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Brief von T.B. Kusnezowa

22. März 1992

Werte Damen und Herren!

Erst gestern habe ich an einem Informationsstand unter der Rubrik „Veröffentlichungen werden fortgesetzt“ Ausschnitte aus Zeitungen gesehen, welche die Namen von Menschen enthielten, die in Lagern der Region Krasnojarsk ums Leben gekommen sind, und ... „meine Seele wurde von Qualen der Menschlichkeit gekränkt...“ und das nicht zum ersten Mal.

Es ist unmöglich, sich daran zu gewöhnen oder dem gleichgültig gegenüberzustehen. Ich bin Mitglied der Vereinigung von Opfern illegaler Repressionen. Auch bei uns wird aktive Arbeit in allen Richtungen geleistet. Es sind zwei Sammelbände mit dem Titel „Lektionen des Zorns und der Liebe“ herausgekommen – mit Erinnerungen ehemaliger Häftlinge.

Meine Eltern verschwanden in Norilsk. Mein Vater, Boris Semjonowitsch Medwedowskij, geb. 1900, wurde von Organen des NKWD in der Nacht vom 6. auf den 7. November 1938 (der Monat November nahm im Leben meines Vaters einen besonderen Platz ein) in der Stadt Jaroslawl verhaftet; zuvor hatte man ihn von Moskau aus zum dortigen Rüstungsbetrieb geschickt, mit gleichzeitiger Versetzung auf einen niedrigeren Posten, was in Zusammenhang mit den einsetzenden Repressionsmaßnahmen stand. Ein halbes Jahr lang Ermittlungen. Auf Beschluß der Sonder-Beratung beim NKWD der UdSSR vom 14. Mai 1939 wurde er gemäß §58-1b und 58-7 zu 8 Jahren Freiheitsentzug mit Strafverbüßung in einem Besserungsarbeits-lager in Norilsk verurteilt. Er wurde wegen vorbildlicher Arbeitsleistungen vorzeitig im November 1944 freigelassen.

In den Papieren heißt es: er blieb zum Arbeiten am Norilsker Metallhütten-Kombinat, wo er als freiwilliger Mitarbeiter fest angestellt war. Er besaß nicht das Recht, sich in irgendeine andere Ortschaft zu begeben. Aber wohin sollte er denn auch fahren? Das ganze Land - das war doch alles ein einziges großes Lager mit unterschiedlichen Anstaltsordnungen.

Mama, Klawdia Lwowna Medwedowskaja, die Schwestern (Tanja und Natascha) und ich lebten mit ihm zusammen in den vierziger Jahren und Anfang der fünziger in Norilsk.

Ich erinnere mich an Norilsk und auch ein wenig an die Region Krasnojarsk: das auf seine Weise schöne Dudinka mit seinen Holzbauten, wo riesige Schiffe im dunklen Wasser lagen und unaufhörlicher Nieselregen herrschte. Kurejka – die Fischer-Siedlung, wo die Pioniere sich beim Besuch von Stalins Verbannungsort auf den alten Wärter stürzten, der ihn angeblich irgendwann einmal gesehen hatte, und sie umringten ihn und erkundigten sich mit Begeisterung über Dinge, die er vielleicht nicht einmal selbst gesehen hatte. Jenissejsk mit seinen kleinen Dampferchen, welche riesige Lastkähne schleppten, wo alle möglichen Gebrauchsgegenstände zum Trocknen aufgehängt waren, die Leute mit den Armen schwenkten und durch die Luft der Ruf zu hören war: „... Landstreicher verfluchen das Schicksal...“; von Bord des Dampfers sah man das große Igarka im Grünen liegen, und Turuchansk, Angarsk. „Jenissej, Jenissej, über deinen mächtigen Wogen ergießt sich die Weite der Birkenwälder, Jenissej, Jenissej – du Bruder der Polarmeere, goldenes, heimatliches Sibirien“ – so sangen sie bei uns auf dem Dampfer. Zu jener Zeit fuhren dort drei Dampf-schiffe: die „Spartak“, die „Josef Stalin“ (der Teufel soll sich an sie erinnern) und die „Maria Uljanowa“; in den fünfziger Jahren kam noch einer hinzu, der den Namen eines mutigen Polar-Kapitäns trug. Ich kann mich nicht erinnern, aber es klang so ähnlich wie „Lagutin“. Ich schreibe hier darüber, und das Herz schmerzt süß und verträumt, sobald es den Namen einer sibirischen Stadt hört. Möge ich nur keine alte und kranke Frau werden, dann würde ich als freier Vogel in dieses wunderschöne Gebiet „zur ewigen Ansiedlung“ fliegen. Nun lebe ich schon seit 40 Jahren in Petersburg, aber ich hänge nicht daran, es ist mir nicht ans Herz gewachsen. Ich mag keine Großstädte; in ihnen gibt es einfach zu viel Raum.

