„Die Zeit der Erinnerung ist gekommen,
Wie es mir heute scheint,
Dass wir einst
Zwei Länder
In einem hatten.
Das erste Land hat sich
Vor der ganzen Welt präsentiert,
Mit Freuden von sich Reden gemacht!
Das zweite haben sie weit weg gebracht
Und in einem einzigen Moment alle Wurzeln herausgerissen.
Der Zug ist durch die Felder gerollt,
Und alle, die im Waggon saßen,
hatten die „116 geteilt durch 2“...“
(116 geteilt durch 2 = 58; gemeint ist der politische § 58 des Strafgesetzes; Anm. d. Übers.)
Diese bitteren Zeilen des bekannten Poeten Robert Roschdestwenskij entstanden Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, einem Jahrhundert der Erschütterungen, Kriege und politischen Repressionen. Lange wurden die Ereignisse, die im Zusammenhang mit der Zeit der Repressionen der 1920er bis 1950er Jahre standen, von der vaterländischen Geschichtswissenschaft totgeschwiegen. Aber es kam die Zeit, als die ersten Archiv-Veröffentlichungen und Erinnerungen unmittelbarer Teilnehmer an der Tragödie vergangener Jahre auftauchten. Die Wahrheit brach mit so einer erbarmungslosen Offenheit über uns herein, dass sie tiefe Schmerzen und Ängste verursachte.
Seinen Beitrag zum Studium dieser Geschichtsperiode leistete auch unser regionales Tajmyrer Heimatkunde-Museum. Wir trafen mit ehemaligen politischen Gefangenen und Sondersiedlern zusammen, fuhren in die einzelnen Siedlungen der Region, zeichneten die Erinnerungen von Menschen auf, die diese schwere Zeit überlebten, arbeiteten in Archiven, standen im Briefwechsel mit den Angehörigen derer, die in den Jahren der Repressionen zu leiden hatten, sammelten Fotomaterial und Dokumente. Das Buch „Kerze der Erinnerung“ ist das Resultat einer langjährigen Forschung und Materialiensammlung von Mitarbeitern des ältesten staatlichen Heimatkunde-Museums auf der Halbinsel Tajmyr.
Im Verlaufe mehrerer hundert Jahre war die Region Turuchansk mit ihren nördlichen Randgebieten – der Halbinsel Tajmyr, eine Verbannungsort für Andersdenkende. Bis in unsere Zeit hinein gingen Legenden darüber, dass noch „vor Menschengedenken“ der Geistliche Pimen in die Niederungen des Jenisej verbannt wurde. Seine Grab und die Grabplatte sind bis zum heutigen Tage erhalten geblieben und befinden sich auf dem Friedhof der Siedlung Tolstyj Nos. Verbannt wurden an diese Orte auch Raskolniks (Schismatiker; ein von der orthod. Kirche Abtrünniger, Ketzter, Sektierer, Häretiker; Anm. d. Übers.) und Dekabristen (Teilnehmer an dem Offiziersaufstand für eine konstitutionelle Verfassung in Russland im Jahre 1925; Anm. d. Übers.). In der Siedlung Tolstyj Nos, am Unterlauf des Jenisej, verstarb 1844 der Dekabrist Nikolaj Lisowskij, der seine Verbannung in Turuchansk verbracht hatte.
Unweit von Dudinka, an der Anlegestelle Plachino, befand sich 1924-1925 „Erzbischof Luka“ – Valentin Feliksowitsch Wojno-Jasenezkij (1877-1961) in der Verbannung, Abkömmling einer polnischen Adelsfamilie, Chirurg, Doktor der Medizin, Erzbischof von Krasnojarsk und Jenisejsk (1942-1943).
Zu Sowjetzeiten wurde das Tajmyrgebiet zum Ort der politischen Verbannung und des Todes tausender Menschen unterschiedlicher Nationalitäten. Es wurden nicht nur einzelner Bürger unseres Vielvölkerstaates, sogenannte „Volksfeinde“, verbannt, sondern auch ganze Völker.
Im Tajmyrgebiet, dem größten Land des „Archipel Gulag“, trafen die ersten politischen Häftlinge mit Beginn des Baus des Norilsker Kombinats ein. Völlig überfüllte Lastkähne und Dampfer transportierten die billigen Arbeitskräfte über den großen sibirischen Fluß gen Norden – zur Errichtung der Norilsker Fabriken, des Hafens von Dudinka und der nördlichsten Eisenbahnlinie, welche Norilsk und Dudinka miteinander verbinden sollte. Mehr als 20 Jahre – von 1935 bis 1956 – existierte auf dem Territorium des Tajmyr eines der größten Lager Sibiriens – das NorilLag – mit dutzenden Lageraußenstellen und Lagerpunkten in Norilsk, Dudinka sowie den arktischen und südlichen Bezirken der Region Krasnojarsk.
Am 23. Juni 1953 wurde in Moskau vom Rat der Volkskommisare der UdSSR die Anordnung „Über den Bau des Norilsker Nickel-Kombinats“ verabschiedet. Der Bau des Kombinats oblag der Hauptverwaltung der NKWD-Lager, und es wurde extra zu diesem Zweck ein Sonderlager eingerichtet. Bereits am 1. Juli 1935 treffen die ersten 1200 Häftlinge in Dudinka ein. 1939 befanden sich dort bereits 11560 Menschen.
1939 kam der 20-jährige georgische Bursche Simon Tschachwadse in die Dudinker Lagerabteilung, Student der Arbeiterfakultät aus der Stadt Chaschuri in der georgischen ASSR. Aus seinen Erzählungen erfuhren wir, dass er 1937 zusammen mit seinem älteren Bruder und weiteren neun Studenten verhaftet wurde. Die Anklage hatte einen ernstzunehmenden Wortlaut: Mitwirkung an der Ermordung Kirows und dem Attentat auf L. Berija. Nach einer kurzen Gerichtsverhandlung in Moskau wurde das Urteil verkündet: „§ 58, Abs. 8 – konterrevolutionäre Tätigkeit und Terror. 10 Jahre strengste Isolationshaft und 5 Jahre Entzug aller Rechte“. Simon Erastowitsch erinnerte sich daran, dass der Wachmann ihm nach der Urteilsverkündung auf die Schulter klopfte und meinte: „Freu’ dich: du wirst am Leben bleiben“. Zwei Jahre verbrachte er im Solowezker Lager mit besonderer Bestimmung. „Der Zeitplan für die Hofgänge war im Solowezker Gefängnis genau festgelegt, so dass es unmöglich war, denen zu begegnen, die in den Nachbarzellen einsaßen. Deswegen wußte ich nicht, dass sich nebenan (ich saß in Zelle 88) Bruder Georgij befand. Er hielt die ganze Situation nicht aus und starb in Solowki. Vom Los des Bruders berichteten ihm Gefangene, die mit der gleichen Etappe über den Nordmeer-Seeweg nach Dudinka gekommen waren. Im Hafen von Dudinka mußten sie in verschiedenen Bereichen arbeiten: Lastkähne entladen, Kohle verladen. Die schwerste Arbeit war im Kohlerevier und an der Holzbörse zu verrichten. Nach einem Unfall, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte, mußte er für eine gewisse Zeit als Koch arbeiten. Gerettet wurde er damals durch den ehemaligen Chirurgen des Kreml-Krankenhauses – Wasilij Ionowitsch Petuchow, der in der Kirow-Sache angeklagt worden war. Er war in Dudinka zwangsangesiedelt worden und leitete ab 1944 des dortige Krankenhaus.
