Für den donnernden Heldenmut kommender Jahrhunderte
Für das bravouröse Menschengeschlecht,
Habe ich sowohl die Kelche beim Festmahl der Väter,
als auch die Fröhlichkeit und meine Ehre verloren
O. Mandelstam
Ab dem Sommer des Jahres 1929 barg die Kollektivisierung der Landwirtschaft keineswegs einen freiwilligen Charakter in sich. Von Juni bis Jahresende wurden 3,4 Millionen Bauernwirtschaften in Kolchosen vereinigt, d.h. 14% ihrer Gesamtzahl. Gegen Ende Februar 1930 erreichte die Anzahl der in Kolchosen zusammengeführten Höfe sogar 14 Millionen - 60% der Gesamtzahl. Die wohlhabenden Wirtschaften wurden enteignet, ihrer Besitzer in entlegene, unwirtliche Gegenden ausgesiedelt. Allein 1930-1931 wurden mehr als 380000 Familien ausgesiedelt – etwa 2 Millionen Menschen. Doch die Zahl der Enteigneten war noch wesentlicher höher. Niemand kennt diese Ziffer genau. Aus zum Teil erhaltenen Dokumenten ist bekannt, dass die Gesamtzahl der verfolgten Familien 1091 betrug – das gilt für den Abakansker, heute Krasnoturansker Bezirk. So sahen die Kennzahlen aus: insgesamt 32 Dorfräte
Krasnoturansker - 177 Familien
Bjelojarskij - 124 Familien
Kortusker - 62 Familien
Busunowsker - 34 Familien
Nikolajewsker - 32 Familien
Kara-Belyksker - 30 Familien
Listwjagowsker - 29 Familien
Baikalowsker - 21 Familien
Aleksandrowsker - 4 Familien
Über enteignete Familien
Diese schrecklichen Jahre gingen auch an vielen unserer krasnoturansker Landsleute nicht vorüber. Unter den sogenannten Kulaken (Großbauern; Anm. d. Übers.) befand sich auch Flegont Elisarowitsch Sorokin (geb. 1891) (03). Er war Einzelbauer. Damit galt er als Großbauer und gehörte zu den enteigneten Familien.
1929 wurde er verhaftet, denn bis zu seinem „Beitritt“ in die Kolchose hatte er eine für damalige Zeiten große Hofwirtschaft besessen. Er hatte Familie, Ehefrau und Kinder. Man schloss ihn als sich voranschleichendes, fremdes Element, als Kulak, aus der Kolchose aus – als Kulak, dessen Träume angeblich darauf gerichtet waren, die betreffende Kolchose zu ruinieren. Durch den Sohn, Aleksander Flegontowitsch Sorokin, gelang es aus dem Archiv eine Bescheinigung zu erhalten, welche die Angaben dieses Mannes bezeugt. F.E. Sorokin starb im Alter von 64 Jahren, aber jeder, der über einen gesunden Menschenverstand verfügt, kann sich vorstellen, welches Los auf diesen Mann und seine Familie entfiel.
Keine Worte des Trostes reichen aus, um in irgendeiner Weise seine Gefühle gegenüber Menschen wie Maria Jegorowna Marjasow auszudrücken. Und wie viele Großbauern gab es in Sorokino, den Heimatdörfern ihrer Eltern - Kortus, Listwjagow – das übrigens für die damalige Zeit ausgesprochen reich war. Schon lange weilt diese liebe Frau nicht mehr unter uns, doch über das Schicksal, von dem sie verfolgt wurde, berichtete ihre Schwiegertochter – Jewdokia Grigorewna Marjasowa. Sie erlaubte es uns, die Dokumente zu benutzen, die noch erhalten geblieben sind. Die Eltern wurden samt Bruder Jakob wie nutzloses Zeug aus dem Haus geworfen. Maria selbst rettet die Heirat vor der Verbannung. Der Besitz wurde, so wie war, konfisziert. Maria sah ihre Eltern nie wieder; sie hat so viele Tränen vergossen. Marias Eltern: Jegor Sawelewitsch starb, niemand kennt sein Grab, und Marias Mutter – Tatjana Andrejewna – starb auf dem Weg in die Verbannung, in der Taiga. Bruder Jakob Jegoritsch kam nach der Verbannung an die Front. Er kämpfte heldenhaft, verteidigte die Heimat. Wie schwierig und gefährlich es auch war, er versuchte stets, in den vordersten Bataillonen zu sein, träumte von einem Wiedersehen mit der Schwester, der einzigen Verwandten, die er noch besaß. Im Krieg wurde er schwer verwundet und verlor ein Bein. Nach dem Krieg lebte er in der Ortschaft Maiskoe, Ischmarkser Bezirk, Gebiet Kemerowo, arbeitet als Lehrer der Grundschulklassen. In die Heimat kehrte er nicht wieder zurück. Viel Liebe legte er in seinen Beruf. Trotz seines «verwahrlosten» vergangenen Schicksals, brachte Jakob seinen Schülern bei zu lieben, das Leben zu hüten und zu schätzen, die Meinung anderer zu respektieren, sich allen Dingen gegenüber ehrlich und gewissenhaft zu verhalten. «Wie viel gruseliges und zugleich Interessantes Jakob Jegoritsch erzählt hat, - erinnerte sich Jewdokia Grigorewna. E hat nie jemandem irgendetwas berichtet, hat immer gesagt, dass er Angst hätte, damit nur die Kinder nicht das gleiche Schicksal erlebten. Erst kurz vor seinem Tod im Jahre 1992 sprach er über sein bitteres Leben, das Leben eines verbannten Bauern, wie er vom frühen Morgen bis zum späten Abend beim Holzeinschlag gearbeitet hatte und oft nichts zu essen erhalten hatte, weil es vergessen worden war».
Und dass er immer in seine Erzählungen und Erinnerungen diese beiden Menschen, Bruder und Schwester, einbezogen hatte, - sie sollten über ihr Leben, über die Menschen nicht in Zorn und Erbitterung geraten. Im Gegenteil, Maria Jegorowna sagte stets: «Gut leben müssten diejenigen, die heute ein solches Leben vor der Revolution rühmen und ab ihrem 5. – 7. Lebensjahr auf dem Feld gearbeitet haben. Mir haben sie „Kulaken-Tochter“ hinterhergeschrien, - aber was ich in meiner Kindheit gesehen habe, war nichts als Arbeit – nichts anderes. Ich habe gar keine Kindheit kennengelernt, habe sie nie zu sehen bekommen».
Ja, die Revolution, der Bürgerkrieg haben die Gesellschaft gespalten. Auf dem Lande gehörten zu den Armenkomitees oft jene, die nicht arbeiten wollten, aber gut reden konnten. Sie waren es, die mit den anderen Dorfbewohnern häufig kurzen Prozess machten: wen sie beneideten, den bezeichneten sie kurzerhand als Kulaken, und die machten sie fertig, d.h. mit denen rechneten sie kurzerhand ab. Sie hatten ihre Gesetzte. Es gibt noch lebende Angehörige; deswegen konnte Maria Jegorowna die Namen derjenigen, über die die Bewohner des Dorfes Sorokino immer schlecht redeten, nicht nennen. Aber dieser Mann war sowohl aktiver Komsomolze, als auch Repressionsopfer und Aktivist. Er, mit Macht ausgestattet, verängstigte die Menschen, war der Ansicht, dass er sich alles erlauben, alles machen könnte. Und es gab auch Neider und Schiefaugen. Und unter diesen „schwarzen“ Menschen fand sich einer, der sich auf jegliche Art bemühte, die Familie von Wassilij Trifonowisch Garbusow auszusiedeln.
Diese Familie hat genauso ihre traurige Geschichte, wie viele tausende Menschen jener Zeit. 1929 wollte Wassilij Trifonowitsch Garbusow nicht der Kolchose beitreten. Die Familie war groß, die Kinder waren herangewachsen und konnten in Haus und Hof bereits gut mithelfen. Sie führten ein solides, kräftiges Leben – so drückte man es damals in Sibirien aus. Es war Herbst. In der Nacht kam Tatjana Mastrakowa ans Ufer des Jenisseis und sagte, dass sie am Morgen kommen würden, um den Besitz aufzulisten. Wassilij Trifonowitsch und Demid Suworow versteckten sich die ganze Nacht und brachten die wertvollsten Dinge fort, die sie sich, wie man sagt, mit viel Blut und Schweiß angeschafft hatten. Sie schleppten alles fort und versteckten sich dann bei Demid. Am Morgen kamen sie – und fanden nichts. Einige Zeit später wurden sie erneut vorgewarnt – man wird euch aussiedeln. Großvater Iwan und Großvater Demid stellten ein Pferd zur Verfügung, und in der Nacht begab sich Garbusow in aller Heimlichkeit, zusammen mit seiner Familie, nach Kortus. Seine Frau Taraskowa Wassiljewna Garbusowa hatte dort Verwandte wohnen. Dort kamen sie unter und blieben dort. Doch auch am neuen Wohnort hatten sie ein unruhiges Leben. Überall rief man ihnen nach: «Die Kulaken sind da». Als sie die Demütigungen und Beleidigungen nicht länger ertragen konnten, reisten sie ab, wohin die Augen sie führten. Im Dorf Jerba ließen sie sich nieder. Die ganze Familie mit 7 Personen fand in einer winzigen Kate Unterschlupf. Sie schliefen, wo sie gerade ein Plätzchen fanden. Doch auch dort fanden die Garbusows keine Ruhe. Auch hier wurden sie wieder als Kulaken beschimpft. Was sollten sie tun? Wie