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Gennadij Petrowitsch Kapustinskij . Begräbnis in Kansk

Guten Tag, verehrte Genossen!

Mein Name ist Gennadij Petrowitsch Kapustinskij. Ich wurde in Kansk geboren und bin dort auch aufgewachsen.

Deswegen möchte ich mit Ihnen meine Gedanken teilen, die mich schon viele Jahre bewegen und mir keine Ruhe lassen. Zum Glück bin ich durch einen Zufall an Ihre Adresse geraten, was ich mir nun zunutze machen möchte.

Es geht darum, daß bekanntlich in der Stadt Kansk und Umgebung in der stalinistischen und poststalinistischen Zeit zwei Lager eingerichtet waren, das KrasLag und das JenissejLag. Dort, wie überall, litten tausende von bekannten und unbekannten Menschen. Diese Menschen befanden sich in Lagern, waren schrecklichen Leiden und Repressalien ausgesetzt, wurden krank und starben. In einer Reihe von Fällen wurden sie umgebracht. Viele Orte, an denen solche Menschen begraben wurden, sind nicht bekannt, einige bereits zerstört, und zahlreiche Menschen, die in den Lagern des KrasLag und JenissejLag verschwanden, gelten bis heute als verschollen. Nach dem Krieg, als mein Vater und seine Brüder von der Front zurückkehrten, begannen sie für sich Häuser am Stadtrand von Kansk zu errichten, dort wo sich die Siedlung der Holzverarbeitungsfabrik (Zellulosewerk) befindet, neben dem Flugplatz des KrasLag. Die nächste Umgebung war völlig unbewohnt, es gab keine einzige Behausung, wir waren die allerersten Siedler. Ich kann mich noch sehr gut an jene Zeit erinnern, denn damals war ich schon 7 oder 8 Jahre alt (1939 wurde ich geboren). Auch meine Kusins und Kusinen wissen das alles noch. Ich habe ihre Adressen; falls Sie eine Bestätigung haben möchten, werde ich sie Ihnen gern zur Verfügung stellen.

Der Flugplatz befand sich am Steilufer eines namenlosen Flüßchens – einem Nebenfluß der Tarajka, den das oben erwähnte Zellulosewerk erfolgreich mit Lignin verschmutzt hat (jetzt heißt sie biochemische Fabrik). Das Umfeld des Flugplatzes war mit einem Stacheldrahtzaun umgeben. Unweit des Abhanges stand ein Hangar, in dem sich Flugzeuge befanden – sog. „Kukurusniki“ vom Typ PO-2. Hier arbeitete mein Onkel Wladimir Pawlowitsch Kapustinskij und flog diese Flugzeuge; er war Frontkämpfer, Held des Vaterländischen Krieges. Leider ist er jetzt schon tot. 150-200 m hinter den Begrenzungen des Flugplatzes lag ein Friedhof, auf dem die Häftlinge der nahegelegenen Lager beerdigt wurden. Am Rande dieses Friedhofs stand ein hölzernes Wohnhaus, in dem ein Opa und eine Oma lebten, - offensichtlich Fried-ofswärter. Neben diesem Haus stand ein Gebäude mit einem hohen Schornstein – anscheinend ein Krematorium. Damals sagten die Erwachsenen uns, daß dies eine "Fettschmelzerei" ("Abdeckerei") wäre und dort, so hieß es, verbrennen sie Tierkadaver (Hunde, Katzen und ähnliches).

Wir, das heißt ich und meine Geschwister (denn in der näheren Umgebung gab es weiter keine Gleichaltrigen), gingen zum Angeln an den See, gleich neben dem Flüßchen. Dort konnte man prima Elritzen fangen. Der Weg führte uns stets über diesen Friedhof. Wir sahen häufig neue Einäscherungen, sahen viele alte Grabhügel, die in sich zusammengestürzt waren, ohne Gedenktafeln. Nie hat sich irgendjemand darum gesorgt. Für gewöhnlich tauchten neue Gräber im Sommer auf , morgens, wenn in der Nacht der Friedhof mit Soldaten umstellt worden war, hierher (auf diesen Friedhof) viele Autos gekommen waren und die ganze Nacht hindurch Flugzeugmotoren geheult hatten. Gegen Morgen wurde alles still, lediglich das Bellen und das Geheul der Hunde in der nahen Umgebung dauerte an.