Simon Tschachwadse wurde 1947 freigelassen, zählte anschließend jedoch noch 5 Jahre zu den Verbanntensiedlern und besaß nicht das Recht, die Stadtgrenzen von Dudinka zu verlassen. Hier lernte er seine spätere Ehefrau Taisija Mitrofanowna Dugowaja kennen, eine ehemalige Gefangene, die nach §58 verurteilt worden war. 1958 wurde S.E. Tschachwadse vollständig rehabilitiert – einundzwanzig Jahre nach seiner Verhaftung. Er verstarb 1993 in Dudinka.
Wegen seiner Entlarvung des stalinistischen Regimes, wegen sog. „antisowjetischer Agitation“ hatte der Schüler der 10. Klasse, der 17-jährige Nikolaj Odinzow, zu leiden. Heute ist er Ehrenbürger von Dudinka und verdienter Arbeiter des Norilsker Kombinats.
Es gelang mir, 1985 die Bekanntschaft von Nikolaj Aleksejewitsch Odinzow zumachen. Für eine neue Exposition waren zusätzliche Materialien über die Arbeiter im Hafen von Dudinka notwendig. Im Parteikomitee des Unternehmens wurden mehrere würdige Veteranen empfohlen, unter denen sich auch N.A. Odinzow befand. Ich rief ihn also an und nannte ihm den Grund für diesen Anruf. Und plötzlich kam der gänzlich ungewöhnliche Vorschlag: „Machen Sie sich doch in der Personalabteilung mit meiner Personalakte vertraut. Wenn Sie anschließend nochmal mit mir darüber sprechen wollen, rufen Sie mich einfach wieder an!“ Ich begab mich also zur Personalabteilung und studierte die „Akte“, die damals sehr umfassend war, denn die im Hafen geleistete Arbeitszeit umfaßten bereits 40 Jahre. Hinter einerVielzahl von allen möglichen Dokumenten – Bescheinigungen, Anträgen, Ermunterungsschreiben, hinter den spärlichen Angaben zu seiner Biographie eröffnete sich die Tragödie eines Mannes, der sein Los mit tausenden anderen ehrbaren und klugen Menschen seiner Generation teilte. Ich begriff, weshalb Nikolaj Aleksejewitsch mich in die Personalabteilung geschickt hatte, verstand, was ihn besorgt und unruhig machte. Und gerade das war es, was in mir ein noch größeres Interesse und noch mehr Achtung gegenüber diesem bescheidenen, heiteren und aufrichtigen Mann auslöste. N.A. Odinzow ist ein großer Freund des Museums, hier werden die Manuskripte seiner Werke aufbewahrt, welche die Seele durch ihre Menschlichkeit zutiefst bewegen.
Es ist wohl schwierig, in unserem Lande eine Familie zu finden, die von den Auswirkungen des Großen Vaterländischen Krieges und der Repressionen verschont geblieben ist, welche den Menschen unzählige Verluste, Kummer und Leid brachten. Auch unsere Familie war davon betroffen. Einer meiner Großväter, Nikolaj Michailowitsch Solowjew, fiel 1942 in der Schlacht bei Smolensk, der zweite kam in der Verbannung ums Leben. Meine Mama, Irina Leonidowna Predtetschenskaja, war erst 14 Jahre alt, als man 1938 ihren Vater von Zuhause fortholte – Leonid Nikolajewitsch Predtetschenskij, der aus einer Soldatenfamilie stammte und an einer der leningrader Militärfachschulen als Lehrer tätig war. Der Großvater starb in der Verbannung in Solikamsk im Jahre 1943. Er wurde 1956 posthum rehabilitiert.
Das Thema der Repressionen ist ein sehr persönliches, und es ist mit tiefstem Leid verbunden. Am Tag der Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen, der in Rußland am 30. Oktober begangen wird, gibt es auch in unserer Familie Menschen, für die wir beten und eine Kerze des Gedenkens anzünden.
Die Epoche des stalinistischen Terrors war gekennzeichnet durch die Einführung einer besonderen Strafmethode – der Deportation einzelner Völker, die sich innerhalb des aus zahlreichen Nationalitäten bestehenden Sowjetstaates befanden. Von 1989-1992, während ich am Thema „Sondersiedler im Tajmyrgebiet“ arbeitete, mußte ich mich eine Zeit lang in vielen der kleinen Siedlungen in den Bezirken Ust-Jenisej und Dudinka aufhalten, um mich dort mit ehemaligen Sondersiedlern zu treffen, dutzende Erinnerungen von Augenzeugen der Ereignisse aufzuzeichnen und Fotomaterial sowie Dokumente zu sammeln, die zu wertvollen Informationsquellen über jene Epoche wurden. Ich erinnere mich daran, wie einmal ganz plötzlich der Gedanke aufkeimte, dass sich in dieser ganzen Armee von Sondersiedlern vielleicht auch meine Urgroßmutter, die Estin Anna Antonowna Awik, befinden könnte, die in Leningrad wohnte. Dieses Los blieb ihr nur deswegen erspart, weil sie einen Monat vor Kriegsbeginn verstarb und zum Glück die ganzen Schrecken der leningrader Blockade und alles, was mit ihren Landsleuten geschah, nicht mehr erleben mußte. Was aus meinen anderen estischen Verwandten geworden ist, weiß ich nicht. Ob sie die unheilvollen Kriegsjahre wohl überlebt haben?