sollten sie weiterleben? Hierbleiben bedeutet, dass sie einen zum Holzeinschlag schicken würden, mit anderen Worten – in den Tod, denn kaum jemand kehrte lebend von dieser harten Arbeit zurück. Die Familie, die Kinder, mussten gerettet werden. Und so beschlossen sie, sich auf den Weg nach Chakassien zu machen, aufs Land. Dort kannte sie niemand, niemand wusste, wer sie waren, woher sie kamen, und niemand beschimpfte sie als Kulaken. Sie lebten im Dorf Snamenka. Dort arbeitete Wassilij Trifonowitsch beim Bau des Klubhauses, die Kinder gingen zur Schule. Sie hatten Sehnsucht nach Zuhause. Viele Jahre später kehrten sie trotz allem nach Kortus zurück, wo Garbusow eine Tätigkeit als Kutscher beim Direktor aufnahm. Sie wurden nicht mehr als Kulaken bezeichnet. Und im Grunde genommen – was hatte denn der «Kulak» Garbusow auf seinem Hof schon besessen? Ein paar Pferde, Kühe, und das Korn säten sie selber aus. Die Scheunen zur Einlagerung der Ernte hatten sie auch selber errichtet. Schließlich war die Familie nicht klein. Das alles berichtete Garbusows Tochter – Alexandra Wassilewna Sorina. Sie sagt: «Ja, danke Tante Tanja; wenn sie nicht gewesen wäre, wäre unsere Familie vielleicht auch so zu Grunde gegangen, wie die Familie Marjassow - Jegor Wassilewitsch und Tatjana Andrejewna – und vieler anderer, tausender und abertausender unschuldiger Bauern und Werktätigen». Jà, eine schwere Zeit war das damals.
Aktiv wurde von der Deportation ganzer Völker oder eines Teils davon Gebrauch gemacht. Am 28. August 1937 wurde das Dekret über die Liquidierung der autonomen Republik der Wolgadeutschen sowie ihrer Ausweisung nach Mittelasien und Sibirien verabschiedet. Doch warum wurde dieses Dekret erst erlassen, als Hitler den Krieg erklärte?! Und genau da begann das Allerschlimmste für die Wolgadeutschen. Ein Teil der fleißigen Deutschen wurde 1942 in die Arbeitsarmee mobilisiert, was sich praktisch nicht von einer Haftverbüßung im Lager unterschied. In der Region wurde eine Arbeitsarmee-Filiale am KrasLag organisiert, es gab eine Arbeitsarmee-Zone an der Station Sorokino. Von 1943-1944 kamen sowjetische Kriegsgefangene in Lager und in die Verbannung, die zuvor vorsorglich Filtrationslager durchlaufen hatten. Im Zusammenhang damit brachte das Verteidigungskomitee 1942 das Dekret über Familien von Vaterlandsverrätern heraus. Wenn jemand verwundet, ohne Bewusstsein, schwerstverletzt in Gefangenschaft geriet – dann war er ein Vaterlandsverräter. Floh er aus der Gefangenschaft, dann hieß das – er betrieb Sabotage. Doch wie kränkend war es für diejenigen, die in deutschen Lagern gehalten, geschunden, geprügelt, gequält wurden, aber wenn er Glück hatte und es ihm gelang, aus der Gefangenschaft zu fliehen oder er von russischen Truppen befreit wurde – dann wurde er erneut, in seiner eigenen Heimat, in Stalins Lagern misshandelt, gequält, vernichtet. Und all das wirkte sich auf ihre Familien aus. Sie wurden ebenfalls von der Welt, von den Rechten des Menschen abgeschnitten.
Das Thema «Wolgadeutsche» steht in unmittelbarem Zusammenhang mit meiner Familie, das heißt mit den Großeltern meiner Eltern. Da die Großmutter mütterlicherseits verstarb, als ich noch ganz klein war, erzählte meine Mutter mir das, was ihr über jene Zeit bekannt war.
