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Überlebende des GULAG

Lange Zeit unterlagen die Akten der Verurteilten strengster Geheimhaltung. Die Erinnerung an die Repressionsopfer blieb einzig und allein in den Herzen der Menschen bewahrt. Niemals wurde laut darüber gesprochen, man fürchtete Unheil über sich herauf zu beschwören.

- Bis 1953 wurden wir verfolgt und gedemütigt, man hielt uns einfach nicht für Menschen. Und so lebten wir mit dem Etikett „Enteignete Großbauern“, - seufzt die 80-jährige Anna Leontjewna Schpagina (Mädchenname Kolesnikowa) traurig.

Bis zum Beginn der Repressionen wohnte die Kolesnikowa in der Ortschaft Motorskoje, Bezirk Karatus. Hier wurde Anne im Jahre 1923 geboren. Außer ihr wuchsen in dieser freundlichen Familie noch drei weitere Kinder auf. Der Vater war ein fleißiger, sehr tüchtiger Mann. Gemeinsam mit seinen Brüdern führter er die Hofwirtschaft. Einer von ihnen bearbeitete Tierfelle, der andere war am Butterfass beschäftigt, und Leontij Iwanowitsch, Annas Vater, arbeitete in der Schmiede. Zusammen bearbeiteten sie den Ackerboden, bauten Getreide an. Auf dem Hof gab es Pferde, Kühe, Schafe und anderes Kleinvieh. Auch die Frauen und Kinder saßen nie untätig herum. Jeder von ihnen hatte genug zu tun, und sie wohnten alle beieinander.

Die Brüder planten sich selbständig zu machen. Zunächst baute sich Leontij ein Haus. Die Eltern freuten sich: endlich besaß er nun auch sein eigenes Eckchen. Doch die Freude währte nicht lange. 1931 wurde auf einer Sitzung des Präsidiums des Bezirksexekutiv-Komitees die Hofwirtschaft von Bürger Leontij Kolesnikow zur Kulaken-Wirtschaft erklärt. Dier Familie wurde aus dem Haus getrieben und der gesamte Besitz versteigert.

- Das über Jahre erworbene Hab und Gut – alles schleppten sie in einem einzigen Augenblick fort, - sagt Anna Leontjewna bis heute zutiefst gerührt. – Zwei Wochen lang waren sie allein ununterbrochen dabei, das Getreide aus unserem Speicher mit zwei Pferden abzutransportieren.

Von der Großbauern-Enteignung waren auch Leontij Iwanowitschs Brüder betroffen. Sie wurden dem Olchowsker Bergwerk im Bezirk Ukraine zugewiesen. Und die Kolesnikows wurden zwei Jahre später zur Zwangsansiedlung in den Nowowasjugansker Bezirk, Gebiet Tomsk, geschickt.

Lange waren sie unterwegs, bis sie schließlich ihren Bestimmungsort erreichten. Zuerst wurden sie mit Fuhrwerken transportiert, dann in Güterwaggons. Einen Monat wurden sie in Tomsk in Quarantäne festgehalten; danach verfrachtete man sie auf Lastkähne und brachte sie auf den Flüssen Ob und Wasjugan nach Norden, 800 km von der Stadt entfernt. Im Juni trafen sie an Ort und Stelle ein. Ringsumher nichts als Taiga, Dickicht, dicht mit Gras bewachsene Uferstreifen. Und plötzlich dann der Befehl: „Aussteigen!“ – Die Frauen schrien und weinten. Keiner mochte daran denken, dass diese wilden Orte nun zu ihrem Zwangszufluchtsort werden sollten. Aber mit den Behörden kannst du nicht streiten. Nachdem sie ihr kümmerliches Hab und Gut zusammen gesucht hatten, verließen die Sondersiedler das Lastschiff und beschäftigten sich mit dem Bau einer vorübergehenden Behausung. Gräben wurden ausgehoben, Zweige abgehauen – und daraus bauten sie Holzbuden.

Solonzowyi Jar – so heißt die Siedlung, wurde nach und nach erbaut. In Zusammenarbeit mit jeweils zwei, drei Familien fingen sie an, kleine Holzkaten zu errichten – denn im Norden sind die Winter grimmig und dauern schrecklich lange. Die nächstgelegenen Siedlung der Altgläubigen, die sich vor der Sowjetmacht versteckt hielten, sowie der Ostjaken, der einheimischen Bewohner, befanden sich hunderte Kilometer entfernt. Sie ernährten sich von Fisch und irgendwelchen Wildtieren, die ihnen zufällig in die Fallen gerieten – es war nicht vorgesehen, dass ein Enteigneter ein Gewehr besaß. Und zwei Jahre später wurde diese Gegend als zum Wohnen ungeeignet befunden. Man befahl ihnen, unverzüglich umzusiedeln –nach Medweschij Tschwor.

Erneut rodeten sie Wald, bauten Holzhütten. Sie arbeiteten wie Verdammte, hungrig und nur halb bekleidet. Einige hielten das nicht aus und flohen.

- Auch wir versuchten uns aus dieser Hölle loszureißen, - erinnert sich Anna Lentjewna. – Eine Woche lang fuhren wir auf Skiern durch die Taiga. Die jüngsten Geschwister (1937 wurde bei den Kolesnikows das fünfte Kind geboren) wurden auf dem Schlitten transportiert. Wir versuchten morgens zu gehen, über den verharschten Schnee. Es war bereits März. Wir kamen bis nach Kulaj; und dort wurden wir auch festgenommen. Aber zwei Monate später liefen wir erneut fort. Wir begaben uns zur Bahnstation Tschany, hungrig und zerlumpt. Wir stiegen in einen Zug ein. Wir hatten noch nicht einmal Nowosibirsk erreicht, als wir schon wieder verhaftet und mit einer Häftlingsetappe an den vorherigen Ort zurückgeschickt wurden. Und so lebten wir dort und führten ein kümmerliches Dasein.

Nach Abschluss der Vier-Klassen-Schule arbeitete Anja in der Kolchose. Die jüngeren Geschwister halfen im Haushalt. Sie hielten Hühner, eine Kuh, aber man nahm sie ihnen fort, weil sie ihre Steuern nicht bezahlten. Im Gemüsegarten hatten sie Kartoffeln gesetzt, aber die waren nicht gewachsen – der Norden, der kurze Sommer, die Kälte. Sie verhungerten nur deswegen nicht, weil der Vater über goldene Hände verfügte. Er konnte jedes beliebige technische Gerät reparieren, Gewehrhähne anfertigen und sogar Nähnadeln meißeln.

Unmittelbar vor dem Krieg starb die Mutter. Das Mädchen war die Älteste in der Familie, und alle Sorgen lagen nun auf ihren schwächlichen Schultern. Der sechzehnjährige Bruder wurde mobilisiert und in eine Rüstungsfabrik nach Nowosibirsk geschickt. Der Vater erhielt einen befreiungsschein. Anja wurde zum Arbeiten in einer Tannenholz-Fabrik fortgeschickt, und die ganze Fabrik bestand aus einem Bottich und einem Ofen mit Feuerraum. Die Minderjährigen wohnten in einer Baracke – 30 Kilometer von zu Hause entfernt. Den ganzen Tag über kletterten sie in der Taiga auf den Bäumen herum, hackten Tannenzweige ab, zerbrachen sie und trugen sie zur Fabrik.

Einmal, im Frühjahr, konnte Anja sich auf einem vereisten Baum plötzlich nicht mehr halten und fiel herunter, wobei sie sich die Wirbelsäule verletzte. Lange Zeit war sie danach ans Bett gefesselt. Nirgends wurde sie behandelt. Der junge Organismus kämpfte ständig gegen alle Widrigkeiten an, und so ging Anja bald wieder ganz in ihrer Arbeit auf. Sie sorgte für die Hühner, rodete Wald, harkte Heu zusammen und drosch Getreide. Und der Vater machte sich um jeden Preis auf nach Nowosibirsk. Dort fand er Arbeit in der Rüstungsfabrik, in der auch sein ältester Sohn arbeitete.

