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Erinnerungen von Nelli Lagle

Erinnerungen an Sibirien

(geb. 10.12.1933 in Estland)

Unsere Familie lebte auf dem Vorwerk Peetri in dem Dorf Urwaste, Charjusker Landkreis, Estland. Der Vater war Ackerbauer, wir Kinder halfen ihm so gut wir konnten. Auf dem Vorwerk arbeiteten alle – Groß und Klein. Im März 1949 lebten auf dem Vorwerk Mama Elise, ich, Schwester Salme und unser kleiner Bruder Tynu. Der Vater war verhaftet worden, auf den heimatlichen Hof nach Estland kehrte er erst 1955 zurück. Die älteren Kinder – Bruder Hannes und Schwester Ewi lebten in der Zeit in Tallinn, und es gelang ihnen, die Verbannung zu umgehen.

25.-27. März 1949

An dem Wintermorgen des 25.März erwachte ich um sechs Uhr; Mama war nicht zuhause, und es war meine Aufgabe, mich um das Vieh zu kümmern. Ich befand mich noch im Stall, gab den Tieren zum zweiten Mal Heu zum Fressen, als Tynu schreiend angelaufen kam und mir zurief, dass sich von unserem Gehöft aus ein Fahrzeug mit bewaffneten Leuten näherte, doch es blieb hinter dem benachbarten Stall im Schnee stecken. Ich trat aus der Stallung ins Freie. In der Mitte des Hofes lag Salme, wie ein herbstliches Erlenblatt; sie war auf dem Eis ausgerutscht und hingefallen. Ich hob sie hoch, brachte sie zu dem Schuppen, in dem die Heugarben getrocknet wurden, befahl ihr die Tür von innen abzuschließen und sich dann zu den Wohnräumen zu begeben, während ich selber Stall und Scheune verriegelte. Anschließend gesellte ich mich zu den Kleinen, und wir verschlossen die Türen des Hauses mit Schlüsseln und Riegeln. Und dann wurde auch schon außen angeklopft; sie versprachen die Türen aufzubrechen und die Fenster einzuschlagen, falls wir sie nicht freiwillig herein ließen. Das alles sagten sie in estnischer Sprache. Den Kleinen sagte ich, sie sollten in den Ofen hineinklettern, und dann schloss ich ganz leicht die Ofenklappe hinter ihnen. Als ich das Splittern von Glas vernahm und die Tür aufsperrte, begann ein wahrer Kampf – fünf Soldaten und eine Frau stürzten ins Haus, ich bekam einen Schlag mit dem Gewehrkolben, und dann fragten sie nach der Mama. Ich gab zur Antwort, dass ich nicht wüsste, wo sie wäre. Als ich am Morgen erwacht war, war sie nicht zu Hause gewesen. Sie stießen mich fort und rannten durch sämtliche Zimmer, öffneten die Schranktüren und füllten alles in ihre Taschen, was ihnen unter die Finger kam. Sie durchsuchten den ganzen Hof; dann fuhren sie davon. Wir Drei zogen uns an und gingen in den Wald, wo eine Tanne mit weit verzweigten Ästen wuchs; wir klettern hinauf in den Schutz ihrer Zweige. Aber schon bald wurde uns kalt, und wir bekamen schrecklichen Hunger. Wir kletterten von der Tanne herunter und begaben uns, dem Waldrand folgend (wir hatten Angst auf der Straße zu gehen) zu den Großeltern. Am 27. März kam am frühen Morgen unsere Mama, um uns zu holen. Wir hatten uns gerade angezogen, als ein Auto kam. Anette Kangur war bereits dort. Mama bat um die Erlaubnis kurz zu Hause vorbei zu schauen, aber man erlaubte es ihr nicht. Als wir unten an dem kleinen Berg Urwaste vorbei fuhren, zeigte sich zum allerletzten Mal das elterliche Haus. Ich war so schwer betrübt, dass ich einen heftigen Schmerz in der Brust verspürte und in einen nebelartigen Zustand versank; was dann geschah – daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Als ich 1957 nach Hause zurückkehrte, ging ich zum Arzt, beklagte mich über schmerzen in der Brust, und bei der Untersuchung wurde dann festgestellt, dass ich irgendwann einmal einen Herzinfarkt erlitten hatte. Es wird wohl damals geschehen sein. Was sich im Dorfrat Peningas ereignete, als sie uns auf die Waggons nach Sibirien luden, weiß ich nicht mehr.

