Der Menschen Schicksal ist unausweichlich. Niemand kann vorhersagen, was ihn in naher Zukunft erwartet.
Schwerlich wohl konnten am 31. Oktober 1936 Senta Skuja und Janis Schnejders, die an diesem Tage ein Ehepaar geworden waren, ahnen, daß das Schicksal sie nach nicht einmal vier Jahren wieder auseinanderbringen würde und sie sich niemals wiedersehen sollten.
Am 14. Juni 1941 verließen Janis Schnejders – Oberarzt am Liwansker Krankenhaus -, seine Ehefrau Senta und die beiden minderjährigen Söhne Janis und Uldis das Land, in dem ihre Vorfahren schon Jahrhunderte gelebt hatten.
Die Transport mit den künftigen „Häftlingen“ nahmen Kurs auf den Ural und nach Kirow, und die Familienmitglieder von „Volksfeinden“ kamen ins entfernte Sibirien.
So geriet Janis Schnejders ins WjatLag und seine Frau mit den Kindern in die unberührte, unwegsame Taiga.
Janis begann als Arzt in der Krankenstation des Lagerpunktes zu arbeiten; seine Frau erhielt ein kleines Netz zum Schutz gegen Mücken, ein Fläschchen mit Teer, ein Stemmeisen mit einem langen Stiel und einen Klotz sowie einen Schleifstein zum Schärfen ihrer neuen „exo-tischen“ Produktionswerkzeuge.
Im Wald erklärte man Senta, was diese oder jene Buchstaben-Kennzeichnung, dieses oder jenes Erkennungsband bedeutete, und sagte ihr, daß dies nun ihre Arbeitsrevier sein würde. Ihr wurde gezeigt, wie sie bei der Arbeit das Stemmeisen halten sollte.
Gleichzeitig erläuterten sie, daß der Beruf des Terpentinsammlers (wird aus dem Saft der Bäume gewonnen; Anmerkung der Übersetzerin) eigentlich Männerarbeit sei, wenn sie jedoch ihre 400 gr Brot plus noch einmal soviel für ihre Kinder erhalten wollte, dann dürfe sie diese neue Arbeit nicht vernachlässigen. Man sagte ihr ferner, daß sie in einem Zeitraum von 24 Stunden ungefähr zweitausend Kiefern-Einschmitte machen und dafür im Wald nicht weniger als 20 km zurücklegen müsse.
Wie man ihr klarmachte und zeigte, ist ein Wald keine Parkanlage und das Gras darin kein englischer Rasen, daß es nämlich stellenweise bis an die Gürtellinie reichte – manchmal sogar bis zum Kopf oder noch höher , daß niemand hier das Bruchholz wegräumte und sie deshalb die vom Wind kreuz und quer umgefallenen Bäume umgehen oder über 1,5 bis 2 Meter hohe Hindernisse klettern mußte.
Beim Abschied interessierten sie sich dafür zu erfahren – ob sie wohl allein den Weg zurück finden würde oder ob man sie suchen müßte. Wenn sie nicht bis Einbruch der Dunkelheit ins Lager zurückgekehrt wäre, würde man dort auf ein Stück Eisenbahnschiene schlagen. Der Ton wäre weithin hörbar. Und wenn sie ihn wahrnahm, dann sollte sie dem Klang folgen.
Möglicherweise würde sie so auch selbst bis „nach Hause“ kommen. Und falls nicht, dann würde am nächsten Morgen ein Suchtrupp organisiert, der die Verirrten in den meisten Fällen fand. Die Hauptsache – nicht die Geistesgegenwart verlieren und niemals die Möglichkeit ausschließen, daß man sie bald finden würde.
So begann Senta Schnejders’ Arbeitsleben.
Fünf mitten in der Taiga vernachlässigt herumstehende Baracken, abgetrennt von der Welt, die nur Kummer verursachten, so daß man die Siedlung auch Gorewka („Kummerfeld“; Anmerkung der Übersetzerin) nannte. Hier lebten und arbeiteten die von der schweren Arbeit und vom Hunger erschöpften und entkräfteten Menschen. Sie wußten nicht, weswegen sie eigentlich hier waren, wie lange sich diese schreckliche Strafe noch hinziehen würde.
Mit Einbruch der Dunkelheit versank das gesamte Revier vollständig in Finsternis.
Myriaden von Stechmücken, Wanzen und Schaben ließen einen Tag und Nacht nicht zur Ruhe kommen.