Die Völker des Baltikums wurden aus ihren Heimatorten verschleppt und am 14. Juni 1941 zur Sonderansiedlung verschickt. Einige kamen in die Verbannung, andere ins Lager. 1949 befanden sich beispielsweise im Bestand der NorilLag-Häftlinge 380 Esten, 580 Letten und 507 Litauer (Norilsker „Memorial“, Ausg. 3, 1996).
Laut Angaben der 9. Behörde des Ministeriums für Staatssicherheit der UdSSR, in deren Einzugsbereich sich Sondersiedler, Verbanntensiedler und Gefangene befanden, gab es am 1. Januar 1953 in den unterschiedlichen Regionen der UdSSR 2 753 356 Sondersiedler – Vertreter unterschiedlicher Völker, die gewaltsam aus ihren Heimatorten in die östlichen Landesbezirke verschleppt worden waren: nach Kasachstan, Mittel-Asien, Sibirien und den Hohen Norden.
In der Region Krasnojarsk bedanden sich zur der Zeit 62 443 Deutsche und 35 584 Menschen aus dem Baltikum.
Die Familie von Andrej Kapitanowitsch Chan. Dudinka. 1950er Jahre.
Zweite Reihe, dritter von links: Longin Chan, heute Ehrenbürger
des Tajmyr, Veteran des Norilsker Kombinats, der sein
Leben lang mit der Geschichte des Seehafens von Dudinka verbunden war.
Die Zwangsumsiedlung von Völkern begann bereits lange vor dem Krieg. So tauchten in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts auf der Halbinsel Tajmyr verschleppte Koreaner und Chinesen aus dem Fernen Osten auf. In Dudinka leben heute noch die Familien Chan, Tsche, Wan Tschin Lin. Eine besondere Gruppe der Umsiedler bildeten ohne ersichtlichen Grund „entkulakisierte“ Bauern, die in den 1930er Jahren im Tajmyrgebiet den Ust-Jenisejsker Hafen und die Fischkonservenfabrik in Ust-Port erbauten. 1938 begannen die Repressionsmaßnahmen unter den wohlhabenderen Tundrabewohnern. Die Völker des Tajmyr ergänzten die endlose Liste der Verschollenen, Verschleppten und Erschossenen. Über das Schicksal vieler von ihnen weiß bis heute niemand etwas. Das Thema war auch den Bewohnern des Nordens verboten. Nach Berichten der Enzin Nina Nikolajewna Bolinaja, fürchteten sich die Eltern laut darüber zu reden; daher ist ihr nichts über ihren seinerzeit spurlos „verschwundenen“ Großvater bekannt. Auf unsere Anfragen an die FSB-Behörde der Region Krasnojarsk gelang es. sogenannte „Arrestanten-Fragebogen“ über Tundrabewohner zu erhalten, die in der Angelegenheit „antisowjetisches Benehmen im Bereich der Awamsko-Chatangaer Tundra“ verurteilt, 1938 in Dudinka erschossen und in unserer Zeit rehabilitiert wurden. Bislang ist es nicht gelungen, in den Archiven Angaben über die Anzahl der alteingesessenen Völker zu erhalten, die in den Jahren der Repressionen großem Leid ausgesetzt waren.
Nach Informationen des Tajmyrer Staatsarchivs konnte festgestellt werden, dass in den Jahren 1942-1943 mehr als 8000 Sondersiedler in unser Gebiet gebracht wurden: Wolgadeutsche, Letten, Litauer, Esten, Rumänen, Finnen. 1944 gesellten sich auch noch Kalmücken zu ihnen – insgesamt 900 Familien. Ganze Partien von Sondersiedlern und Gefangenen trafen noch bis Mitte der 1950er Jahre im Tajmyrgebiet ein.
Nach der Freilassung aus dem Lager im Juni 1950 wurde Willi Pirz zur Sonderansiedlung ins Nationalgebiet Tajmyr geschickt, für den sich die Sonderansiedlung als viel schwerwiegendere Strafe erwies, als die Inhaftierung im Lager. Auf der Halbinsel Tajmyr mußte er unter der Aufsicht einer Sonderkommandantur arbeiten und jegliche Entbehrungen erfahren, die auf das Schicksal eines Sondersiedlers entfielen, der in den Äußersten Norden geraten war.
Das Schicksal dieses Mannes ähnelt dem vieler junger Menschen dieser Generation,die Mitte der dreißiger Jahre das Licht der Welt erblickten. Aber es gibt einen Umstand, der allem, was ihm und seiner Familie 1937 widerfuhr, noch eine ganz besondere Tragik verleiht. Willi Pirz – Österreicher, wurde in Amerika geboren. 1936 nahm seine Familie die sowjetische Staatsbürgerschaft an, und ein Jahr später wurden alle Familienmitglieder veerhaftet und als „Vaterlandsverräter“ angeklagt.
„Es ist so schwer, Worte zu finden, um jene seelischen und körperlichen Leiden, all die Erniedrigungen und Demütigungen zu beschreiben, die wir im Hohen Norden unter der ständigen Aufsicht der Sonderkommandantur durchmachen mußten“, - sagte Lewin Loch mit viel Bitterkeit und Schmerz in seiner Stimme, im Namen aller Wolgadeutschen, die während des Krieges ins Tajmyrgebiet verschleppt wurden, in seiner Rede zum 1. Treffen der Deutschen in Moskau im Oktober 1991.
„Im Grunde genommen hatte man uns aus dem Leben gestrichen. Denn für diejenigen, die in der Heimat blieben, galten die Sondersiedler als verschollen“, schreibt der tajmyrer Journalist Gunar Kroders in seinem Buch „Lebe und erinnere dich“. Über die Sondersiedler wurde weder in den Zeitungen etwas geschrieben, noch bekamen sie damals Orden, Medaillen oder Ehrenurkunden verlieren. Von Schulbildungs oder an die Schule anschließender Fortsetzung der Ausbildung konnte schon gar keine Rede sein, und wenn sie überhaupt in die Schule gingen, dann höchstens am Ort der Sonderansiedlung. Nur wenigen Sondersiedlern gelang es, in der regionalen Schule für Kolchoskader in Dudinka am Unterricht teilzunehmen (Schule für Rentierzüchter), der einzigen Ausbildungseinrichtungin der Region. Maria Franz (Reisich) beendete dort 1948 ihre Ausbildung zur Rechnungsführerin.
Schüler der regionalen Schule für Kolchoskader. 1947
1. Reihe, dritte von links – Maria Franz,
3. Reihe, zweite von links – Brigitta Hinz
Maria Franz wurde 1941 in die Region Krasnojarsk verschleppt. Im Sommer 1942 gelangten ihre Mutter samt Bruder und den bieden jüngeren Schwestern auf die Halbinsel Tajmyr, in die Siedlung Ananewsk, während Maria, zusammen mit anderen Mädchen ihres Alters, in die Holzfabrik nach Igarka geschickt wurde. Erst 1946 kam sie mit Erlaubnis der Sonderkommandantur der Region Krasnojarsk wieder zu ihrer Mutter zurück. Sie wurde, gemeinsam mit den Erwachsenen, beim Fischfang eingesetzt. Nach Abschluß der Rentierzüchter-Schule arbeitete Maria Franz als Rechnungsführerin in einer Kolchose namens „Kujbyschew“ im Bezirk Dudinka, ab 1960 als Wirtschafterin in der Sowchose „Polar“.
Ihre Qualifikation zur Arzthelferin erhielt 1948 Brigitta Hinz (Wakker) an derselben Schule für Rentierzüchter, obwohl sie sehr gern Rechnungsführerin geworden wäre. Aber in der Kolchose „Nordweg“, in der sie als Fischerin tätig war, wurde dringend eine tierärztliche Helferin benötigt.
1950 wurde B. Wakker zur Ausbildung in die krasnojarsker Pelztier-Sowchose geschickt. In der Sonderkommandantur von Dudinka, wo alle Sondersiedler registriert waren, beschlagnahmte manihre Geburtsurkunde und gab ihr ein Dokument, das den Ausweis ersetzt. Es war streng verboten, das Territorium der Pelztier-Sowchose, auf dem sie ihre Ausbildung machte, zu verlassen. Und dabei wäre sie, nach ihren eigenen Worten, so gern nach Krasnojarsk gefahren, um die berühmten Felsen von Stolby zu sehen. Bei Abschluß ihrer Ausbildung im Jahre 1951 brachte B. Wakker 25 silberweiße Füchse mit in die kleine Pelztier-Kolchose „Nordweg“. So begann in der Region die Entwicklung eines untraditionellen Brauchs – der Tierzucht in Käfigen, und B. Wakker selbst wurde die erste tajmyrer Pelztierzüchterin. Von 1960 bis 1976 stand sie an der Spitze der besten Zuchtfarm in der Region, deren Schwerpunkt die Erforschung blaue Polarfüchse in Potapowo. 1965 erhielt B. Wakker den Orden des Roten Arbeiterbanners.
Im Unterschied zu Brigitta Wakker bekam Therese Pabst keine Ausbildung, als sie 1942 in die Verbannung geriet, was diese gebrechliche Frau mit der starken Seele heute noch zutiefst bedauert. Sechzig Jahre zuvor traf das zehnjährige Mädchen, zusammen mit seiner Schwester und zwei Brüdern, am Verbannungsort in der tajmyrer Siedlung Potapowo ein. Die Mutter hatte es schwer, ihre vier Kinder zu erziehen, deswegen mußte sie selber auch schon früh mitarbeiten, um der Familie zu helfen. Im Sommer sammelte sie mit ihren Altersgenossinnen Pilze und Beeren, die sie dann an der Sammelstelle ablieferten; außerdem ging sie mit den Erwachsenen zum Fischfang. 1950 begann sie in der Kolchose zu arbeiten, und nachdem sie Anfang der 1960er Jahre mit Brigitte Wakker zusammengekommen war, wurde Therese Pabst schon bald eine der besten Pelztierzüchterinnen der Potapowsker Zuchtfarm.
Interessant ist das Schicksal von Roman Albrecht, einem Arzt und Chirurgen, dem ersten Doktor der medizinischen Wissenschaften im Tajmyrgebiet, der von 1955 bis 1967 in Dudinka arbeitete.
Bei den Ortsbewohnern, seinen ehemaligen Patienten, hinterließ er die besten und wohlwollendsten Erinnerungen an sich. Ganz anders liest sich heute seine Kurzbiographie. R. Albrecht wurde 1818 in der Ortschaft Trechgrady, im Gebiet Odessa, als Bauernsohn geboren. 1939 begann er am Medizinischen Institut in Saratow zu studieren, 1941 wurde er nach Sibirien verschleppt. Bereits in Sondersiedlung gelang es ihm, seine Ausbildung am Medizinischen Institut Krasnojarsk zu beenden und die Qualifikation eines Arztes auf dem Fachgebiet der Chirurgie zu erwerben. Albrechts gesammelte Materialien tauchten in den 1960er Jahren im Museum auf, als er die chirurgische Abteilung des Gebietskrankenhauses leitete uind an Problemen der Heilung geschlossener Frakturen unter den Bedingungen des Polargebiets arbeitete.
Die ständige ergänzte Museumskollektion über Sondersiedler ist im wesentlichen dem Schicksal der Rußland-Deutschen gewidmet, die aufgrund des Ukas vom 28. August 1941 aus dem Wolgagebiet verschleppt wurden.
Nach Angaben der regionalen Behörde für Statistik lebten zu Beginn des Jahres 1991 auf der Halbinsel Tajymr etwa zweitausend Deutsche. Im Februar 1991 fand in Dudinka eine regionale Konferenz der Deutschen statt, bei der Delegationen aus Norilsk, Turuchansk und Igarka anwesend waren. Lewin Loch, Arbeitsveteran, verdienter Arbeiter in der Fischwirtschaft Rußlands, wandte sich in seiner Muttersprache an seine Landsleute – er war einer von denen, die ganz offen über das Problem der nationalen Wiedergeburt der Deutschen im Polargebiet sprachen, der nicht nur einer der Initiatoren bei der Gründung der regionalen Organisation der Deutschen „Wiedergeburt“, sondern auch des Laien-Ensembles deutscher Lieder war. L.L. Loch war Delegierter des ersten Kongresses der Deutschen in der UdSSR, der am 18. Oktober 1991 in Moskau stattfand.
L.Loch auf dem I. Kongreß der Rußland-Deutschen 1991in Moskau
Am 28. August 1991, am 50. Jahrestag der Verabschiedung des Ukas über die Aussiedlung der Deutschen aus den Wolgagebieten, fand in Dudinka zum allerersten Male der Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen statt. Auf dem alten Friedhof von Dudinka wurden Kreuze zum Gedenken an die umgekommenen Landsleute aufgestellt. Wieviele von ihnen, den Opfern, hatte der eisige tajmyrer Boden in sich aufgenommen? Hunderte, tausende anonymer Gräber sind auf dem riesigen Territorium verstreut.
Die schlimmsten Schicksalsschläge entfielen auf das Los der Sondersiedler in den ersten Jahren ihres Aufenthalts im Polargebiet. Aus Archivdokumenten und Erinnerungen von Augenzeugen jener Jahre läßt sich ein grauenhaftes Bild menschlichen Unglücks nachzeichnen. Im tajmyrer Staatsarchiv liegen Aufzeichnungen der Ärztin Owtschinnikowa, die sie nach einer medizinischen Untersuchung des Sonderkontingents im August 1943 vornahm.
Ihrer Meinung nach lagen die Gründe für die hohe Sterblichkeit am Mangel an Wohnraum und warmer Kleidung, Hunger, den ungewohnten klimatischen Verhältnissen und epidemischen Erkrankungen. Viele der Sondersiedler waren bereits unterwegs an Bauchtyphus oder Ruhr erkrankt. Die Quarantäne wurde während der Fahrt nicht immer eingehalten. Aber das Schlimmste waren Skorbut und Hunger. Anhand der Untersuchungsergebnisse in vielen Ortschaften (Chantajka, Potapowo, Dudinka, Ust-Port, Karaul, Dorofejewsk, Innokentjewsk, Sopkarga, Lajda und anderen) wurde klar, dass fast die gesamte Bevölkerung an Skorbut litt. Sogar in der nahe der Stadt Dudinka liegenden Ortschaft Ust-Chantajka, wo es einen medizinischen Mitarbeiter gab, waren beinahe alle Bewohner an Skorbut erkrankt und es gab eine hohe Todesrate.
Der im Dezemver 1942 ausgebrochene Skorbut raffte nicht wenige Menschenleben dahin. Medizinischen Berichten zufolge starben ind der zweiten Hälfte des Jahres 1942 sowie im ersten Halbjahr 1943 insgesamt 915 Menschen, 116 von ihnen waren Kinder. Die Sterblichkeitsrate gegenüber der Gesamtbevölkerung der Region betrug 4%, aber der größte Anteil davon fiel auf das Sonderkontingent. In Chantajka betrug die Todesrate 20%, in Ust-Port 10, in Potapowo 8. Unter den Hauptursachen, die zu dieser hohen Sterblichkeitsrate der Menschen führte, zählt die Tatsache, dass man auf die Aufnahme des eingetroffenen Kontingents überhaupt nicht vorbereitet war. Die Menschen wurden einfach am Ufer des Jenisej untergebracht – in Zelten, unter umgedrehten Booten, in Verschägen oder Ställen.
Interessant sind in diesem Zusammenhang die Erinnerungen und Gedanken von Leo Petri, der heute in Deutschland, in der Stadt Hamburg, lebt. 1942 wurde er zusammen mit seiner Mutter in die Siedlung Ust-Chantajka verschleppt. Fünfzig Jahre später, im Jahre 2002, kam er mit seiner Ehefrau Viktoria ins Tajmyrgebiet gereist, besuchte das Museum und machte sich mit unseren Materialien über die Sondersiedler vertraut. In seinem Buch „Die Deutschen vom Tajmyr“ (2006, in das die Erinnerungen ehemaliger Sondersiedler einfließen, die heute in Deutschland und Lettland leben, bestätigt Leo Petri, „dass in den Jahren 1942-1944 im Tajmyrgebiet in Bezug auf die Sondersiedler unterschiedlicher Nationalitäten seitens der Kremlführer ein Genozid begangen wurde, mit dem Ergebnis, dass 70% aller in den Hohen Norden verschleppten Menschen, die dort aufgrund nicht vorhandener Arbeitsplätze vollkommen überflüssig waren vernichtet wurden“, denn die Kriegskommissariate hatten 3- bis 3,5mal mehr Arbeitskräfte in die staatliche Fischerei mobilisiert, als nötig gewesen wäre. Als Grundlage für seine Berechnungen führt Leo Petri die statistischen Angaben zweier Siedlungen an – Potapowo und Ust-Chantajka: „Von den 1950 Sondersiedlern, die in diese beiden Siedlungen verbracht worden waren, lag die Sterblichkeit innerhalb von drei Jahren bei 1370 Personen, also 70%....“. Davon ausgehend, so meint er, sind wir bedingt berechtigt, diese Angaben über die beiden Siedlungen auch auf das gesamte übrige Sonderkontingent auszuweiten, das sich unter noch viel schlimmeren Bedingungen befnad, als diejenigen, welche nach Potapowo und Ust-Chantajka gelangt waren. Die Berechnungsziffern für die ins Tajmyrgebiet gekommenen Sondersiedler (Deutsche und Kalmücken) belaufen sich nach Meinung von Leo Petri auf etwa 10900 Personen minus 2000, die nach Sachalin abfuhren. Wenn wir also eine Todesrate von 70% in den Siedlungen der Region Dudinka vorliegen haben, erhalten wir eine errechnete Gesamttodeszahl im Tajymrgebiet von 6200 Menschen.
Unserer Ansicht nach ist dies eine angenommene Zahl, denn sie gründet sich auf die Analyse von lediglich zwei Siedlungen, in denen die Sterblichkeitsrate tatsächlich sehr hoch war. Die hohe Todeszahl in Ust-Chantajka wird auch von den Rechenschaftsberichten der Mediziner sowie den Erinnerungen von Augenzeugen bestätigt.
Den erste Polarwinter 1942-1943, der für alle zum schrecklichsten Winter überhaupt wurde, erinnern die Sondersiedler als einen schlimmen Alptraum. Ein halbes Jahrhundert war der tajmyrer Journalist Gunar Kroders bemüht, nicht mehr an diesen Winter zurückzudenken. Zusammen mit anderen Letten aus seiner Familie – darunter seine Mutter, er selbst - Gymnasiast der höheren Klassenstufe und sein älterer Bruder Olgert – Student der Geschichte, wurde er am 14. Juni 1941 aus Lettland nach Sibirien abtransportiert. Im Sommer 1942 gerieten sie in die entlegene Faktorei Dorofejewsk, die am linken Ufer des Jenisej, an seinem Unterlauf, gelegen war. Dort starb im Winter 1942 seine Mutter, die bekannte lettische Schauspielerin Gerda Wulf. Nach Gunar Kroders Erinnerungen war die „Anzahl der Verstorbenen gegen Ende November 1942 noch nicht so hoch, aber die Toten wurden auch nicht sofort begraben – es gab keine Bretter für Särge, die Menschen waren kraft- und willenlos ..... die Leichen wurden zu Stapeln aufgeschichtet. Schulter an Schuler lagen dort die vereisten Letten, Deutschen, Finnen, Litauer, Ukrainer – Kinder, Frauen und alte Leute“.
