Geboren
am 22. Juni 1926 in der Ortschaft Klaus, in der Autonomen Republik der
Wolgadeutschen. Aufgrund des Ukas über die Umsiedlung vom 28. August 1941 wurde
er zusammen mit seiner Mutter in die Region Krasnojarsk verschleppt.
Verdienter Arbeiter der Fischwirtschaft Rußlands, Ehrenbürger des Tajmyr-Gebiets.
Die Stalinschen Repressionen brachen am 17. Juni 1938 in mein Leben ein. Mein Vater, der als Schmied in der Maschinen- und Traktoren-Station tätig war, wurde direkt vom Schmiedeherd weg verhaftet. Er hat Nischnij Tagil mit aufgebaut. Erst 19 Jahre später konnte ich ihn im Tajmyr-Gebiet wiedersehen. Man hatte uns den Stempel als Familie eines „Volksfeindes“ aufgedrückt. Im Alter von 15 Jahren arbeitete ich in Esaulowo, Region Krasnojarsk, als Pferdepfleger in der Kolchose, als Schuhmacher bei der Holzbeschaffung in der Taiga, am Fluß Mana. Vor der Abfahrt ins Polargebiet mußten sich die Sondersiedler beim Dorfrat sammeln. Der Kolchosvorsitzende Timofejew und seine Gesellschaft nahmen den Menschen alles weg, was ihm in den Sinn kam (Kleidung, Schuhwerk, Geschirr, Inventar ...). Sie verkündeten dabei, daß die Leute das alles gar nicht mitzunehmen brauchten, da sie insgesamt nur für drei Monate fortgeschickt würden. Eine derartige Willkür hatte niemand erwartet.
Der Transport erfolgte mit Leichtern und Lastkähnen, wobei sie alle in den Frachträumen oder auf Deck unter Aufsicht standen. Insgesamt waren es zwei Schiffskarawanen mit jeweilas acht Schiffen und den beiden Bugsierschiffen „Molotow“ und „Kalinin“. Unsere Karawane traf am 28. Juni 1942 in Dudinka ein. Die Menschen wurden verteilt. Ein Teil der Familien, unter ihnen auch unsere, wurden weiter nach Ust-Port gebracht. Aus der Siedlung wurden wir zur Fischfangstation Chetskie Peski geschickt. Das liegt am Jenisej – 18 km weiter südlich von Ust-Port. Wir wurden einfach am sandigen Ufer abgeladen. Sie gaben uns weder Baumaterial noch Werkzeuge. Wir mußten dort ohne Dach über dem Kopf leben und waren dem Regen und den Mückenschwärmen schutzlos ausgeliefert. Unsere Rettung war der Tatbestand, daß es unter uns zwei Männer gab, die sich mit dem Baugewerbe auskannten. Sie machten sich ein havariertes Floß zueigen, schlugen Pfähle in den Boden, bauten einen zweireihigen Flechtzaun zusammen und füllten den Raum zwischen den Stangen mit Sand aus. Sie gruben sich in die Erde ein, um irgendwie den Winter zu überstehen. Es gab weder Lampen noch Laternen. Den Winter verbrachten sie mit glimmenden Kienspänen. Sie heizten mit Erlenholz und dem Gestrüpp von Purpurweiden.
In Chetskie Peski betrieben wir unter Leitung von Spezialisten – Brigadeführern, die extra aus Astrachan mobilisiert worden waren, um die Sondersiedler zu unterweisen – gewerblichen Fischfang. Man fing den Fisch in ausgeworfenen Fischnetzen, die bis zu 500 Meter lang waren und über eine Höhe von etwa 18 Metern verfügten. Eine Schicht bestand jeweils aus 16 Leuten (Frauen und Halbwüchsigen). Nach einer 12-stündigen Arbeitsschicht wurde der Fang mit Booten in die Konservenfabrik nach Ust-Port geliefert. Im Herbst wurde der Fischfang mit Schleppnetzen unter unglaublichen Bedingungen weitergeführt. Bis zum 10. Oktober mußten wir barfuß im Wasser fischen, als das ganze Ufer bereits mit einer Schneedecke überzogen war. Du kommst aus dem Wasser, setzt deinen Fuß in den Schnee – und hinterläßt sogleich eine vereiste Fußspur. Seit jener Zeit ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, aber bis heute kann sich noch jeder gut an jene bitteren Tage erinnern. Manchmal hatten unsere Brigadiere auch Mitleid mit uns und wollten uns bei Sturm und eisiger Kälte nicht arbeiten lassen, aber der Bevollmächtigte hatte die alleinige Macht – er zwang uns mit allen Kräften weiterzuschuften. Keinem machte er Zugeständnisse, er besaß keine Gefühle mehr. Dabei sagte er immer: je mehr umkommen desto besser! Im Winter wurde der Fischfang, ohne warme Kleidung, mit Stellnetzen durchgeführt.