Der einzige Lichtblick war ein brennender Ofen, durch dessen offenes Türchen ein schwacher, flackernder Lichtschein drang. Hier neben dem Ofen wurde die Kleidung wieder in Ordnung gebracht und während der Nacht die naß gewordenen Sachen getrocknet, das Werkzeug für den nächsten Arbeitstag vorbereitet sowie endlose Gespräche über das Leben, das Schicksal und das Essen geführt.
Kienspäne für die Beleuchtung ließen sich in Gorewka nur unter ganz schwierigen Bedin-gungen verwenden. Sie waren einfach ungeeignet, brannten schnell ab und verbreiteten Brandgeruch. Harzige Klumpen von Ruß flogen durch die Luft und setzten sich auf Kleidung und Körper. Aber die Kienspäne hatten auch ihre Vorzüge.
Mit den heißen Holzstückchen ließen sich die an der Wand herumlaufenden Wanzen rösten. Sie blähten sich von der Hitze auf und fielen tot zu Boden.
Nachts kletterten die am Leben gebliebenen aus den Ritzen, krochen bis zur Barackendecke und fielen wie Sturzkampfbomber über die schlafenden Menschen her.
Die vom Tagewerk völlig erschöpften Leute reagierten auf ihre Bisse nicht. Sie schliefen fest.
Von den während der Nacht zerdrückten Wanzen war gegen Morgen die Bettwäsche mit Blutflecken übersät. Die Menschen schenkten dem jedoch keinerlei Aufmerksamkeit.
Sie standen auf, rannten zur Essensausgabestelle, um die nächste Wassersuppe zu holen, die mit einem Teelöffel Pflanzenöl angerichtet war, und die Wanzen verkrochen sich zum Ausru-hen in ihre geheimen Verstecke, um dann nachts erneut über die geschwächten Häftlinge her-fallen zu können.
Gorewka lag 12 km vom Zentral-Revier der Sadowsker Chemie- und Forstwirtschaftsbetrieb entfernt.
Zweimal pro Woche kam ein Fuhrwerk mit Brot und Lebensmitteln und brachte auch die Post mit.
Für alle übrigen Fälle wurden Mitteilungen zufuß überbracht, ob du nun krank warst, ob dich die Direktion zur Unterweisung oder Bestrafung zu sich rief. Andere Fälle existierten offiziell gar nicht.
Das schlimmste Übel waren die Stechmücken; Mücken, die sich im Gras verborgen hatten, stürzten sich in Schwärmen auf die sich vorüber bewegenden Menschen und hefteten sich wie eine geschlossene Masse an deren Kopf und Rücken. Alles wimmelte, summte und tönte. Wenn man eine Handfläche am Rücken hinunter führte, fühlte man unter den Fingern
einen dünnen Brei von zerdrückten Mücken. Auch das Hausvieh hielt eine derartige Invasion von Mücken nicht aus. Es mußte eingesperrt gehalten werden.
Die einzige Rettung vor den Mücken war Rauch, aber man konnte nirgends ein Feuer entfachen – alle mußten ja arbeiten.
Die Mücken drangen auch in die Behausungen ein; lediglich ein am Eingang befindliches Feuer und der dadurch entstehende beißende Qualm von Farnblättern verjagte sie aus den Räumen oder zwang sie, auf der Suche nach einem Fluchtweg, sich am Fenster niederzulas-sen, wo sie zu Tausenden erstickten.
Ein Mittel gegen die Mücken war Teer. Mit dieser schwarzen und stark riechenden Flüssig-keit bestrich man das Gesicht, die Hände, den Hals und ließ den Netzhut vorn ei wenig offen. So fiel es in der mit Feuchtigkeit und den Düften der Pflanzen angereichterten Waldluft leichter zu atmen.
Durch die häufige Anwendung von Teer bildeten sich auf den betreffenden Körperstellen kleine Geschwüre und verschiedene andere Hauterkrankungen.
Zum Herbst hin verschwanden die Mücken, aber an ihrer Stelle tauchten, für das Auge fast unsichtbar, die Kriebelmücken auf. Sie krochen überall hin, bereiteten mit ihren Stichen unerträgliche Schmerzen, zerfraßen die Körper, zerstachen die Gesichter, und alle Leute liefen mit geschwollenen Augen und Lippen herum.
Gorewka war der einzige Ort, an dem ein wolkenloser Himmel zu sehen war. Hier ließ es sich leichter atmen.
Aber all das lag noch vor uns.