In der Siedlung Ust-Chantajka, so er innerte sich Jakob Schmal, dem wir in der Siedlung Potapowo begeneten, waren nach dem ersten Winter von 450 Menschen nur noch 180 am Leben.
Nach den Worten von Frieda Muss waren von den 1500 in die Siedlung Potapowo abtransportierten Menschen zum Jahr 1945 nur noch vierhundert am Leben. Die übrigen waren an Hunger und Skorbut zugrunde gegangen. Für Frieda Muss hängen die schlimmsten erinnerungen mit dem April 1943 zusammen, als in ihrer Familie innerhalb eines Monats die Mutter, zwei Bruder und die Schwägerin mit ihrem Kind starben.
In der Siedlung Nikandrowsk im Ust-Jenisejsker Bezirk gingen im ersten Winter 11 von 56 Menschen aus dem Leben, berichtet Maria Zwetzich.
Am schwersten hatten es alleinstehende Menschen und verwaiste Kinder, die in verschiedenen Kinderheimen untergebracht wurden. Nach Angaben der Ärzte, die sich um das Sonderkontingent kümmerten, waren von den 1942 in die Region verschleppten 7626 Personen 1589 Kinder unter 14 Jahren.
Es kam vor, dass Ortsansässige den Sondersiedlern zu Hilfe kamen und verwaiste Kinder in ihre Familien aufnahmen. Von einem solchen Fall errzählte man mir in der Siedlung Potapowo. Wie Frieda Genrichowna Muss sich erinnert, geschah das im schrecklichen Winter 1942-1943. Der Ewenke und Rentierzüchter Nikolaj Nikolajewitsch Kuropatow war in die Erdhütte einer an Hunger sterbenden Frau gekommen. Als er den erbärmlichen Zustand der Frau sah, sagte er, dass er ihre Tochter mit zu sich nehmen würde. Die Mutter des Kindes konnte zum Zeichen ihres Einverständnisses nur noch schwach mit dem Kopf nicken. Die kleine Maria hatte Glück. Sie überlebte und gewöhnte sich an die ungewöhlichen Bedingungen des Nomadendaseins. Ihr neuer Vater verhielt sich ihr gegenüber zärtlich und liebevoll und sorgte sich sehr um sie. Der berühmte Rentierzüchter ist schon lange nicht mehr am Leben, aber die Erinnerung an diesen gutherzigen Mann lebt noch heute in den Herzen der Menschen, die in jener unheilvollen Zeit ins Tajmyrgebiet verschleppt wurden.
Mit guten Worten erinnern sich an den Enzen Petr Cpiridonowitsch Bolin diejenigen, die nach Potapowo gerieten. Er lehrte die Sondersiedler, wie man Schleppnetze festmacht und aus dem Wasser zeiht, wie man Fischernetze knüpft und flickt. Die Ortsbewohner bewahrten das Sonderkontingent vor dem Hungertod. Das ganze Leben hindurch hat Irma Kondratjewna Scherer in sich ein Gefühl der Dankbarkeit gegenüber den Ureinwohnern des Tajmyr bewahrt. Sie glaubt, dass im ersten Winter noch viel mehr Menschen gestorben wären, wenn die Ortsansässigen ihnen nicht geholfen hätten.
„Nahrung sollten wir aus dem Wasser, aus der Luft und aus der Tundra beschaffen. Danach mußten wir alles zur Abgabestelle bringen und bekamen dafür Lebensmittelkarten. Sie erlaubten uns nicht Fisch zu essen; alles mußten wir abgeben .... bis auf das kleinste Fischchen. Diejenigen, die keine Verwandten mit Lebensmittelkarten hatten, waren ständig kurz vorm Verhungern“. Die eingeborenen Bewohner tauschten Lebensmittel gegen Tabak.
Nachdem die Sondersiedler nun in diese rauhen klimatischen Verhältnisse, in diese Extremsituation und unter die Aufsicht der Sonderkommandantur geraten waren, nachdem man sie aus ihrer gewohnten Lebensweise herausgerissenen hatte, sie, die von gewerblichem Fischfang nicht die geringste Ahnung hatten, konnten sie nun nur noch auf eine einzige Möglichkeit zum Überleben zählen – dass sie nämlich eine Arbeit bekommen und dort fleißig schaffen würden; aber die Arbeit reichte nicht für alle – und das stellte sich als eine große Tragödie heraus. „Euer Essen findet ihr im Jenisej,“ – hatte man ihnen gesagt, aber weil sie nicht wußten, wie man es richtig anstellt, gingen ihnen die Fische nicht ins Netz. Und das Netz selber war auch viele, viele Pud schwer. Schwache und Kranke befanden sich in einer völlig hilflosen Lage. Und es gab auch keinen Ausweg, von dieser Netzfischerei loszukommen. Das war erst 1956 der Fall, als die Sonderkommandantur abgeschafft wurde.
1942 werden in der Region eine ganze Reihe kleinerer Fischfabriken geschaffen – die leskinsker, oschmarinsker, tolstonowsker und dudinsker. Die Fischkonservenfabrik in Ust-Port wurde erweitert und nahm ihren Betrieb nach einem Brand im Jahre 1943 wieder auf. Die meisten Arbeitskräfte in diesen Unternehmen waren Sondersiedler.
Das Land, die Front benötigten Fisch. Am 6. Januar 1942 verabschiedeten der Rat der Volkskommissare der UdSSR und das Zentralkomitee der Allrussischen Kommunistischen Partei die Verordnung „Über die Entwicklung des Fischgewerbes in den Flußbecken Sibiriens und des Fernen Ostens“, die zum Programm für die beschleunigte Entwicklung der Fischindustrie in diesen Bezirken während des Krieges wurde. Der Tajmyrer Trust der Region Krasnojarsk wurde von Igarka nach Dudinka verlegt.
