesten Bruder Alexander, Schwester Emma sowie Lida und ihren Mann. Bei uns blieben Emmas kranker Mann (er konnte nicht laufen) und ihr einjähriger Sohn. Jeweils zwei bis drei Familien hausten in Notunterkünften, Speichern oder Erd-Hütten.

Niemand aus unserer Familie hegte irgendwelchen Groll, obwohl alle am Hungertuch nagten, kaum Kleidung besaßen, doch sie murrten nicht über ihre elenden Existenzbedingungen, sondern verstanden – schließlich herrschte Krieg.

Man lebte auf Karten, sammelte gefrorene und vertrocknete Kartoffeln auf dem Feld, buken aus Melde Fladen und kochten Suppe aus Sauerampfer. Sie sammelten Weizen-Ähren, die sie anschließend zu Fuß nach Usa brachten und zu Mehl mahlten. Schwester Mila (12-13 Jahre alt) zog durchs Dorf und bat um Almosen und brachte alles nach Hause, was sie bekam. Für uns ging es nur ums Überleben, man hatte uns die Kindheit und die Möglichkeit zur Schule zu gehen genommen. Wir konnten die Schule nicht besuchen, weil wir keine Kleidung, kein Schuhwerk, kein Essen hatten. Wir Kriegskinder mussten ab einem Alter von 10-15 Jahren wie Erwachsene arbeiten. Schwester Mila begann mit 14 als Kälberhirtin auf der Farm zu arbeiten, später arbeitete sie bis zur Rente als Melkerin. Auf dem Feld wurde das Unkraut am Weizen per Hand gejätet; sie arbeiteten im Kolchos-Gemüsegarten und hüteten die Schweine. Sie bemühten sich hinter den Alten nicht zurückzubleiben. Mama war als Wächterin auf der Farm beschäftigt, tagsüber grub sie die Gemüsegärten anderer Leute um und jätete dort das Unkraut.

1948-49, nach der Arbeitsarmee, kamen unserer Angehörigen nach und nach wieder nach Hause; zuerst kam Bruder Alexander, dann Vater und Schwester Emma (während ihrer Zeit in der Arbeitsarmee war ihr Mann gestorben), Schwester Lida blieb im Norden.

Nach dem Krieg stand unsere Familie bis 1953 unter Kommandantur-Aufsicht und musste sich ständig dort melden und registrieren lassen. Wir besaßen nicht das Recht, den Wohnort zu wechseln; bei Nichteinhaltung drohte uns Gefängnishaft bis hin zur Erschießung.

Jede Familie hatte ihre eigene Tragödie. Unter großen Mühen und Entbehrungen bauten sie einen Haushalt auf, die es ihnen erlaubte, eine große Familie zu unterhalten.

Der Vater pflügte neben der Farm Schilfrohr um und baute dort ein kleines Haus. Er arbeitete als Viehwärter auf der Farm. Nach Kriegsende wurde das Leben etwas leichter. Ein großes Ereignis, das von den Krasnoturanskern mit riesiger Freude aufgenommen wurde, war die Abschaffung des Karten-Systems im Jahre 1947. Ein neues, friedliches Leben entstand. Die jüngste Schwester Walja und Bruder Iwan erhielten die Möglichkeit zur Schule zu gehen.

Bald nach seiner Rückkehr aus der Arbeitsarmee, geschwächt von der alle Kräfte übersteigenden Schwerstarbeit, Hunger und Kälte, starb der älteste Bruder Alexander.

1953 starb Mama – Jekaterina Jegorowna. Ein Jahr nach ihrem Tod heiratete Vater eine Frau mit fünf Kindern, und wir Kinder – Mila, ich, Walja und Iwan – wohnten bei Vater und der Stiefmutter. Sie war eine gute Frau, fleißig und fürsorglich.

Ich wohnte bis zur Heirat in Alt-Krasnoturansk, arbeitete als Kindermädchen im Kindergarten und Arbeiterin in der Bäckerei. Im Mai 1956 heiratete ich und wohnte mit meinem Mann Iwan Filippowitsch Raitz beim Vater und der Schwiegermutter. Im Februar 1957 wurde unsere älteste Tochter Olga geboren, und im Junis desselben Jahres zogen wir ins Dorf Birja. Wir wohnten in einem „finnischen“ Häuschen, in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Zwei Jahre später kam die mittlere Tochter Jekaterina zur Welt. Ehemann Iwan arbeitete in der Schmiede, nachdem er eine Augenverletzung erlitten hatte, wurde er Invalide (mit einem Auge konnte er nicht mehr sehen); er war als Schlosser tätig – als Handwerker und Instandsetzer auf der Farm. Anfang 1959 zogen wir in ein Haus um, das in der Mitte der Ortschaft stand; nebenan gab es einen Laden, eine Schule, ein Klubhaus. Ich arbeitete als Reinmachefrau im Geschäft. 1961 kam unsere dritte und jüngste Tochter Swetlana zur Welt.

In Bira stand das Haus am Ufer des Jenisseis, in seinem nebenarm gab es schöne Inseln; schade, dass Bira in den sechziger Jahren das gleiche Schicksal widerfuhr, wie allen ufernahen Ortschaften – es wurde abgerissen. Die Bewohner wurden in die neue Siedlung Lebjasche umgesiedelt.

Am 3. Oktober 1961 starb Vater – Adam Augustowitsch, eine gutmütige Seele. Auf seinem letzten Weg begleitete ihn das gesamte Alt-Krasnoturansk.

In Lebjasche arbeitete ich als ungelernte Arbeiterin und die letzten 18,5 Jahre (bis zur Rente) bei der Kläranlage. Mein Mann war bis zu seinem 70. Lebensjahr als Schäfer tätig, er war Produktionsbestarbeiter, besaß Regierungsauszeichnungen; 1999 starb er im Alter von 71 Jahren. 43 Jahre habe ich mit meinem Mann gelebt, wir haben es verstanden, uns des Lebens zu freuen und zu arbeiten. Wir haben stets gern Besuch empfangen und Freude daran gehabt, sie zu bewirten.

Kinder und Enkel sind herangewachsen, schon sind auch die Urenkel da. Ich habe sechs Enkelkinder und jedes von ihnen hat bereits eine eigene Familie – Andrej, Iwan, Olga, Iwan, Jekaterina, Alexander. Sieben Urenkel – Julia, Maksim, Airat, Iwan, Maksim, Maria, Ksenia.

Die Krasnoturansker Erde wurde für mich zur zweiten Heimat, die mich immer durch ihre vielfältige Natur, ihre Schönheit und Erhabenheit in Erstaunen versetzt hat. Hier gab es viele gute Freunde und Nachbarn. Diese Region habe ich mit ganzer Seele lieben gelernt und bin Sibirerin geworden. Nur Träume und Erinnerungen lassen einen ständig an die kleine Heimat zurückdenken – das Wolgagebiet.

Mein Leben lang habe ich mit meinen Geschwistern in Eintracht gelebt, wir haben einander geholfen und es ist eine bittere Erkenntnis zu sehen, dass sie zum Ende des Lebens nicht mehr um einen sind – die mit mir verwandten und die mir nahestehenden Menschen haben alle zu unterschiedlichen Zeiten diese Welt verlassen.

Der älteste Bruder Alexander, geboren 1922, starb 1950, er liegt im alten Krasnoturansk begraben. Schwester Emma, geboren 1928, starb 2008. Schwester Lida, geboren 1926, ist in der Ukraine verstorben; ihr Todesdatum kenne ich nicht. Schwester Mila, geboren 1930 starb 1998, Schwester Walja, geboren 1934, verstarb 2003, sie liegen ebenfalls in Krasnoturansk begraben. Der jüngste Bruder Iran, geboren 1936, lebte im Gebiet Saratow, in der Stadt Nowousensk, in einem Altenheim; die letzten drei Jahre habe ich von ihm keine Nachricht erhalten. Wir haben an die Verwaltung geschrieben, jedoch keine Antwort erhalten. Ob er noch lebt oder nicht, vermag ich nicht zu sagen.

Keiner von uns ist in die kleine Heimat an der Wolga zurückgekehrt. 1972 wurde das Verbot der Rückkehr an den vorherigen Wohnort aufgehoben. Und erst im neuen Russland der 1990er Jahre wurde das Gesetz über die „Rehabilitierung politisch verfolgter Völker“ verabschiedet und die Regierung entschuldigte sich bei den Geschädigten.


1950. Vater Adam Augustowitsch Kail


1950. Mutter Jekaterina Jegorowna Kail


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