Ende Juli, in der Stadt Kansk, wo der Gefangenentransport mit Sonderzwangsansiedlern aus Lettland angekommen war, sah Senta ihre Mutter und zwei ihrer Schwestern. So erfuhr sie, daß auch der Familie Suki das gleiche Schicksal wie den Schnejders widerfahren war.
Sie erbaten die Erlaubnis zur gemeinsamen Unterbringung, was sie dann auch gemeinsam nach Gorewka führte.
Erneut begann die Familie, bestehend aus drei Erwachsenen und drei Kindern, ihr gemeinsames Leben.
Zu jener Zeit war meine jüngste Schwester Ruta 8 Jahre alt, Mutters ältester Sohn 3, und der kleine Uldis gerade eineinhalb.
An dem Tag, als Senta zum ersten Mal zur Arbeit ging, mußte man sie später im Wald nicht suchen. Gegen Abend kehrte sie erschöpft und von Mücken völlig zerstochen zu den Baracken zurück.
Den ganzen Tag über waren die Kinder allein in der Baracke zurückgeblieben. Wieviel Freude stand in ihren Augen geschrieben, als an der Türschwelle ihre Mutter auftauchte.
Besonders freute sich der kleine Uldis. Er begriff noch nicht, daß morgen wieder dasselbe sein würde und – und dann noch vielen Jahre lang.
Nachts schmiegten die Kinder sich eng an ihre Mütter, immer mit der Angst, daß diese wieder fortgehen könnten und sie in der noch unbekannten Baracke, mitten im Wald, der immer so unheimliche Geräusche hervorbrachte, erneut zurückbleiben mußten – und fielen dann in einen süßen Schlaf. So behütet von ihren Müttern, lächelten sie sogar im Schlaf.
Die Kinder wußten nicht, daß sie bald, sehr bald sogar, in der neuen Behausung Hunger, Krankheit und Tod heimsuchen würden. Aber noch schliefen sie den süßen Schlaf der Gerechten.
Als sie am Morgen aufwachten, entdeckten die Kinder, daß ihre Mütter nicht mehr da waren. Janis wurde traurig, und Uldis fing mehrmals am Tag an zu weinen und nach der Mutter zu rufen, aber ebenso wie am Vortage kehrte sie erst spätabends zurück.
Am zweiten Arbeitstag waren Sentas Handflächen mit Blutblasen bedeckt. Die Muskeln ihrer Hände, Beine und des Bauches taten schrecklich weh. Es war ihr nicht möglich, den Rücken zu krümmen. Am Morgen von der hölzernen Lagerstatt aufzustehen war äußerst mühsam..
Sie wußte, daß eine solche Arbeit bei einem Menschen, der früher nie körperlich gearbeitet hatte, zu Schmerzen führte. Tatsächlich nahmen die Schmerzen nach ein paar Tagen ab und waren bald gänzlich verschwunden. Die Handflächen waren mit einer dichten Schicht aus gelben Schwielen bedeckt.
Mit der eintönigen Arbeit gingen Tage, Wochen, Monate ins Land.
Senta bemerkte jetzt etwas Neues in den Augen der Kinder. Mit großer Aufmerksamkeit verfolgten sie die Tätigkeiten der Mutter bei der Aufteilung ihrer kärglichen Essensration in jeweils gleiche Teile. Und als einmal zufällig ein Brotkrümel auf den Boden fiel, hob der kleine Uldis ihn auf, legte ihn in seine Hand und ging damit zur Mutter. In seinem Blick stand klar die Frage zu lesen – wem soll ich dieses Krümelchen geben? Seine Sparsamkeit und die Hoffnung, dieses kleine Brotkrümelchen zu bekommen, verursachte im Herzen der Mutter einen tiefen Schmerz.
Auch Senta selbst empfand ständig den Wunsch zu essen. Sie versuchte sich zu bezwingen, tröstete sich damit, daß sie die bisherige kleine Lebensmittelration schon gewohnt war.
Die Verpflegung wurde zum Hauptproblem. Es war nicht möglich, in Gorewka irgendetwas zu kaufen oder gegen Eßbares einzutauschen. Schließlich waren hier doch alle in derselben Lage wie sie.
Einmal, nach der Arbeit, hatte sie ein paar Sachen zusammengesucht und beschlossen, nach Sawodowka zu fahren, um sie gegen Essen einzutauschen. Bis zum Einbruch der Nacht mußte sie bis nach Sawodowka gelangen, den Tausch der Kleidung gegen Lebensmittel erledigen und gegen Morgen wieder zurückgekehrt sein. Am Abend und in der Nacht hatte sie also 24 Kilometer zurückzulegen und mußte dann, wie gewohnt, ihre Arbeit im Wald antreten.