Das Leben in Sibirien

Am 14. April 1949 befanden wir uns auf dem Sklaven-Markt in Uschur, Region Krasnojarsk, daran kann ich mich schon erinnern. Die Menschen aus unserem Waggon wurden auf die Wagenkästen dreier Lastkraftwagen verladen, und dann begann unsere Fahrt zu einer Getreidesowchose im Balachtinsker Bezirk.

Das Frühlingshochwasser hatte die Wege aufgeweicht, und sie waren durch den nassen Schnee ganz matschig und rutschig geworden. In den Kuhlen wurden wir hin und her geschaukelt, und vor lauter Angst klammerten wir uns an die Lade-Wand und hielten einander fest bei den Händen. Die Fahrer hatten es eilig, damit sie noch vor Einbruch der Dunkelheit die tiefe Schlucht neben der Zweiten Lagerabteilung passiert hatten. ehe sich dort eine Lawine geschmolzenen Taiga-Wassers ergoss. Wir schafften es rechtzeitig auf den Berg, in der Ferne leuchteten die Lichter unserer zukünftigen Unterkunft. Plötzlich, während der Zeit, als wir Reisig für die Lagerfeuer sammelten und unser Essen vorbereiteten, vernahmen wir ein lautes Krachen. Das Wasser, alles mit sich reißend, was sich im Weg befand – Sträucher, Schnee, Erdreich, jagten in Richtung Tschulym. Die Fahrer triumphierten: wären sie nicht rechtzeitig auf den Berg gelangt, hätten sie eine Woche oder länger in der Zweiten Lagerabteilung verweilen müssen, bis die Schlucht wieder einigermaßen trocken geworden wäre. Gegen Abend trafen wir auf dem Zentral-Gehöft der Sowchose ein. Die Fahrzeuge hielten neben dem Klubgebäude, man erteilte uns den Befehl, mit unseren Habseligkeiten aus den Wagenkästen zu steigen. Im Klub-Saal lehnten wir unsere Sachen gegen die Wand, und dann wurden wir unter Nennung unseres Namens und Alters durchgezählt. Meine Mama Elise Lagle hatte zu ihrer Zeit an der Rawilasker russischsprachigen Gutsschule gelernt, wo der Gebrauch der estnischen Sprache streng verboten gewesen war; nun kamen ihr ihre Kenntnisse recht gelegen, sie war unsere Übersetzerin, außer ihr konnte niemand Russisch. Als die offizielle Zeremonie beendet war, kehrten alle zu ihren Bündeln zurück, und diejenigen, die etwas zu essen dabei hatten, nahmen eine Kleinigkeit zu sich. Bei vielen waren die Lebensmittel schon zur Neige gegangen. Auf der Bühne des Klubraums stand ein altes Klavier, in das die Ortsansässigen ihre Namen eingeritzt hatten, aber es brachte auf jeden Fall noch Töne hervor. August Kuuskmann setzte sich ans Klavier und begann einen Walzer zu spielen. Alle stimmten mit ihrem Gesang ein und drehten sich zum Tanz, bis sich die hysterische Ausgelassenheit in Schluchzen verwandelte. Wir weinten alle vor lauter Sehnsucht nach ihrem Zuhause, nach ihrer Heimat. Die Nacht verbrachten wir auf dem Boden, jeder so, wie er sich dort irgendwie einrichten konnte, denn der Raum war groß, es stand ausreichend Platz zur Verfügung.

Am nächsten Morgen brachte man uns zu je zwei Familien in einem kleinen Zimmer in einer roten Baracke unter. In dem Haus, das sich neben dem Kontor befand, waren die Zimmer etwas größer; dort mussten mehrere Familien gemeinsam in einem Raum unterkommen. Es gab kein Brennmaterial – und auch nichts zu essen.

Nun begann die Sklaverei

Am folgenden Morgen versammelte man uns neben dem Kontor und teilte uns auf die verschiedenen Arbeitsplätze ein. Mich schickten sie zum Getreide-Vorratslager, der sogenannten „Golubinka“; dort arbeitete ich an der Sortiermaschine. In großen hölzernen Kisten zog ich das Getreide in den höher gelegenen Bunker. Diese Tätigkeit überstieg für mich, ein Mädchen von fünfzehn Jahren, das unterwegs von Krankheit gepeinigt worden war, alle Kräfte. Mehrfach verlor ich durch die Last das Bewusstsein und fiel von der Steigleiter, und die Ladearbeiterinnen beschimpften mich deswegen. Hier arbeiteten wir, bis die die Zeit der Aussaat zu Ende war. Das übriggebliebene Getreide in jenen Kisten auf Autos verladen und zur Erfüllung des Staatsplans nach Uschur gebracht werden.