Ab Ende Mai 1942begannen die Kriegskommissariate Sibiriens Sondersiedler aus den Reihen der 1941-1942 verschleppten Wolgadeutschen, Balten und Finnen zur Fischfandindustrie zu mobilisieren. 8417 Personen wurden ins Tajmyrgebiet geschickt: 1942 waren es 7626 Menschen, 1943 – 791. Diese Angaben konnten in den Aufzeichnungen der Ärzte gefunden werden; sie befinden sich im Staatsarchiv der Region Tajmyr. Die Archivdokumente werden zum ersten Mal veröffentlicht.
Im Sommer 1944 wurden Kalmücken in unser Gebiet gebracht. Laut Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 27. Dezember 1943 wurden 25000 Kalmücken in die Region Krasnojarsk transportiert, das entspricht 7525 Familien. Im Tajmyrer Fischtrust befanden sich 900 Kalmückenfamilien (N. Bugaj, „Teegin-gerl“ („Licht in der Steppe; Anm. d. Übers.), N° 3, 1990, S. 21-22).
Auf der Halbinsel Tajmyr wurden die Sondersiedler in drei Bezirken angesiedelt: Dudinka, Ust-Jenisejsk und Chantajka. Mehr als 3000 Familien wurden in den Bezirk Dudinka gebracht – ind die Ortschaften Ust-Chantajka, Potapowo, Lusino, Ananewsk, Malyschewka, Tschasownja, Lipatewsk, Lewinskije Peski, Sitkowo u.a.
4100 Sondersiedler wurden im Ust-Jenisejsker Bezirk angesiedelt, der während des Krieges in der Region zum Haupt-Fischlieferanten wurde. Die Fischausbeute im Tajmyrgebiet stieg um das Dreifache; wenn vor dem Kriege durchschnittlich 10000-13000 Zentner Fisch gefangen worden waren, so waren es 1942 – 33000 Zentner.
Fischkonservenfabrik Ust-Port, 1957-1958
Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre wurden die kleinen Fischfabriken in die Ust-Porter Fischkonservenfabrik eingegliedert. Das ganze Rohmaterial wurde in die Siedlung Ust-Port gebracht, was der Fabrik das ganze Jahr hindurch gleichmäßige Arbeit verschaffte.
Wie Lewin Loch, ehemaliger Direktor dieser Fabrik, sich erinnert, betrug der tägliche Produktionsausstoß 20000-25000 Dosen. Die Fabrik verarbeitete mehr als 50 verschiedene Fischsorten zu Konserven: Stör, große Maränen, Sterlets, Alande, Peled-Maränen, Tajmen-Lachse, Omul, Zwergmaränen, Stinte; die Konserven waren naturbelassen, in Gelee, in Öl, in Tomatensauce, es gab Sprotten , Dorschleber, Fischfrikadellen, -koteletts und –Pasteten. Ferner wurde die Produktion von eingewecktem. geschmortem Fleisch sowie Rentier- und Rebhuhnfleisch in Bouillon eingeführt.
Während des Krieges tauchten in der Region neue Fischfang-Kolchosen auf, in denen Sondersiedler arbeiteten, die mit ihrer Hände Arbeit auch gut organisierte Siedlungen errichteten. In der Siedlung Nosonowsk im Ust-Jenisejsker Bezirk entstand die deutsche Kolchose „Fischer des Nordens“, in der Siedlung Innokentjewsk durch lettische Sondersiedler die Kolchose „Polarstern“. In der Siedlung Sidorowsk gab es eine Kalmücken-Kolchose namens „Vierter Fünfjahresplan“. In der Siedlung Kasanzewo organisierte man die deutsche Kolchose „Gardist“, deren Leiter 1947 Lewin Loch war. Gute Erinnerungen an sich hat der Vorsitzende der deutschen Kolchose „Neues Leben“, Iwan Ramburger, in der Siedlung Potapowo im Bezirk Dudinka hinterlassen.
Nach dem tragischen Winter 1942, beagann man sich im Sommer 1943 im Tajmyrgebiet mit Gemüseanbau zu befassen. Dieser neue Zweig prägte sich buchstäblich in die Kolchoswirtschaft ein. In offenem Boden zogen die Sondersiedler Zwiebeln, Runkelrüben, Radieschen, Möhren, Kartoffeln und Kohl. Nicht nur im Bezrik Dudinka, wo sich der Großteil der Anbauflächen befand, beschäftigte man sich mit Gemüsezucht, sondern auch in den Bezirken Jenisejsk und Chatanga, d.h. an den Orten, an denen Sondersiedler lebten. Schöne Gemüsegärten gab es in der Siedlung Potapowo und in der nahe Dudinka gelegenen Sowchose „Norden“, wo als Oberagronom der Lette Pawel Karlowitsch Grimberg tätig war.
In den 1950er Jahren war die Sowchose mehrfach Sieger bei der landwirtschaftlichen Ausstellung in Moskau. 1948 erntete die Kolchose „Roter Dudinkaner“ von seinen 4 Hektar Anbaufläche 564 Zentner Kohl, und in der Kolchose „Roter Tajmyrer“ (300 km nördlich von Dudinka) ergab 1 Hektar Acker mehr als 48 Zentner Kartoffeln.
1948 wurden an der regionalen Schule für Kolchoskader sechsmonatige Lehrgänge für Gemüsezucht eröffnet. Der erste Jahrgang dieser Spezialisten (22 Personen) war im Frühjahr 1949 mit der Ausbildung fertig. Unter den Asbolventen dieser Abteilung befanden sich auch die Sondersiedler: Anna Kraus, Lydia Harras und Gennadij Rudsitis.
Dank der Schaffenskraft der Sondersiedler entwickelte sich in den 1940er und 1950er Jahren auch die Milchviehzucht in der Region erfolgreich. In der Siedlung Ust-Port gab es mehr als 100 Kühe und zahlreiche Pferde. Sogar Schweine wurden gezüchtet. Es herrschte kein Mangel an Grobfutter. Für den gesamten Viehbestand gab es gutes Heu. In der Region sind die Namen der Melkerinnen Paulina Pabst, Ida Kremer, Sofia Diehl, Eugenia Putrina und Christina Held recht bekannt.
Die jahrzehntelange gemeinsame Arbeit der Völker des Tajmyr und der Sondersiedler im Fisch- und Pelztiergewerbe, aber auch beim Gemüseanbau, sowie der Vieh- und Käfigzucht, stellte einen gewichtigen Beitrag für die Entwicklung der Ökonomie des Tajmyr während des Krieges und in der Nachkriegszeit dar. Vielen der Sondersiedler wurden in den 1960er und 1970er Jahren staatliche Auszeichnungen verliehen: Orden und Medaillen. Den Titel eines verdienten Baumeisters der RSFSR erhielten Emmanuel Davidowitsch Bir und Emmanuel Jakowlewitsch Michel.