Im ersten Jahr stand der Fischfang unter der Leitung der Ust-Porter
Konservenfabrik. 1943 wurden im Bezirk Ust-Jenisej Fischfang-Kolchosen für die
Sondersiedler gegründet. Man schuf separate Wirtschaften für Letten, Kalmücken
und Deutsche. Zu der Kolchose „Gardist“ gehörte auch unsere Fangorganisation.
Die öffentliche Aufsicht blieb allerdings bestehen. Wir besaßen keinerlei
Dokumente, mit denen wir uns hätten ausweisen können. Die Registrierung und
Anmeldung wurde vom Kommandanten in ganz speziellen Journalen geführt. Es war
sogar verboten, sich in die Tundra zu begeben, um dort Beeren zu suchen. Wenn es
für einen Kranken notwendig wurde, in Dudinka einen Chirurgen aufzusuchen, so
mußte dieser so lange warten, bis einer der Kommandantur-Mitarbeiter den
Erkrankten begleiten konnte. In der Kommandantur nahm man den Deutschen das
schriftliche Versprechen darüber ab, daß sie bis ans Ende ihrer Tage auf eine
Rückkehr an die heimatliche Wolga verzichteten. Man verlangte von uns, daß wir
ein Schriftstück unterschrieben, mit dem wir für immer unseren Verzicht darauf
erklärten, die bei unserer Aussiedlung in der Heimat zurückgelassenen
Wertgegenstände (Häuser, Hofgebäude, Vieh, Geflügel und anderen Besitz)
zurückzufordern.
Sofern noch jemand eine Quittung über dieses Hab und Gut bei sich hatte, nahm
man es ihm nun einfach weg. Viel Hohn und Spott mußten wir über uns ergehen
lassen.... Unter derartigen Bedingungen arbeiteten wir fünf Jahre lang.
Aber die Jugend nahm sich das, was ihr zustand. Wir bemühten uns viel zu singen, organisierten Tanzveranstaltungen. Ich hatte eine Balalajka und eine Gitarre dabei. Auch bei anderen fanden sich eine Mandoline sowie eine zweite Balalajka. Wir stellten unser eigenes Orchester zusammen, unter dessen Klängen dann getanzt wurde.
Wir verdienten nur sehr wenig; erst später erfuhren wir, daß man uns bestohlen hatte. Häufig mußten wir unsere Marken für Zucker, Butter, Tabak und Tee verkaufen, um dafür Brot zu erwerben. Selbst unter diesen Bedingungen zeichneten alle aktiv Staatsanleihen, damit das Kriegsende schneller heranrückte.
Im Jahre 1947, wurde ich während der Wahlversammlung mit Rechenschaftslegung der Kolchose „Gardist“ zum Vorsitzenden gewählt. Das kam für mich völlig unerwartet. Vier Jahre leitete ich die Kolchose. Und die Sache lief gut. Ich fürchtete mich nicht vor der anfallenden Arbeit....
Wie es auch immer gewesen sein mag – in der Kolchose „Gardist“ starb jedenfalls über einen Zeitraum von zehn Jahren niemand, während im Ust-Jenisejsker Bezirk viele aufgrund von Skorbut ums Leben kamen. Die Kolchose „Vierter Fünfjahresplan“ im gewerblichen Fischfangrevier Nosonowsk war ein wahres Totenhaus. Bis 1947 wurde bei den Deutschen nicht ein einziges Kind geboren, ganze fünf Jahre lang war die Geburtenrate völlig zum Stillstand gekommen. Nachdem ich an der Abendschule erfolgreich elf Schulklassen absolviert hatte, wollte ich nach Nowosibirsk fahren, um dort eine Ausbildung zu machen, aber es ging nicht – aus dem einfachen Grunde, weil ich zu eben jener deutschen Nationalität gehörte. Seit den 1960er Jahren arbeite ich bei der regionalen Zeitung. Ich schrieb über die vorsichtige Beziehung zum Tajmyr-Gebiet, das für uns zur zweiten Heimat wurde, obwohl wir nicht aus freiem Willen dorthin gelangt waren. Es ist erfreulich und tröstlich, daß ich zum ersten Mal in der Presse im Hohen Norden über die Schicksale der Sondersiedler von der Wolga berichtet habe, daß das Thema der Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit in Bezug auf die Rußland-Deutschen und alle repressierten Völker seinen Platz in den Masseninformationsmitteln auf unserer Halbinsel, in der Region Krasnojarsk, gefunden hat. Trotzdem gibt es noch zahlreiche ungelöste Probleme bei der Wiederherstellung der Geistlichkeit, der nationalen Kultur. Diese Schuld vor den Opfern des Totalitarismus ist noch nicht bezahlt, und sie verlangt die verstärkten Bemühungen aller, die ihre nationalen Wurzeln erinnern und die Rechte jeder einzelnen Person in unserem großen und kleinen Volk achten.
Aus der Zeitung „Sowjetischer Tajmyr“
Vom 28. August 1988