Nach der Frühjahrsbestellung reinigten wir die Silage-Bunker in der Schlucht, damit war die Zeit bis zur Heumahd ausgefüllt. Die Heuernte fand weit hinter dem Dorf Berjosowka statt, hinter der Ersten Abteilung der Sowchose, neben dem See, ungefähr sechs Kilometer von unserem Wohnort entfernt. Wie unglaublich schön die Natur dort war! Wie Titanen standen dort hohe, schlank gewachsene Birken – und unter ihnen an den Berghängen bunte Blumen im Überfluss. Am schönsten blühten die Päonien und Orchideen. Doch es gab auch eine Vielfalt anderer wunderhübscher Blumen. Wir errichteten uns Laubhütten und wohnten darin bis zum Ende der Mahd, als das trockene Heu zu Hocken zusammengestellt wurde. Im Winter wurden diese Hocken mit einem Traktor mit Hilfe einer Blechplatte fortgezogen und auf diese Weise zu den Tierfutter-Plätzen gebracht. Bei Ende der Heumahd fing ich an auf dem Umschlagplatz zu arbeiten.

Auch das war wieder eine sehr schwere Arbeit, an der Güterumschlagsstelle mussten wir mit Schaufeln die Erdschicht abtragen. Die Rasenoberfläche musste bis auf den Kies hinunter entfernt werden. Russisch hatte ich bis zu dem Zeitpunkt noch nicht gelernt; einmal schickten sie mich in die Werkstatt, um einen Brechstange zu holen. Dort wiederholte ich, was man mir gesagt hatte: „Geh in die Werkstatt - ein Brecheisen holen“. Und genau so stellte ich die Frage auch dem Werkstatt-Leiter, aber meine Aussprache war nicht richtig. Alle verstanden, ich wolle Reisig holen, alle brachen in Lachen aus, und ich, als verängstigtes Vögelchen, zitterte wie Espenlaub. Da bat mich der Werkstattleiter noch einmal ganz genau zu wiederholen, was mir der Chef am Umschlagplatz, Matonin, mir befohlen hatte zu sagen. Ich wiederholte: „Geh Reisig holen“. Der Werkstattleiter antwortete: „Alles klar!“ und schickte einen der Arbeiter los, um ein Brecheisen zu besorgen, während er selber mir den Unterschied in der Aussprache und Bedeutung der Wörter erklärte; und so tauchten in meinem Wortschatz ein paar neue Wörter auf. Bei der Arbeit erwarb ich mir dann letztendlich auch meine Kenntnisse der russischen Sprache.

Die Herbst-Getreideernte begann. Man brachte den Weizen auf die von uns freigeschaufelten Plätze. Wenn das Getreide getrocknet war, wurde die Darre stillgelegt, und meine Arbeit dort war beendet. Ende Oktober schickten sie mich zur Kohlernte. Einmal nahm ich unbemerkt einen Kohlkopf mit, um zu Hause etwas zu kochen (wir waren alle gezwungen herumzuschleichen und von der Arbeit irgendetwas Essbares mitgehen zu lassen, denn wir mussten ja etwas in den Magen bekommen); unterwegs hab ich ein paar Zweige auf, um den Kohl zu verbergen und zu Hause ein Feuer anmachen zu können. Als ich mich ziemlich weit oben auf dem Berg befand, überfiel mich plötzlich eine heftige Müdigkeit. Ich nahm all meine Kräfte zusammen, um es bis nach Hause zu schaffen. Dort stellte sich heraus, dass ich Fieber hatte – mehr als vierzig Grad. Mama brachte mich zur ambulanten Krankenstation. Dort blieb ich drei Monate. Niemand konnte feststellen, was mir fehlte, was mit mir geschehen war. Ich schlief nur immerzu, und mir war unerträglich kalt. Ich hörte im Unterbewusstsein, wie eine der Krankenschwestern sagte: „Die ist ja schon so gut wie krepiert, und dann auch noch eine Faschistin!“ Im Februar wachte ich von einer Spritze auf, und es stellte sich heraus, dass man mir gleichzeitig dreißig Injektionen verabreicht hatte. Später sagte man mir in Tallinn bei einer Gesundheitsuntersuchung, dass ich mich früher einmal im Koma befunden hätte. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus sah ich wie ein Skelett aus.