Der nächtliche Weg nach Sawodowka wurde zur Regelmäßigkeit.
Ein zusätzlicher Liter Milch oder einige Kartoffeln machen das Hungerlos der Familie ein wenig leichter. Wieviele Male begegnete Senta unterwegs ebensolchen armen Teufeln, die, um der Kinder willen, nachts den letzten Fetzen Kleidung hergaben und wie sie zum Tauschen nach Sawodowka gingen. Bald wurde die Last auf dem Rückweg leichter und leichter. Der Tauschhandel begann langsam zu versiegen. Der Vorrat an überflüssigen Lebensmitteln ging bei den Ortsbewohnern langsam zur Neige.
Eines Morgens kehrte Senta mit leeren Händen aus Gorewka zurück.
Zu dieser Zeit wurden im WjatLag, an zahlreichen Lagerpunkten und Lageraußenstellen die „Gefangenen“ aus Lettland zur Arbeit eingeteilt. Das „Sortieren“ der Menschen wurde hier nach deren beruflichen Qualifikation, ihren Fertigkeiten und ihrer körperlichen Kraft vorgenommen. Jene, die nicht sonderlich qualifiziert waren, kamen in Holzfäller-Brigaden. Hier fällten sie unter strenger Bewachung Bäume, zersägten sie in die erforderliche Größe und schleppten das Holz zu den Stapelplätzen.
So lief es täglich mit dem ihnen auferlegten, eintönigen Arbeitsrhythmus.
Auch im Winter änderte sich der übliche Ablauf nicht. Weder bei Schneesturm, noch bei heftigstem Frost, der die Gesichter brennen und die Gliedmaßen eiskalt werden ließ, wurde die Arbeit unterbrochen.
Während der Nacht konnten sich die erschöpften und frierenden Menschen nicht ausruhen und aufwärmen. Die feuchte Kleidung trocknete nicht und war am Morgen durch den Frost steif wie ein Brett.
Die spärliche Verpflegung, bestehend aus einer Schüssel dünnflüssiger, magerer Suppe und einem Stück hartgetrockneten, zur Hälfte mit verschiedenen Zutaten angereicherten Brotes, war für die körperlich arbeitenden Männer viel zu wenig. Sie wurden von ständigem Hungergefühl geplagt.
Im Lager brachen Krankheiten aus. Die abgezehrten, unterernährten Menschen besaßen durch die alle Kräfte übersteigende, schwere Arbeit keine Abwehrkräfte gegen Krankheiten mehr. Der Tod erleichterte vielen die schwere winterliche Last.
Anfangs wurden die Toten in Einzelgräbern beerdigt, aber später, als es immer mehr wurden, in Gemeinschaftsgruben. Es tauchten Orte mit Massengräbern auf. Als es wärmer wurde, schüttete man die Gruben mit Erde zu und ebnete sie anschließend mit Traktoren ein. Für diese Arbeit wurden spezielle Bestattungsbrigaden zugelassen, die aus geschwächten und für die Arbeit im Wald ungeeigneten Häftlingen bestanden. In der Regel war es so, daß auch sie bald die noch freien Plätze in anderen Massengräbern einnahmen.
Ein Nachweis über diese Gräber, wieviele Menschen sich darin befanden, wer dort begraben lag, wurde nicht geführt, und einige Jahre später waren sie mit Gras und mit neuen Wald-schößlingen zugewachsen.
In einer besseren Lage befanden sich jene „Häftlinge“, die über handwerkliches Geschick verfügten und aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten in Werkstätten geschickt wurden. Hier arbeiteten sie zwar in ständiger Zugluft, aber nicht unter freiem Himmel. Sie wurden nicht vom Regen durchweicht und konnten immer ein Plätzchen finden, an dem es immer noch wärmer war, als auf der Straße.
Mit Einbruch des Winters und dem Ende der Waldabholzungssaison begann man in Gorewka mit neuen Arbeiten. Nach dem Ermessen der Lagerleitung wurden die Leute in Gruppen eingeteilt – die einen zur Beschaffung von Brennholz, andere für die Böttcherei oder die Töpferwerkstatt. Es wurde mit den Vorbereitungen für die neue Saison begonnen: die Bereit-stellung von Fässern für Terpentin und Töpfchen zum Sammeln des Baumsaftes.
Im Wald reichte der Schnee meterhoch, und auch in den Talsenken versank man tief im Schnee.
Senta wurde zur Beschaffung von Brennholz für die Töpfereien eingeteilt. Zu ihren Pflichten gehörte: Suche nach Dürrholz im Wald, Bäumefällen, Absägen der harzigen Stacheln auf einem Haublock.
Es gab viel Trockenholz in der Umgebung von Gorewka, so daß es nicht schwierig war wel-ches aufzufinden. Aber die Frage war – wie sollte man es fällen und zersägen? Diese Wis-senschaft mußte man sich erst aneignen.
Besonders schwierig war es, die Stämme richtig zu schlagen. Es war notwendig, daß sie beim Fällen des Dürrholzes in der vorgegebenen Richtung zu Boden gingen. Wurde dies falsch gemacht, dann blieb er entweder in den Zweigen anderer Kiefern hängen und es gelang irgendwie nicht, ihn so umzustoßen, daß er ganz bis zur Erde fiel, oder er fiel auf den Boden, versank im lockeren Schnee, und es war unmöglich, an den Stamm heranzukommen und ihn in meterlange Abschnitte zu zersägen. Es gab Tage, an denen die Leute so viel durch den Schnee liefen, daß es nicht gelang, Brennholz in ausreichender Menge zu beschaffen. Jeder Mißerfolg bei der Waldarbeit galt als Schädlingstätigkeit, und auf den „Schuldigen“ rieselten unverdiente Kränkungen und Worte herab, deren Sinn unverständlich ist, die jedoch häufig von Meistern des russischen Wortschatzes gebraucht werden. Automatisch verringerte sich die Norm bei der Brotzuteilung. Die Frauen weinten wegen der unverdienten Beleidigungen und Beschimpfungen. Mitleid und Nachsicht den Frauen gegenüber war hier fremd. Und so verging ein Tag nach dem anderen. Die schwere Arbeit, der immer strenger werdende Frost stumpften das Bewußtsein der Menschen ab. Sie wollten so gern essen. Nicht zufällig erinnerten die beim Sägen entstandenen Holzspäne an ganz andere Gerüche – mal an ein gebratenes Kotelett, mal an frisch gebackenes Brot. Die Halluzinationen verursachten im Kiefer Spasmen und überreichlichen Speichelfluß.
Im Wald froren die Frauen ganz schrecklich. Das Fehlen von warmem Schuhwerk zwang sie, die Füße in Schneewehen zu stecken. Auf diese Weise, bis zur Gürtellinie im Schnee steckend, war ihnen warm.
Schweren Herzens dachten Senta und ihresgleichen ständig an die zuhause zurückgelassenen
Kinder. Sie wußten, daß die über alles geliebten Kleinen auf sie warteten, auf ihre Mamas, in der Hoffnung, daß plötzlich ein Wunder geschehen würde und ihre heimkehrenden Muttis ihnen satt zu essen geben könnten.
Viele von ihnen begannen bereits den Geschmack von Milch, Kartoffeln und Fleisch zu vergessen. Der größte Leckerbissen war doch ein Stückchen Brot. Wie gern hätten sie ganz viel davon gehabt!
In ihrem unruhigen, ungesunden Schlaf hatten die Kinder Visionen von Essen – von warmem, leckeren Essen. Was das nun ganz genau war, konnten sie sich nicht vorstellen, aber daß es etwas Eßbares war, das fühlten sie ganz genau.
Nachdem sie die Erlaubnis erbeten hatte, für zwei Tage zur Besorgung von Lebensmitteln in die Kolchose zu gehen, machte Senta sich dorthin auf den Weg. Damals wußte sie noch nicht, daß es nicht möglich war, innerhalb von zwei Tagen bis ins nahegelegene Dorf Beresowka zu gehen – und auch wieder zurück. Vierzig Kilometer in eine Richtung, und ebensoviele wieder zurück, dann die Lauferei durch die Kolchos-Höfe auf der Suche nach Plätzen, an denen man Sachen gegen Lebensmittel eintauschen konnte – das war nicht leicht.
Nachdem sie die eigentlich für sie selbst so nötigen Dinge gegen 3 Eimer Kartoffeln, ein Tontöpfchen voll Milch und ein paar Eier getauscht hatte, machte sie sich auf den Heimweg.
Der Rückweg kam ihr lang vor.
Zu ihrem Unglück fiel lockerer Schnee, der die mißliche Lage noch verschärfte. Die ganze Last mußte sie auf dem Rücken tragen. Die letzten Kilometer legte sie in einem halb bewußt-losem Zustand zurück. Das einzige, was sie wußte – nur nicht hinfallen, nirgends hinsetzen, denn diese Schwäche würde den sicheren Tod bedeuten. Der Frost verschont einen müden, einsamen Menschen nicht.
Senta erreichte Gorewka einen Tag zu spät. Niemand bemühte sich, die Ursachen für ihre Verspätung zu ergründen. Stattdessen wurde sie wegen Arbeitsbummelei auf einen Transport nach Nischnij Ingasch geschickt, wo man sie 5 Tage und Nächte in den Karzer sperrte.
Janis Schnejders arbeitet weiter im Lager-Krankenhaus. Um sich herum sieht er hungernde, entkräftete Landsleute. Sein medizinisches Wissen reicht nicht aus, um sie von Krankheit und Tod zu heilen. Sie brauchten eine normale Ernährung, wirksame Medikamente und Vitamine.
Verzweifelt tauschten die vom Schicksal gezeichneten Menschen mittels des Wachpersonals die allerletzten ihnen noch verbliebenen Habseligkeiten gegen Knoblauch oder Zwiebeln. Im Lager wütete der Skorbut.
Systematisch machte Janis sich mit den Krankengeschichten der Verstorbenen vertraut, schrieb Bemerkungen in sein Notizbüchlein. Damals begriff er noch nicht, daß seine Aufzeichnungen nach vielen Jahrzehnten einmal zu Geschichts- und Anklagematerial erhoben würden, das vielen helfen sollte, Näheres über das bittere Schicksal ihrer Verwandten und Bekannten zu erfahren.
In der zweiten Hälfte des Winters 1941/1942 wurden in Gorewja viele Fässer mit Terpentin angesammelt. Sie auf dem üblichen Weg abzutransportieren war zu weit, und da traf die Leitung der Chemie- und Waldwirtschaft die tollkühne Entscheidung, mitten durch den Wald und über die zugefrorenen Bäche und Sümpfe einen „Simnik“ (eine nur im Winter befahrbare Straße; Anmerkung der Übersetzerin.) nach Lebjasche, zur Eisenbahn-Zweiglinie der Reschotynsker Lager, anzulegen.
Bei Frosttemperaturen von –40/– 50°C konnte man dieses Vorhaben in die Wirklichkeit umsetzen.
Die Bewohner von Gorewka wurden mobilisiert. Die Frauen wurden zu Arbeitskolonnen aufgestellt, jeweils vier in einer Reihe, und dann in die Schneewehen hineingetrieben, genau dorthin, wo der geplante Weg verlaufen sollte.
Nachdem sie ihre Beine mit Fußlappen oder irgendwelchen anderen Lumpen umwickelt und Bastschuhe aus Birkenrinde übergezogen hatten, die zur damaligen Zeit das einzige Arbeits-schuhwerk der Verbannten darstellte, liefen sie los in die vorgegebene Richtung.
Senta, die im Vergleich zu den anderen jünger war, marschierte in der ersten Reihe. Wie Bulldozer bahnten sie mit ihren Rümpfen einen Laufgraben im lockeren Schnee, überquerten auf dem Weg liegendes Bruchholz, versanken in Schneegruben und gingen immer weiter und weiter. Von ihren erhitzten Körpern stieg Dampf in die frostige Luft auf.
Zur Überwindung der dreißig Kilometer langen, unberührten Schneefläche benötigten sie zwei Tage und zwei Nächte. Niemand kümmerte sich um ihre Verpflegung. Die hungrigen, bis zum äußersten erschöpften Frauen drängten sich eng aneinander, sanken nieder auf die abgeschlagenen Äste der Bäume und fielen trotz des strengen Frostes in einen tiefen Schlaf.
Der Winterweg Gorewka – Lebjasche war angelegt, und man begann die Fässer mit den für die Rüstungsindustrie nötigen Terpentin mit Pferde-Fuhrwerken zur Zweigbahnlinie zu bringen.
Bald neigte sich der lange Winter auch in der Stille der Taiga dem Ende zu. An den von der Sonne erwärmten Abhängen wurden aufgetaute Stellen sichtbar. Und dann kam das rettende Grün zum Vorschein.
Wilder Knoblauch, oder Bärenlauch, wie die Botaniker ihn nennen, rettete das Leben nicht nur eines einzigen Menschen. Mit den ersten Schößlingen dieser mehrjährigen, wildwachsen-den Pflanze keimte im Schicksal der Gorewker die Hoffnung nach einer Überlebensmöglich-keit auf. Die Menschen fielen über die kleinen, zarten und grünen Blättchen her, rissen sie ab oder knabberten einfach wie Grasfresser an der Wurzel dieses belebenden Grüns.
Es ist schwierig zu erklären, wie es geschah, aber Ende 1942 gelangte der erste Brief aus dem WjatLag nach Gorewka. Das rief einen allgemeinen Freudenausbruch hervor. Die Vertreterinnen des schwachen Geschlechts wurden aufgemuntert, fühlten, daß sie Frauen waren. Es wurden Artikel zur Körperpflege gefunden, die man seinerzeit vernachlässigt hatte. Zum Brotkauf erschienen nun an dem kleinen Kiosk in der Siedlung und am Verpflegungs-stützpunkt Frauen mit angemalten Lippen, mit gekämmten und eingelegten Haaren.
Das einzige Gesprächsthema waren jetzt die Erinnerungen an die Ehemänner. Jede bemühte sich, von den Vorzügen des eigenen Ehemannses zu erzählen und zu zeigen, wie sehr sie ihn liebte.
Durch die glücklichte Besitzerin des ersten Briefes versuchten sie eine Nachricht von sich ins Lager zu übermitteln. Es begann eine gegenseitige Suche. Nach Gorewka gelangten auch von ganz unbekannten Männern Briefe, die unbedingt versuchen wollten, ihre Familien zu finden.
Alle eingehenden Briefe wurden gemeinsam gelesen, mit Ausnahme der Stellen, die ganz ver-traulich waren. Jeder freute sich über das Glück der anderen.
Es trafen auch leidvolle Briefe ein, in denen sie eine Benachrichtigung über den Tod ihres Ehemannes erhielten.
Sentas jüngster Sohn Uldis wurde krank. Das Kind siechte vor ihren Augen dahin und starb im Juni.
Etwa zu jener Zeit erhielt sie den ersten Brief von Schnejders. Er schrieb ihr von seiner unaus-löschlichen großen Liebe zu ihr, fragte nach den Söhnen. Ihre Freude war getrübt vom Tode des Kindes. Sie konnte sich nicht dazu entschließen, ihn sofort darüber in Kenntnis zu setzen. Sie wollte nicht sofort die ganze Freude mit der traurigen Nachricht verderben. Wenngleich sie zur Rettung des Sohnes nichts hätte tun können, so fühlte sie sich doch irgendwie an seinem Tode schuldig.
Ein endloser Strom von Briefen ergoß sich nach Gorewka. Sie waren alle auf Russisch geschrieben. Es gab auch Briefe, die mit einer fremden Handschrift geschrieben waren. Die Frauen waren beunruhigt. War da auch nichts Schlimmes passiert?
Aber bald wurde das Geheimins gelüftet. In einem der angekommenen Briefe war ein Teil des Textes mit Tusche übermalt. Es wurde klar, daß die Post von Leuten durchgesehen worden war, die mit der lettischen Sprache nicht vertraut waren. Daher wurden nur Briefe abge-schickt, die in Russisch abgefaßt waren.
Im nächsten Schreiben berichtete Senta vom Tod des Kindes. Sie verstand, daß es nicht ehrlich gewesen wäre, das Geschehene vor dem geliebten Menschen zu verheimlichen. Der Kummer mußte gemeinsam ertragen werden.
In einen seiner Briefe legt Schnejders ein Blättchen Papier mit hinein, gezeichnet von einem Lager-Künstler. Die Illustration wird begleitet von dem Text: „Liebes Söhnchen! Ich schicke Dir herzliche Grüße. Auf dem Bild kann man sehen, wie Mama ihrer Hühner füttert - und du hütest die Kaninchen! Ich küsse Dich – Dein Papa!“
Damals wollte es Schnejders nicht in den Kopf, daß sein Sohn, der kleine Janis (der ihm zu Ehren so genannt worden war) sich erst anhand des zugeschickten Bildes eine Vorstellung von Hühnern und Kaninchen machen konnte.
Und wieder gibt es Briefe voller Liebe und Sorge. Er schrieb, daß er nicht schlecht lebte. Daß er ein getrenntes Zimmer neben der Krankenstation bewohnte. Daß man ihm einen Passier-schein gegeben hatte, damit er seine Dienstangelegenheiten in der Siedlung erledigen kann.
Ende 1944 gingen in Gorewka plötzlich Gerüchte um, daß die deportierten Letten nach der siegreichen Beendigung des Krieges in ihre Heimatgebiete zurückgeschickt würden. Es gab sogar schon eine derartige Entscheidung, nur war es einstweilen noch nicht möglich sie zu verwirklichen, denn noch war nicht das gesamte lettische Territorium von den deutschen Faschisten-Truppen befreit worden.