Am Morgen, als wir zum Angeln gingen, entdeckten wir frische große Gräber, ganz offensichtlich Massengräber, sowie zahlreiche, erst kürzlich aus Maschinenpistolen abgefeuerte Patronenhülsen. Das geschah ziemlich oft. Auch im Winter wurden ähnliche Aktionen durchgeführt, nur Gräber gab es keine, aber den ganzen Tag über stiegen aus dieser

"Fettschmelzerei“ Rauchschwaden auf. Das heißt, daß dort, an dieser Stelle, Erschießungen vorgenommen wurden, und zwar Massenerschießungen. Wir waren zu jener Zeit noch Kinder, die unruhig herumrätselten, was es damit auf sich haben könnte und unseren erwach-senen Verwandten Fragen stellten, um was es sich da handelte. Da verboten sie uns an den See zu gehen, schimpften uns schrecklich aus und gaben uns den ausdrücklichen Befehl, nie-mandem etwas davon zu erzählen. Aber wir gingen trotzdem dorthin, besonders nachdem dort anstelle der alten Leute eine Familie mit einem Kind in unserem Alter einzog, mit dem wir uns anfreundeten. Der Junge hieß Wolodja Stadnik. Wir waren sogar bei ihm zuhause im Hof, und nachdem wir eine umfangreiche Sammlung verschiedener Schädel gesehen hatten – gelbliche, weiße, kleine, große, mit Zähnen oder ohne, danach hörten wir auf zu ihm zu gehen. Es stellt sich heraus, daß er mit den Totenköpfen spielt.

Nach 1953, nach dem Tode Stalins, wurde der Flugplatz geschlossen, viele Lager aufgelöst und andere nach Reschoty verlegt. Und nach einiger Zeit begann man auf dem Flugplatzge-lände eilig private Wohnhäuser zu bauen, der Friedhof wurde eingeebnet,die „Fettschmel-zerei“ beseitigt und dort das städtische Krankenhaus errichtet, das bis zum heutigen Tage dort auf den Knochen steht. Von 1989 bis 1993 schrieb ich aus diesem Anlaß an die Stadtzeitung „Macht der Räte“, an das Stadtkomitee der KPSS (Kommunistische Partei der Sowjetunion) und den WLKSM (Allrussischer Leninistischer Kommunistischer Jugendorverband). Ganz genau schilderte ich alles, und 1991, als ich bei meinen Eltern war, sprach ich auch per-sönlich bei der Zeitung sowie dem WLKSM vor. Man hörte mir höflich zu, antwortete, daß es keine Archive gäbe, das nichts aufbewahrt worden war – und das war alles. Ich wollte lediglich, daß auf diesem Friedhof irgendeine Gedenktafel aufgestellt wurde. Wir sind doch Menschen! Viele leben dort und wissen gar nicht, daß an dieser Stelle so viel Blut vergossen, daß hier wahrhaftig alles auf Knochen erbaut wurde. Mein persönliches Gewissen gestattet es mir nicht zu schweigen.

Jene Stelle kann ich ziemlich genau zeigen. Dort in Kansk wohnt ja auch mein Kusin Walerij Kapustinskij, der die Stelle ebenfalls gut kennt. Zudem leben auch meine Eltern noch, und Walerijs Mutter, Maria Dmitrijewna Kapustinskaja, denen die Sache auch bekannt ist.

Vielleicht ist es jetzt tatsächlich schwierig – ist es überhaupt möglich? – die Persönlichkeiten der in der damaligen Zeit dort umgekommenen and begrabenen Menschen ins Gedächtnis zurückzurufen?

Aber dort eine Gedenktafel aufstellen, damit man wenigstens seine Ehre erweisen und Blumen niederlegen kann, das ist unbedingt erforderlich. Und das wird die heute Lebenden daran erinnern, was vor so langer Zeit mit dem Land und dem Volk geschehen ist.

Aus diesem Grunde wende ich mich auch an Sie, mit der Bitte um Rat und Hilfe. Vielleicht befassen sich die Leute von Memorial mit dieser Frage? Noch ein paar Angaben zu meiner Person. Ich wurde 1939 in Kansk geboren. Nach Beendigung der Schule im Jahre 1957 ging ich zur Armee, schloß die Militärfachschule ab, später die Militärakademie und diente dann 30 Jahre bei den Streitkräften. Jetzt bin ich in Rente, im Status eines Oberst, und lebe in der Stadt Nowosibirsk. Meine Eltern wohnen in Kansk, in der Aerodrom-Straße Nr. 51 (zu Ehren eben jenes Flugplatzes benannt). Nebenan in der Aerodrom-Straße Nr. 47 leben mein Kusin Walerij und seine Mama Maria Dmitirjewna.

Die anderen Kusins und Kusinen, die auch über das Bescheid wissen, was ich weiß, leben in verschiedenen Städten. Ihre Adressen liegen mir vor. Hochachtungsvoll, Kapustinskij,

23.12.1993.


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