Nun gut: unser Papa arbeitete weiter im Technikum für Metallhüttenwesen und unterrichtete dort in dem Fach Elektrenergie. Wir lernten in der Schule. Dort lebten wir eine Zeitlanf inmitten der Polarnächte, Fröste und dem Schnee, den der Wind herangeweht hatte; aber es gab auch den heftigen schwarzen Polarsturm. Zur Schule kam ein Autobus gefahren, riesengroß, hellblau – ein amerikanischer MAK und wir wurden an einem Seil zum Einsteigen geführt. Vor den Fenstern unseres Hauses in der Straße des Oktober verlief ein kleiner Abschnitt der Zweigbahn, die aus Nirgendwo nach Nirgendwo führte, und dort fuhr ab und an ein kleiner Erdöl-Waggon. Er war zum Ankuppeln an den Zug bereit und rollte mit ratternden Rädern vor und zurück, indem er durch langgezogene und kurze Pfeiftöne in den schwarzen Himmel traurig von sich Kenntnis gab. Und jetzt, wenn mich gelegentlich so eine schwarze Trauer befällt, dann nimmt sie die Gestalt dieses Erdöl-Waggons an.

Die Eltern wurden krank. Du kommst aus der Schule nach Hause – auf dem Bett sind die Kissen verschoben, zerbrochene Ampullen, weder Vater noch Mutter sind zuhause.

Variante I: man hat Papa ins Krankenhaus gebracht und Mama ist mitgefahren. Variante II:

man hat Mama ins Krankenhaus gebracht und Papa ist mitgefahren.

Es kam der November des Jahres 1950: Mama ging für immer von uns, und die Familie verwaiste. Das war am 8. November, und am 29. wurde Papa das Recht auf Staatsbürgerschaft aberkannt. Sie nahmen ihm den Paß weg, beseitigten ihn aus dem Unterricht und ergänzten seine „Freiheit“, jenem § entsprechend, dahingehend, daß er sich einmal im Monat bei den Organen des MGB (Ministerium für Staatssicherheit) melden und registrieren lassen mußte. Der Beschluß der Sonder-Beratung beim MGB der UdSSR vom 29. November 1950. Das hat ihn fertiggemacht. Wir gingen alle drei zu Mamas Grab. Vater suchte sich einen Platz 50 cm von Mama entfernt aus und schaute beim Friedhofswärter vorbei, um die Sache zu besprechen. Anfang 1952 entstanden dort zwei Gräber unter den hölzernen roten Sternchen in der Nähe von Schmiticha. Erst heute, nachdem ich zu Gott gefunden habe, bin ich darauf gekommen, alle meinen Verwandten, die in ganz ver-schiedener Erede liegen, in der Kirche zu besingen, und das tat ich am 4. März 1992 in der Kirche Notre-Dame-deVladimir in St. Petersburg, nachdem ich symbolisch eine Handvoll Erde erhalten hatte. Ewige Ruhe sei ihnen und ein ewiges Andenken!

Ein Jahr früher als Stalin starb mein Vater. Nachdem er die Freiheit nicht zurückerlangt hatte, legte er sich in den ewigen Frostboden.

In der Verwaltung des KGB der Region Krasnojarsk will ich mich bemühen ein Papier zu bekommen, in dem sie mir bestätigen sollen, daß wir Kinder zusammen mit den Eltern in der Verbannung gelebt haben. Das Dokument brauche ich für die Neuberechnung meiner Rente. Ich bin aufgrund allgemeiner Erkrankungen Invalidin 2. Grades

Und wie geht es Ihnen bei „Memorial“? Sind Sie gesund und munter? Falls Sie in den Geschichtsannalen auf den Namen meines Vaters stoßen sollten, so schreiben Sie ihn doch bitte auch in diese Rubrik, unter den Buchstaben „M“. Er war ein feiner Mensch, Kriegs-ingenieur, ein tapferer Mann. Bis jetzt gibt es bei uns zwei Organisationen, die im Zusammen-hang mit politischen Häftlingen stehen – „Memorial“, wo es mehr Dissidenten und politische Häftlinge der 1960er und 1970er Jahre gibt, und dann die Vereinigung der Opfer illegaler Repressionen (mehr Häftlinger stalinistischer Lager). Ich bin Mitglied in der Vereinigung. Bei uns läuft gerade eine Kontrollmaßnahme wegen der Umschreibung, eine Präzisierung der Dokumente. Es geht um ungefähr 1000 Leute. Ich habe die Zeitung „Der §58“ abonniert. Ich möchte gern von ihnen ein Briefchen mit Mitteilungen aus der Region Krasnojarsk bekom-men. Ich warte auf Ihre Antwort, wie der Sommer auf die Nachtigall.

Ich küsse Sie alle. Bleiben Sie gesund. Der Herr segne Sie!

Tatjana Borissowna Kusnezowa
(Invalidin, Rentnerin, 56 Jahre alt. Früher Künstlerin und Drehbuchautorin.)


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