Die Letten faßten wieder Mut, schöpften wieder neuen Mut und begannen noch besser zu arbeiten. Das Interesse an den Ereignissen an der Front vergrößerte sich. Am Schwarzen Brett wurden nun regelmäßig die letzten Nachrichten des Informationsbüros angeschrieben.
Abends nach der Arbeit, beim schwachen Lichtschein des Ofens, wurde erörtert, wann der Krieg wohl zuende sei, wurden Prognosen gestellt. Am 9. Mai 1945 endete der Große Vaterländische Krieg siegreich für das sowjetische Volk.
Die Letten in Gorewka warteten auf die Erfüllung ihrer Hoffnungen. Es vergingen Wochen, Monate, Jahre, aber eine Änderung ihrer Lage fand nicht statt. Es wurde klar, daß jene Gerüchte mit den rosigen Aussichten nur ausgedacht waren und vielleicht nur eine gewissen-lose Kränkung darstellen sollten. Es wurde auch niemand von ihnen mit der Medaille „für gewissenhafte Arbeit während des Großen Vaterländischen Krieges 1941-1945“ ausgezeich-net.
Noch ein Jahr vorher waren Gerüchte an Sentas Ohr gelangt, nach denen sich Schnejders ihr gegenüber nicht ganz anständig verhalten hatte. In einem seiner Briefe erzählte er auch selbst von einer gewissen Tanja, Pflegerin in der Krankenstation, mit der er freundschaftliche Bezie-hungen unterhielt. 1946 wurde er Vater eines im Lager geborenen Mädchens.
Nach Beendigung seiner Haftzeit im Jahre 1951 kehrte Schnejders nicht zu Senta und dem kleinen Janis zurück, sondern wählten einen Verbannungsort im Koktschetawsker Gebiet. Hier in Rusajewka machte er die Bekanntschaft einer Ärztin am hiesigen Krankenhaus,
Julia Jakowlewna Lanskaja, und sie begannen nach kurzer Zeit ein gemeinsames Leben zu führen. Bald wurde ihre Tochter Irina geboren.
Nach seiner Rückkehr nach Lettland arbeiten Schnejders und die Lanskaja zusammen im Krankenhaus; die Tochter hieß nach ihrer Heirat Irina Irba.
Wie auch schon früher, erhielt Senta erneut Briefe voller Liebe, die mit den Worten endeten: „Dein Janis“.
Und dies sind die letzten Worte eines anderen Briefes: „Ich würde dich so gern herzlich umarmen, dich an mich drücken und von ganzem Herzen küssen. Dein Janis“.
Was ist war: wieder eine Heuchelei, Kränkung oder das immer wieder aufkeimende Gefühl von Liebe zu seiner gesetzmäßigen Ehefrau, der Mutter seiner Kinder, die unschuldig in die schweren Bedingungen einer 16-jährigen Verbannung verschickt worden war.
„Dein Janis“ klang es in den Briefen, die Senta 1942 erhielt, und dann, als er seiner Frau gestand, daß er sich im Lager in Tanja verliebt hatte, und dann, als seine erste Tochter geboren wurde, und dann, als er nach Ende der Haftzeit nicht zur Familie zurückkehrte, sondern in die Koktschetawsker Region fuhr, und dann, und dann ... und so in allen Briefen, das ganze Leben lang.
Den letzten Brief dieser Art erhielt sie drei Monate vor seinem Tod.
Senta Schnejder lebt nach wie vor in Krasnojarsk. Hier erhielt ihr Sohn höhere Schulbildung, nahm einen leitenden Posten bei einer großen Bau-Organisation ein. Er zog nach Lettland um.
In Sentas kleinem Zimmerchen in einer Kommunalwohnung ist es immer sauber und gemütlich. Ungeachtet ihres vorgerückten Alters arbeitet sie immer noch. Sie leistet eine große gesellschaftliche Arbeit in der lettischen Sektion der Gesellschaft „Memorial“.
Nach der Veröffentlichung der Erinnerungen von Janis Schnejders in der Zeitung „Literatura un Maksla“ sowie einer Liste von im WjatLag ums Leben gekommenen Häftlingen, gab sie auf die Frage, wie sie zu dieser Veröffentlichung stehe, keine Antwort.
Offenbar möchte sie an das, was sie persönlich durchgemacht hat, nicht mehr erinnert werden.