Das Leben als solches, die gemeinsame Arbeit, brachten die verschiedenen Völker einander näher – Dolganen und Kalmücken, Nenzen und Deutsche, Nganasanen und Letten. Nach den Worten von Gunar Kroders brach das vom „genialen Führer“ erdachte System der künstlichen Einteilung von Menschen in „saubere und unsaubere“ jedesmal zusammen, wenn die Menschen sich nur irgendwann gut kennengelernt und einander nähergekommen waren.
Die Liebesgeschichte zwischen dem russischenMädchen Anna und dem lettischen Burschen Leonid Kinjawskij ist einer gesonderten Erzählung würdig. Bei Anna Nikolajewna findet sie auf einem einzigen Blatt Papier Platz. Keine Verbote konnten ihre Gefühle füreinander verhindern; nach Anna Nikolajewnas Worten lebten sie fast ein halbes Jahrhundert in Liebe und Einvernehmen zusammen. Zusammen mit seiner Mutter Maria war Leonid aus einem lettischen Dorf nahe der weißrussischen Grenze zunächst in die Region Krasnojarsk verschickt worden und kam anschließend zur Sondersiedlung in den Bezirk Chatanga. Im Alter von 13 Jahren arbeitete er bereits in der dortigen Fischfabrik, worüber sich auch eine Notiz in seinem Arbeitsbuch finden läßt, das seine Witwe Anna Nikolajewna Linjawskaja uns aushändigte, eine im Tajmyrgebiet bekannte Pädagogin mit vierzigjähriger Berufsleben an verschiedenen tajmyrer Schulen. Leonid Nikolajewitsch Linjawskij war einer der besten Kinomechaniker des Tajmyr.
Anna und Leonid Linjawskij, Dudinka, 1951
Viele Sondersiedler wurden zu Helden in den Essays der Nenzen-Schriftstellerin Ljubow Nenjang. „Landsleute – die Deutschen sind jetzt auch meine Landsleute, denn ich bin mit ihnen aufgewachsen, habe mit ihnen zusammen gelernt und gelebt, und lebe heute noch auf dem tajmyrer Boden, der für viele von denen, über die ich schreibe, zur kleinen Heimat wurde“ – so geschrieben im Vorwort zu ihrem Essay „Das Leben eines Veterans“, in dem sie über das Schicksal des Lewin Lewinowitsch Loch berichtete.
Man erinnert sich im Bezirk Ust-Jenisejsk auch noch an den ehemaligen Sondersiedler Aleksander Fjodorowitsch Pauli. Die Nenzen nannten ihn liebevoll „Ngarka Jerw“ („großer Chef“). Als 14-jähriger Junge war er zusammen mit seiner Schwester und seiner Mutter in die Siedlung Tolstyj Nos verschleppt worden. Er trug über eine Strecke von 7 km die Post von Karaul nach Tolstyj Nos und zurück. Manchmal mußte er diesen Weg zwei- oder dreimal am Tag zurücklegen. 1944 wurde er als Lehrling für Rechnungsführer bei der motorisierten Fischfangstation aufgenommen; 1948 schickten sie ihn als Buchhalter in die Nezen-Kolchose „Neues Leben“. Ein Jahr später war die Kolchose zum Millionär geworden. Man liebte ihn als Menschen und respekterte ihn als klugen, strengen aber fürsorglichen Mann.
Der Tajmyr ist stolz auf seine verdienten Bürger aus den Reihen der Sondersiedler, die so viel für die Entwicklung von Wirtschaft, Kultur, Gesundheitswesen und Bildung in der Region getan haben. Leider sind viele von ihnen schon nicht mehr am Leben. So sind bereits verstorben die Baumeister E. Bir und E. Michael, der erste Doktor der medizinischen Wissenschaften R. Albrecht, der erste Ehrenbürger des Tajmyr aus den Reihen der Deutschen H.H. Hiss, der verdiente Mitarbeiter der Fischwirtschaft Rußlands L.L. Loch, die erste Pelztierzüchterin des Tajmyr B.G. Wakker und der bekannte Jäger W.A. Sabelfeld.
In unserer Stadt leben mehr als hundert Menschen aus den Reihen der ehemaligen Sondersiedler. Hauptsächlich sind dies die Kinder von Wolgadeutschen, die vor 1956 im Tajmyrgebiet geboren sind, als die Sonderkommandantur für Personen mit deutscher Nationalität abgeschafft wurde. Innerhalb der „Kinder“-Generation befinden sich die Aktivisten der Tajmyrer gesellschaftlichen Vereinigung unrechtmäßiger Opfer politischer Repressionen – Walentina Wladimirowna Beilmann und Swetlana Fjodorowna Weligurowa, deren Vater – Fjodor Grigorjewitsch Weligurow, seine Strafe nach §58 im Dudinsker Lager absaß. Hier im Lager lernte er das deutsche Mädchen Frieda Neb kennen, die dafür hinter Gitter gekommen war, dass sie mit ihren Freundinnen vom Ort der Zwangsansiedlung nach Dudinka fortgelaufen war, in der Hoffnung, dort eine Arbeit zu finden – und dafür hatte man sie bestraft.
Viele gute Worte kann man auch über die Pädagogin und Absolventin des Pädagogischen Instituts in Krasnojarsk – Elmira Gottliebowna Mulinaja (Degraf) sagen, die hervorragende Aufklärungsarbeit leistete und mehr als dreißig Jahre in Bildungseinrichtungen tätig war.
Viele Jahre haben wir nun schon mit der Leiterin der regionalen Behörde für Statistik, Tilda Iwanowna Schweizer, zusammengearbeitet, die heute verdiente Mitarbeiterin für Statistik in der RSFSR ist.
Jahrzehnte des Lebens wurden dem Norden geopfert. Schon sind die Enkel derer herangewachsen, die einst im Kindesalter ins Tajmyrgebiet verschleppt wurden und deren Erinnerungen als Grundlage für die hier vorliegende Publikation dienten. Die Erinnerungen von Opfern politischer Willkür – das sind die blutigen Seiten in der Geschichte einer Generation, die durch Repressionen zum Krüppel gemacht wurde.
N.A. Predtetschenskaja,
Leiterin der Abteilung für Geschichte
im Tajmyrer Heimatkunde-Museum