Zu Hause erholte ich mich eine Zeit lang, am Umschlagplatz nahmen sie mich zum Arbeiten nicht mehr an; für eine derartige Tätigkeit war ich einfach viel zu schwach. Dann ernannten sie mich zum Hirten und schickten mich in den Schafzucht-Betrieb, der sich in der Schlucht, unweit der Ersten Abteilung, befand – ungefähr zwei Kilometer von zu Hause entfernt. Morgens stand ich bei Sonnenaufgang auf, abends kehrte ich nach Einbruch der Dunkelheit zurück. Die Nacht war immer sehr kurz. Es kam der Herbst, ich hatte Angst so weit zu gehen und meinte, dass ich lieber zur Schule gehen würde, und dann ging ich von mir aus wieder zur Arbeit am Umschlagplatz. Inzwischen war ich schon sechzehn Jahre alt. Im Winter schippten wir mit hölzernen Schaufeln Getreide von einem Haufen auf einen anderen, damit es nicht anfing zu dampfen. Innerhalb eines Jahres lernte ich Russisch, und nun bezeichnete mich auch niemand mehr als Faschistin, und meinen Lohn bekam ich wie alle anderen auch. Das merkte ich, als ich hinter einer Mitarbeiterin meine Unterschrift in die Lohnliste setzte. Darunter waren Frauen, die nicht Lesen und Schreiben konnten, und deswegen bat man mich, für sie ebenfalls zu unterschreiben – vor meinen Namen setzte ich das Wörtchen „für“.

Das neue Frühjahr brach herein, man schickte mich zur Arbeit aufs Feld an den Traktoren-Pflug. Der Traktor-Fahrer war irgendwohin fortgefahren und hatte mir zuvor noch befohlen, mich auf den Traktor zu setzen und damit zu pflügen. Er erklärte mir, mit welchem Hebel man den Traktor vorwärts bewegt, mit welchem nach links, rechts oder zurück, dass das eine Pedal das Brems-, das andere das Gas-Pedal wäre. Setzt dich mal drauf – uns schon kannst du Traktor fahren. Die erste Reihe wurde krumm und schief, die zweite dann schon gerader.

Als der Frühling in den Sommer überging, begannen die Sommerarbeiten auf dem Umschlagplatz. Dorthin trieb man die Schafe zur Schur. Ich schaffte pro Tag acht Schafe, aber eine Deutsche kam auf vierzehn!

Wir kauften uns eine Ziege. Wir hoben für sie eine Erd-Hütte aus – ähnlich der, in der wir selber zu der Zeit wohnten. Im Frühling, als der Schnee schmolz, rieselte das Schmelzwasser durch das Dach in unsere Behausung, es lief an der Wand herunter und verdarb die im Keller gelagerten Kartoffeln. Wir mussten sie trocknen, damit wir im Sommer etwas zu essen hatten.

Im Sommer sammelten wir in der Schlucht Lehm und schlugen mit Holzdübeln Löcher hinein; das verhinderte, dass im kommenden Frühjahr wieder Wasser in die Hütte hineinlief.

Und nun darüber, wie wir zum ersten Mal mit Ochsen unsere Arbeit verrichteten. Für unsere Ziege mähten wir Heu auf der Anhöhe, in großer Entfernung von der Ersten Abteilung. Ich spannte ein paar Ochsen an, und die Fahrt zur Heumahd verlief vortrefflich. Die von einem Seil gelenkten Tiere folgten mir gehorsam den Berg hinauf. Als wir das Heu aufgeladen hatten, fürchtete Mama sich davor, mit den Ochsen so voll beladen wieder hinunter zu gehen; sie meinte, dass sie Ladung dann mit ihrem Gewicht auf die Tiere drücken und das Fuhrwerk umstürzen könnte, und wir hätten doch kein Geld, um den Schaden zu ersetzen. Sie schlug mir vor, die Ochsen auszuspannen und die Fuhre selber den Berg hinab zu fahren. Und so tat ich das anstelle der Tiere! Aber meine Kraft reichte nicht, ich konnte den Karren allein nicht halten, so dass er sich selbständig machte, den Hang hinunterrollte und an einem Gebüsch umkippte. Die Ochsen lachten – du, kleines Mädchen, versuchst dich mit uns zu messen! Wir luden das Heu wieder auf, spannten die Ochsen an und fuhren nach Hause. Als ich die Tiere wegbrachte, knurrte der Nachtwächter, warum es so spät geworden sei, es wäre draußen doch schon stockdunkle Nacht.

Die Nächte setzten in Sibirien immer urplötzlich ein. