Geboren 1938. Es fällt ihr sehr schwer, sich an alles zu erinnern, aber vergessen kann sie es auch nicht.
Alle Deutschen wurden 1941 mit aller Dringlichkeit aus dem Wolgagebiet nach Sibirien ausgesiedelt. Nur das Allernötigste durften sie mitnehmen. Man benahm sich den Leuten gegenüber so, als wären sie Verbrecher. Sie wurden in Güterwaggons transportiert, was besonders für die Kinder und alten Menschen schlimm war. Sie trafen in Krasnojarsk ein, von wo sie mit Lastkähnen weiter auf dem Jenissei fuhren. In der Nacht stoppten die Kähne in der Mitte des Flusses, ein Bugsierschiff, ein Kutter fuhr los, damit man am Ufer übernachten konnte. Einmal kam in der Nacht ein heftiger Wind auf, und die Lastkähne wurden die ganze Strecke, die sie tagsüber zurückgelegt hatten, entgegen der Strömung zurückgetrieben. Die Menschen froren, denn es gab keine warme Kleidung. Doch für viele war auch Belojarsk noch nicht das Endziel der Reise. Männer und Frauen wurden in die Arbeitsarmee eingezogen; die zurückgebliebenen Kinder, Mütter mit vielen Kindern und Alten wurden in den hohen Norden geschickt – nach Turuchansk und sogar noch weiter. Meine Mama geriet ebenfalls in die Arbeitsarmee, Papa war Invalide, ihn holten sie nicht, aber in der Kolchose musste er immer die Arbeiten verrichten, zu denen man ihn rief. Es ergab sich so, dass Papa zu dem Zeitpunkt, als sie Mama wegholten, nicht zu Hause war; er arbeitete beim Fuhrwesen und transportierte mit Pferden Brot nach Abakan. Ich blieb allein in der Wohnung zurück, ich war damals vier Jahre alt. Der Vater wurde an einen anderen Arbeitsplatz versetzt, als Viehhirte für die Kolchos-Kühe. Er musste dann auch mich mit zur Arbeit nehmen, zum Kühe hüten. Manchmal gaben mitleidige Melkerinnen mir heimlich etwas Milch zu trinken. Brit gab es nicht. Wir mussten gefrorene Kartoffeln und Kohl essen, und in den Mahlzeiten waren sogar Kartoffelschalen mitverarbeitet. Mit Beginn des Sommers pflückten wir Sauerampfer, Sauerklee, Feldzwiebeln. Ich kam nicht rechtzeitig in die Schule, weil ich nichts zum Anziehen hatte. Nachdem ich 1954 die 7. Klasse mit Auszeichnung beendet hatte, begann ich als Melkerin zu arbeiten. Mein Studium am Technikum konnte ich vergessen, denn ich stand immer noch unter Kommandantur. Mama kehrte 1948 zurück, innerhalb von fünfeinhalb Jahren hatten wir uns so verändert, dass wir uns nicht wiedererkannten. Wie schwierig alles auch war – nach und nach kam unser Leben zurecht. Schließlich heißt es nicht umsonst: leben bedeutet wissen, wie man überlebt. Schon früh mussten wir arbeiten. Ab dem 9., 10. Lebensjahr, zur Sommerzeit, gingen alle Kinder zum Unkraut jäten auf die Felder; der Weg dorthin betrug 5-6 Kilometer, zu Fuß, und denselben Weg zurück nach Hause. Ab dem 12. Lebensjahr wurde bei der Heumahd mitgeholfen; überdachtet wurde in Heuhaufen unter freiem Himmel, ohne eine warme Mahlzeit. 1956 wurde die Kommandantur abgeschafft, und 1995 kam das Dekret über die Rehabilitierung heraus. Aber für viele war der Zug bereits längst abgefahren, das Leben war vorüber. Derzeit lebe ich allein, aber man kümmert sich um mich. Ich habe zwei Söhne, 6 Enkel und 5 Urenkel. Das Leben ist nicht umsonst gewesen, und es geht weiter.
1979. Emilia Iwanowna mit Sohn
2005 mit Ehemann Sergej Fjodorowitsch