Alles, was ich hier geschrieben habe, entspricht der Wahrheit. Daß sie meinen Mann nach § 58 verurteilten und im Jahre 1942 an die Front schickten, das weiß ich aus seinen Erzählungen. Aber seine Rückkehr aus der Hölle habe ich selber gesehen. Traurige und quälende Spuren sind im Herzen geblieben, und all das Durchlebte wird auf ewig im Gedächtnis haften bleiben; da gibt es kein Entrinnen. Ehrlich gestanden – ich habe fünfmal angefangen zu schreiben, aber es ist mir irgendwie nicht gelungen, meine Gedanken zu sammeln. Der Krieg hat viele Opfer mit sich gebracht. Die Menschen, die das Vaterland verteidigt haben, bemitleiden sich nicht, man gedenkt ihrer und hält sie in Ehren. Aber da sind jene, die in den stalinschen Lagern umgekommen sind, die nur mit Mühe überlebten oder für den Rest ihres Lebens zu Invaliden wurden; wie lange hat man über sie Stillschweigen bewahrt. Als Volksfeinde hinter Stacheldrahtzaun. Auch mein Mann, Dmitrij Nikitowitsch Kantschewskij (?), Jahrgang 1914, konnte diesem bitteren Los nicht entrinnen. Bereits in den ersten Kriegstagen ging er an die Front; er war Rotarmist in der 24. Freiwilligen-Brigade. Neben der Station Kirischi, im Gebiet Leningrad, wurden einheimische Waffen repariert. Nach dem Gefecht brachten auch Deutsche ihre Waffen zur Reparatur dorthin.
Am 4. November 1942 betraten zwei Sonderbeauftragte die Erdhütte: „Wer ist hier Kantschewskij? Legen Sie die Waffen ab, Sie sind verhaftet“. Die Hände auf dem Rücken ging er zum Verhör. Fünf Tage und Nächte quälten sie ihn: „Gesteh’, daß du Pole bist und kein Weißrusse. Dein Vater ist Gutsbesitzer, er besaß Lohn-Arbeiter“. „Du glaubst nicht an den Sieg“, sagen sie. Und all das spielt sich unter den auf ihn gerichteten Mündungen von Pistolen ab. „Nun, das bedeutet sie haben mich zu unrecht beschuldigt, ich bin verloren“, dachte mein Mann. Auf alle Fragen antwortete er verneinend. Daß er kein Pole war, sondern Weißrusse, daß sein Vater auf weiten Strecken Maschinist gewesen war und er selbst an den Sieg glaubte. Sie nahmen ihm das nicht ab. Nachts riefen sie ihn alle zwei Stunden heraus. Und schließlich machte er eine folgenschwere Aussage: „Ich werde unterschreiben, und dann machen Sie mit mir, was Sie wollen“.
Sie verurteilten ihn nach § 58 zu 10 Jahren. Mein Mann kam in ein Lager im Gebiet Wologda, der Insel „Sladkij“. „Das war ein entsetzlicher Alptraum“, erzählte er. Dort gab es keine Menschen, sondern lebendige Leichen, und die meisten von ihnen waren Wehrkommandeure und gemeine Soldaten. Zu essen gab es trübe Brühe und ein Stück Brot, und täglich starben 10-20 Menschen an blutigem Durchfall. Wie Brennholz wurden sie in Gruben verscharrt. Ich weiß nicht, wie er überlebt hat, wahrscheinlich nur aufgrund seiner Jugend – er war damals 28 Jahre alt. Nach 9 Monaten kam eine Kommission aus Moskau. Viele wurden freigelassen; auch mein Mann hatte Glück, weil er kurz vor dem Krepieren war und schon mit einem Fuß im Grab stand. Man schickte ihn ins Iwanowsker Gebiet, in die Stadt Furmanow. Er fuhr mit einem Kameraden, der ebenfalls nach § 58 verurteilt worden war. Für den Weg gab man ihnen zwei Laibe Brot. Sie fuhren bis zur Station Dolowizy, daneben lag ein Dorf. Sie gingen in ein Haus hinein, niemand war da; auf dem Tisch stand eine Kerosinlampe und lag ein noch nicht abgesengelter Schafskopf. Sie wollten schrecklich gern essen. Im Haus war niemand. Sie nahmen diesen Kopf und begaben sich nach Furmanow. Die Reinmachefrau gab ihnen Bezugsscheine und eine große Blechdose. Und so aßen sie den Schafskopf. Der Kamerad starb noch an der Station. Die Miliz sagt: „Schaff ihn fort und begrab ihn“, aber er kann kaum auf seinen eigenen Füßen stehen. Er ging ins Kreis-Exekutiv-Komitee und erzählte alles, was sich zugetragen hatte. Dort arbeiteten nur Frauen. Eine fing an aus dem Heft mit den Lebens-mittelkarten Brotmarken abzureißen, dem einen für 200 g, dem anderen für 300 g. Eine Frau gab die Brotmarken für einen ganzen Monat aus und weinte ununterbrochen.
