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Die Zeit stellte sie auf eine harte Probe… (Erzählung über die Mutter)

Leontina Schuckert wurde am 24. April 1923 in der Ortschaft Wiesenmüller, Gebiet Saratow, Bezirk Seelmann, Republik der Wolgadeutschen, in einer einfachen Familie geboren. Ihr Vater Alexander Jakowlewitsch arbeitete auf der Milchfarm, Mutter Emma Georgiewna kümmerte sich um den Haushalt. 1930 gab es in der Familie bereits drei Kinder. 1927 wurde Roman geboren, 1930 Amalia. Doch das Hungerjahr 1930 raffte die jüngste Tochter dahin, und das Familienoberhaupt erkrankte an Tuberkulose und starb 1936. Damit endete Leontinas Kindheit, denn nun musste sie zusammen mit ihren Freundinnen und Klassenkameraden in einem kleinen Obstgarten hinter dem Dorf arbeiten; in dem Flüsschen Jeruslan, einem Zufluss der Wolga, badeten sie und angelten Fische.

Trotz des schweren Kummers, der die Familie gleich zweifach ereilt hatte, lernte Leontina gut und trat nach der siebten Klasse in die pädagogische Fachschule in Seelmann ein. Im Mai 1941 erhielt sie ein Dokument, in dem ihre Berufsqualifikation eingetragen war – Lehrerin der Grundschulklassen. Doch die Freude über den Fachschulabschluss währte nicht lange. Wie alle deutschen Familien an der Wolga waren sie der Deportation ausgesetzt. Sie durften nur so viele Sachen mitnehmen, wie sie selber tragen konnten.


Emma Georgiewna Stukkert mit Tochter Leontina und den Enkelkindern Jewgenij
Und Valerij. Ortschaft Grusenka, Balachtinsker Bezirk, 1954

Nach einer langen qualvollen Fahrt geriet die Familie in das Dorf Koschany im Balachtinsker Bezirk. Hier erlebten sie den ersten Kriegswinter. Im Frühjahr brachte man sie in den Hohen Norden. Über einen Monat brachten sie auf dem Jenissei zu, auf dem offenen Deck eines Schiffes, wo sie vor dem schlechten Wetter nur unter den Sachen Schutz suchen konnten, die sie bei sich hatten. Sie gelangten fast bis nach Dickson. Hier, am Anleger Innokentij, in der Tundra mit ewigen Frost und langen Polarnächten verbringt die Familie Stukkert sechs endlos erscheinende Jahre. Sie wohnten in einer unbeheizten Baracke. Wenn kein Schneesturm herrschte, konnte man durch die Ritzen in der Decke die Sterne sehen. Im ersten Winter starb einer der Verbannten. Ein Grab im gefroren Boden ausheben war unmöglich, denn niemand besaß die Kraft dazu. So lag der Verstorbene den ganzen Winter unter einem schützenden Dach, mit Strohmatten bedeckt. Am Ende des ersten Winters erkrankte Emma Georgiewna an Skorbut und verlor dadurch sämtliche Zähne. Sie war erst vierzig Jahre alt.

Leontina und Roman arbeiteten all die Jahre. Und was sie nicht alles für Tätigkeiten verrichten mussten! Fische fangen, Netzte flicken, jagen, und im Sommer sammelten sie in der Tundra Beeren. Sie erhielten eine spärliche Essensration, und davon lebten sie. Nach Kriegsende erlaubte man den Verbannten den Norden zu verlassen. Leontina kehrte mit Mutter und Bruder in den Balachtinsker Bezirk zurück, wo sich viele deportierte Deutsche befanden. Die Bezirksabteilung für Bildung schickte Leontina als Lehrerin der Grundschulklassen an die Grusensker Schule. Die ganze Familie lebte in einem kleinen Holzhaus neben dem Dorfladen. Roman fand Arbeit im Laden als Arbeiter und Nachtwächter. Tagsüber fuhr er mit dem Ochsen in den Wald, um Brennholz zu holen, das er anschließend zersägte, zerhackte und im Geschäft den Ofen heizte. Nachts arbeitete er als Nachtwächter. Sie führten so ein Hungerdasein, dass sie sich an den Norden erinnerten, wo sie wenigstens immer ihre Ration bekommen hatten. Sie tauschten ihre Sachen gegen Lebensmittel ein. Es kam vor, dass die Menschen vor Hunger in Ohnmacht fielen. Eine alte Frau aus den Reihen der Alteingesessenen merkte, dass die junge Lehrerin häufig stehenblieb, um einen Schwächeanfall abzuwarten, den sie auf dem Weg von der Schule nach Hause erlitt. Sie brachte sie zu sich heim, gab ihr Milch zu trinken und befahl ihr, jeden Tag hereinzuschauen. Im Sommer retteten sie die Beeren, die sie immer einen ganzen Tag lang sammelten und aßen. Die verbliebenen Beerentauschten sie gegen andere Lebensmittel ein. Im Sommer 1947, nach drei Jahren an der Front und zwei verlängerten Dienstjahren kehrte Nikolaj Stepanowitsch Kosares in sein Heimatdorf zurück. Er wurde der Ehemann von Leontina Stukkert. 1948 wurde dem jungen Paar Sohn Valerij geboren, zwei Jahre später Sohn Jewgenij. Die junge Mutter liebte ihre Kinder sehr, verwöhnte sie, so gut sie konnte. Es kam nie vor, dass sie von einer Fahrt in die Bezirksstadt mit leeren Händen, ohne kleine Geschenke für die Kinder, zurückkehrte. Aber das Glück währte nicht lange. Im Herbst 1950 wurde Bruder Roman aufgrund einer erlogenen Anklage zu 2 Jahren verurteilt. Im Lager verurteilten sie ihn dann wegen einer unvorsichtigen Äußerung ein weiteres Mal, diesmal zu 10 Jahren. Die Jahre des Wartens zogen sich dahin. Die Arbeit in der Schule, die familiären Sorgen; die Kinder wuchsen heran. 1956 kauften sie ihr eigenes Haus. In demselben Jahr kehrte Roman aus der Haft zurück. Später wird er voll rehabilitiert.