«Inzwischen verstehe ich den Sinn des Lebens ein wenig besser und kann wohl über jene schrecklichen Jahre berichten, von denen mir meine Großmutter Sophia Iwanowna Seifert (geboren 1898) so oft erzählt hat (01). Sie und ihr Ehemann Iwan Iwanowitsch lebten an der Wolga, im Gebiet Saratow. Sie hatten 10 Kinder, von denen 6 an Hunger starben. Wie man weiß, herrschte 1932-33 an der Wolga eine große Hungersnot; vier Kinder überlebten – zwei Söhne und zwei Töchter. Sie verrichteten gewissenhaft ihre Arbeit, machten die Rücken krumm, um ihre Kinder irgendwie durchzufüttern und großzuziehen. Doch dann kam das schicksalhafte Jahr 1941, schicksalhaft für alle Menschen der Sowjetunion, aber für die Deutschen war es besonders schlimm. Innerhalb von 24 Stunden sollten sie ihre angestammten Orte verlassen. Die Menschen mussten alles zurücklassen: Häuser, Höfe und all ihre Sachen. Nur das Allernotwendigste durften sie mitnehmen. Die Kinder waren noch klein. Meine Mama war damals 7 Jahre alt, doch auch sie erinnerte sich ihr Leben lang daran. Viele wurden damals auf Lastkähne verfrachtet, überquerten die Wolga, und Hitler war bereits dabei, alles zu bombardieren. Viele Lastschiffe mit Menschen an Bord wurden durch einschlagende Geschosse versenkt. Manche wurden mit Zügen transportiert. Das von seinen Herren verlassene Vieh brüllte, russische Menschen weinten und begleiteten ihre deutschen Nachbarn noch ein Stück weit. Und dann gelangten meine Großeltern zur Sonderansiedlung in die Region Krasnojarsk, in den Idrinsker Bezirk (02). Das war im August 1941. Sie mussten sich an die neuen Orte und Menschen gewöhnen.
Großmutter hat immer gesagt, dass die Welt nicht ohne gute Menschen ist. Russen halfen ihnen, aber, wie immer, gab es auch äußerst unwirtliche Leute, von denen sie als «Faschisten, Gestapo-Leute» beschimpft wurden. Ja, dieser Krieg hat die gesamte deutsche Nation, die lange, lange Jahre Erniedrigungen und Demütigungen seitens der Behörden und der Menschen ertragen musste, mit einem schwarzen Fleck belegt. Genau ein Jahr später, 1942, wird Sophia Iwanowna zu den Bau-Bataillonen mobilisiert – das war im November. Und wenig später holten sie auch Großvater Iwan in die Arbeitsarmee. Zu Hause bleiben die Kinder zurück, ganz allein. Auch der älteste Sohn wurde in die Trudarmee einberufen, aber die anderen drei Kinder blieben allein zurück. Wie konnte man so mit Menschen umgehen? Gott allein weiß, wie schwer die Mutter es hatte, so weit von ihren Kindern entfernt, ohne etwas von ihnen zu wissen, ohne zu wissen, ob ihr Mann, ihr Sohn noch am Leben waren.
Die Kinder waren sich selbst überlassen, die älteren halfen den jüngeren. Meine Mama war noch klein, sie verdiente sich ihr Stückchen Brot damit, dass sie die Wäsche anderer Leute wusch. Es ist schrecklich, sich die kleinen Hände eines achtjährigen Mädchens vorzustellen, die Wäsche waschen.
1943 wird Oma Sophia in die Baschkirische ASSR, in die Trudarmee, mobilisiert.
Das bezeugen Bescheinigungen, die man uns aus dem Archiv der Region Krasnojarsk
zugesandt hat.
Und erst 1944 erlaubten sie Oma Sophia zu ihrer Familie zurückzukehren. Auch Opa
Iwan kam aus der Arbeitsarmee zurück - natürlich war bei beiden die Gesundheit
untergraben. Aber man musste leben, die Kinder großziehen. Tag für Tag mussten
sie sich in der Kommandantur melden, nirgends durften sie ohne Erlaubnis
hinfahren. Worin liegt die Schuld dieser armen Menschen? Darin, dass sie
Deutsche sind? Oder gab es ein Vernichtungsminimum für alle Rassen?
Im Dezember 1955 kam das Dekret über die Abschaffung der Kommandantur-Aufsicht heraus. Und 1956, am 31. Januar, wurden sie aus der Sonderansiedlung freigelassen.
Was sollten sie tun? Schließlich waren doch schon 15 Jahre seit dem Augenblick ihrer Aussiedlung aus dem Wolgagebiet vergangen. Die Kinder waren herangewachsen. Zu der Zeit war der älteste Sohn bereits verheiratet, es gab bereits Enkelkinder, und so beschlossen sie, in Mansk, im Idrinsker Bezirk, zu bleiben. Aber soweit ich mich erinnern kann, vergoss die Großmutter immer bittere Tränen und wollte so gern wieder nach Hause. Sie wurde 84 Jahre alt, und vor ihrem Tod war es ihr letzter Wunsch, wenigstens noch einmal ein Auge auf ihr Häuschen, auf ihr Heimatdorf, zu werfen. Erst jetzt, mit den Jahren, verstehst du, wie schwer es ihr ums Herz war wegen allem, was auf ihr Los entfallen war, was sie in der Arbeitsarmee durchmachen musste. Wer war der Gewinner?»
Tausende verkrüppelter Schicksale. Ich, die Urenkelin dieser lieben und guten Oma Sophia, kann diese Zeilen nicht ohne Tränen niederschreiben. Ich weiß, dass auch die Großeltern väterlicherseits in der Arbeitsarmee waren, aus Erzählungen konnte ich entnehmen, dass fast keiner der Umsiedler aus dem Wolgagebiet diesem Schicksal entgehen konnte. Und noch viele weitere Jahre danach hatten die Deutschen keinerlei Rechte, obwohl das Dekret bereits 1956 erging war. Sie dienten in der ersten Zeit nicht in der Armee, sie bekamen keine höheren Ränge, das heißt ihnen war noch sehr lange der Stempel Hitlers aufgedrückt, wenngleich sie Sowjet-Deutsche waren. Meine Mama erinnerte sich an die Worte, die ihre Großmutter Sophia einmal geäußert hat: «Lege deine Aufmerksamkeit niemals auf die Nationalität, so lange ein guter Mensch vor die steht. Egal, ob er Chakasse oder Usbeke ist, die Nationalität ändert daran nichts. Ein Mensch muss immer ein Mensch sein». Ja, sie hatten den Menschen entwurzelt, egal welcher Nation er angehörte. Ein Volksfeint war er – und fertig! Beweise fanden keine Berücksichtigung. Entwurzelt haben sie ihn, aber nicht ausgerottet.
Wir, die junge Generation des inzwischen schon 21. Jahrhunderts, befinden uns in einer unbezahlbaren Pflicht vor unseren Großvätern und Urgroßvätern. Wir achten die Geschichte, wir lieben die heimatliche sibirische Erde und bemühen uns, die Vergangenheit zu erfahren. Es scheint, als wäre so ein großer vaterländischer Krieg beendet. Vier schreckliche Jahre ohne Schlaf und Ruhe. Die Menschen schonten ihre Kräfte nicht, sie arbeiteten im Hinterland für das Wohl ihrer Heimat. Sie schufteten auf den Feldern von morgens früh bis in die späte Nacht hinein, hungerten, litten an Schlafmangel. Und trotzdem wurden viele wegen der kleinsten Vergehen, wegen einer beliebigen Verleumdung, verhaftet.
Ja, wir dürfen nicht vergessen, wir müssen uns erinnern und wenigstens eine Kleinigkeit für jene tun, die noch am Leben sind. Und ich rufe alle auf, besonders jene, die von den Repressionen betroffen waren, deren Angehörige, Freunde oder einfach nur Bekannte noch leben: verschafft ihnen ein gemütliches Zuhause, erwärmt sie mit euren herzlichen Worten, die ihnen so unendlich viele Jahre nicht entzogen wurden. Sie verdienen es glücklich zu sein. Möge ihnen, diesen wenigen, die noch am Leben sind das Leben etwas leichter werden. Mögen die Tränen in ihren Augen trocknen, ihre seelischen Wunden sich schließen.
Ich möchte ihnen allen, die heute noch am Leben sind, im Namen meiner gesamten Generation meinen aufrichtigen Dank für ihr Durchhaltevermögen, für ihre Standhaftigkeit, sagen. Es sterben diejenigen, welche die Schwere jener furchtbaren Jahre erlebt haben, aber es bleiben diejenigen, die mit und neben ihnen gelebt haben, denen sie von dieser schrecklichen Zeit erzählt haben. Obwohl ich davon überzeugt bin, dass viele von ihnen ihren ganzen Schmerz mit ins Grab genommen haben. Natürlich sind auch die am Leben geblieben, die mit den Erschießungen, Hinrichtungen, Morden, Verhaftungen zu tun hatten. Natürlich haben sie das auf Befehl getan, aber viele auch aus freiem Willen. Wie man im Volk sagt, wird Gott ihr Richter sein. Ewiges Gedenken allen Opfern der politischen Repressionen und der Stalinistischen Lager!