Das Kreis-Exekutiv-Komitee schickte ihn zur Issajewsker Torfstecherei. Da sah ich auch einen Menschen, der aus der Hölle zurückgekehrt war. Nicht zufällig hatten die Frauen im Kreis-Eekutiv-Komitee geweint. Er wog gerade noch 46 kg und sah aus, wie ein alter Mann von 70 Jahren. Er trug eine zerrissene Hose, als Gürtel hatte er sich einen durchlöcherten Strick umgebunden, die Schnürschuhe waren zerfetzt, die Mütze auch nicht mehr ganz. Auf dem Kopf hatte er kein einziges Haar. Es gibt keine Welt ohne gute Menschen. Der Direktor der Torfstecherei war ein solcher Mensch. Er rief den Koch herbei und bat ihn, Kantschewskij (?) besseres Essen zu geben; ferner gab man ihm eine Steppjacke, eine wattierte Hose, der Direktor schenkte ihm seine Mütze und gab das Walken von Filzstiefeln in Auftrag. Ja, dank diesem guten Menschen überlebte er. Der Direktor besaß eine eigene Kuh, seine Frau brachte oftmals Milch vorbei, Geld nahm sie nicht dafür. Eingestellt wurde ich als Kessel-Schlosser für Torfmaschinen; es gab keine Männer – sie waren alle an die Front gegangen. Er organi-sierte eine Brigade aus 14-15jährigen Halbwüchsigen; als mein Mann wieder gesund gewor-den war, bekam er einen Gestellungsbefehl zur Front. Der Direktor war darüber mißgestimmt; mein Mann war ein guter Spezialist. Er konnte durch niemanden ersetzt werden. Der Direktor ging zur Kreis-Verwaltung und erreichte, daß man ihn „zur Reserve“ aufstellte. Jetzt ist der Direktor schon nicht mehr am Leben. Ewiges Gedenken sei dir, du guter Mensch, und das sollte man in Großbuchstaben schreiben.
Oft quälte meinen Mann die Frage, wofür sie ihn eigentlich verurteilt und ins Todeslager gesteckt hatten. Wo findest du eine Antwort darauf; wahrscheinlich war das eben so die Zeit. Im Zusammenhang mit der Einstellung des Issajewsker Torfbetriebes zogen wir zur Jakowlewskojer Torfstecherei im Priwolschsker Kreis, Iwanowsker Gebiet. Auch hier schätzte die Verwaltung meinen Mann als einen guten Arbeiter. Aber es gärte das Gerücht, daß er ein „Volksfeind“ sei, einer, der mit den deutschen Besatzern unter einer Decke gesteckt hatte. Auch die Nachbarn redeten so und ließen ihn nicht in Ruhe. Am 9. Mai wurde es zur Gewohnheit, den Kriegsteilnehmern 5 Rubel auszuteilen. Manchmal schreiben sie meinen Mann auch auf die Liste, aber immer mit einem Vorwurf. Ich gab ihm mein Geld und sagte: „Das haben sie aus dem Kontor geschickt“, damit er nur keine seelische Erschütterung erfuhr.
Ich werde nie vergessen, wie sie eines Tages in meiner Anwesenheit aus der Buchhaltung die
Kreis-Sozialfürsorge im Kreis-Komitee der Komunistischen Partei der Sowjetunion angerufen haben: „War Kantschewskij im Krieg? Was ist das eigentlich für einer?" Und dabei haben wir hier schon 20 Jahre gelebt. Das alles hallt im Herzen wider. Manchmal wurde er mit Ehren-urkunden ausgezeichnet oder mit dem Titel Bestarbeiter geehrt, und mal wollen sie einem klarmachen, wofür er gesessen hat. Einmal hängten sie Listen im Kontor der "Arbeitsvete-ranen“ auf. Mein und sein Familienname standen darauf, und jemand meinte, daß die Namen gestrichen werden sollten – er, der mit den Besatzern zusammengearbeitet hatte, und sie als Beteiligte. Und das alles mußten wir durchmachen. Im August 1983 starb mein Mann aufgrund einer Herzkrankheit; immer war er krank gewesen, offenbar kamen darin das Lagerleben und die vielen ungerechtfertigten Kränkungen zum Ausdruck.
Am 4. Januar 1989 schickte man mir aus Moskau eine Bescheinigung, daß die Anklage-schrift vom 23.11.1942 in Sachen Dmitrij Nikitowitsch Kantschewskij, geb. 1914, bis zur Verhaftung am 04.11.1942 Rotarmist in der 24. Freiwilligen-Brigade, vom Militärtribunal des Leningrader Gebietes für ungültig erklärt worden sei. Und die Akte sei wegen mangelnden Tatbestandes geschlossen worden. D.N. Kantschewskij wurde in der vorliegenden Angelegen-heit rehabilitiert, aber er starb – er weilt schon nicht mehr unter den Lebenden.
Kantschewskaja
Arbeitsveteranin, Witwe eines Repressionsopfers