Aber uns, die wir aus Medweschik Tschwor kamen, ließen sich nicht wegfahren, - sagt die Frau, - sie erlaubten es so lange nicht, bis wir mit der Kolchose wegen der Getreideabgabe abgerechnet hatten. Weil wir Schulden hatten, wurde unsere Holz-Kate konfisziert, aber auch das schien immer noch nicht genug zu sein. Wir mussten die Filzstiefel und einen kleinen Kübel verkaufen. Nach Nowyj Wasjugan gingen wir zu Fuß. Die Bündel packten wir auf einen Schlitten und dann machten wir uns auf den Weg. Als wir angekommen waren, wurde mir ein Bein abgenommen. Wir kamen dort bei Bekannten unter. Als ich genesen war, erhielt ich einen Pass, und dann fuhren mein Bruder und ich mit dem Schiff zum Vater nach Nowosibirsk. Wir trafen dort ganz genau am Tag des Sieges ein. Überall Autos, hohe Häuser, Blumen, die Menschen jubeln, und wir wundern uns über alles – als wären wir Wilde. Was soll man sagen in der Abgeschiedenheit; wir sahen nichts, wir hörten nichts.

Auch hier gestaltete sich in Anjas Leben und dem ihrer Angehörigen nicht alles so einfach. Der im Pass erwähnte Paragraph 58 tat das Übrige – bis zu dem Zeitpunkt, als die ihn „verlor“ und einen neuen erhielt, ohne diese Brandmarkung. Danach normalisierte sich alles nach und nach. Aber die Heimaterde ließ ihnen keine Ruhe, sondern rief sie Tag und Nacht zu sich. Schließlich kehrten sie in den Bezirk Karatus zurück, in ihr Dorf, aber dort stand kein Pfahl, kein Hof, und ständig wurden sie misstrauisch von der Seite angestarrt.

Die Kolesnikows beschlossen sich in Tuwa niederzulassen. Dort absolvierte Anna Krankenschwestern-Kurse. Sie arbeitete in der Chirurgie, später in der Tuberkulose-Fürsorgestelle. Der Oberarzt hatte Mitleid mit dem Mädchen, und schätzte es wegen seiner Ordnungsliebe und seines Fleißes. Die früheren Erkrankungen waren beunruhigend. Anna bekam die Invaliden-Gruppe II zugesprochen, aber das lehnte sie ab – das war die Gruppe, die der man nicht arbeiten musste, aber dann würde später die Rente nicht zum Leben reichen. Sie achtete auf ihre Gesundheit, ließ sich häufig behandeln, nahm eine Operation auf sich, beklagte jedoch niemals ihr Schicksal.

Als Anna Leontjewna bereits in Rente war, zog sie mit ihrem Mann nach Jermakowskoje um.

Im Dezember wird Anna Leontjewna Schpagina 83 Jahre alt. Sie ist Veteranin des Großen Vaterländischen Krieges, eine Frau, die rastlos im Hinterland gearbeitet hat. Sie bekam die Medaillen „Arbeits-Veteran“, „Für heldenhafte Arbeit während des Krieges“ und die Jubiläumsmedaille „Für den Sieg“ verliehen. Im März 1994 wurde sie rehabilitiert. Viel Leid und Unbill entfielen auf das Los dieser Frau, aber sie ist daran nicht zerbrochen, hat standgehalten und ist nicht verbittert. Immer hat sie an die Gerechtigkeit geglaubt und genau gewusst, dass irgendwann einmal die Zeit kommen und die Wahrheit triumphieren würde.

N. Kotowa

Schmerz und Erinnerung. Gewidmet den Opfern der politischen Repressionen in den 30er bis 50er Jahren des 20. Jahrhunderts im Bezirk Jermakowskoje, Band 2

 


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