Leontina widmete ihrer Arbeit viel Zeit, saß bis in die späte Nacht beim Schein einer Kerosinlampe an den Stundenplänen und bei der Korrektur der Hefte. Ab Mitte der 1950er Jahre lehrte sie die Kinder an der Grusensker Schule Deutsch. Das Unterrichten der deutschen Sprache in den Nachkriegsjahren war aus verständlichen Gründen sehr schwierig. Die Schüler, nun schon selber ganz erwachsene Menschen, erinnern sich bis heute an ihre interessanten Unterrichtsstunden. Eltern und Kinder schätzten sie wegen ihrer Güte und ihres aufrechten Charakters. Trotz ihrer Jugend nannten sie sie Aleksandrowna und fragten sie oft um Rat. Viel Zeit verbrachte Leontina mit ihren Kindern, gemeinsam bereiteten sie den Unterricht vor, nähten Neujahrskleider, bastelten Spielzeug für die Tannen. Abends lasen die Eltern abwechselnd laut aus Büchern vor, das war die allgemeine Lieblingsbeschäftigung an den langen Winterabenden. Mama erzählte oft vom Hohen Norden, aber auch von ihren heimatlichen Gefilden. Zum Frühjahr hin wurden alle Fenster mit aus Zeitungspapier hergestellten Gefäßen vollgestellt, in denen Setzlinge gezogen wurden. Mama war ungewöhnlich fleißig: im Sommer der Obstgarten, wohin sie sich zu Fuß begaben. Mama lernte, wie man mit der Sense Gras schnitt, gemeinsam mit dem Vater mähte sie das Heu und brachte es ein; es reichte, um sich eine Kuh zu halten. In allen Dingen war Oma Emma eine große Hilfe. Von ihrer Mutter trennte sich Leontina auch nach der Rückkehr aus dem Norden nicht.

Anfang der 1960er Jahre erlaubte man den Wolgadeutschen in die Heimatorte zurückzukehren. Roman war zu der Zeit bereits verheiratet, er beschloss dorthin zurück zu fahren. Nach einiger Zeit kam ein Brief, in dem er mitteilte, dass er den Ort seiner Kindheit nur mit Mühe wiedererkannt hätte, und er riet davon ab, ebenfalls dorthin zu kommen. Ein Jahr später kehrte er wieder zurück, erlernte den Beruf des Fahrers in der Nasarowsker Fahrschule und arbeitete danach in Balachta.


Schüler der Grusensker 7-Klassen-Schule mit ihrer Deutschlehrerin
Leontina Alexandrowna Kosares (Stukkert). Anfang der 1950er Jahre.

Leontina Alexandrowna Kosares arbeitete mehr als 30 Jahre an der Grusensker Schule, zeigte ein Musterbeispiel an Treue für ein und denselben Ort und ein und dieselbe Sache. 1979 ließ sie Grusenka hinter sich, weil der Ort keine Perspektivenmehr bot und die 8-Klassen-Schule in eine Grundschule umorganisiert wurde. Nachdem sie zu ihrem ältesten Sohn in die Ortschaft Kalinino, Pjervomaijsker Bezirk, Republik Krim, umgezogen war, lebte sie dort 23 Jahre, starb, ebenfalls dort, im Jahre 2002 und wurde auch dort begraben.

Jewgenij Nikolajewitsch Kosares,
Ortschaft Grusenka, Balachtinsker Bezirk, 2010


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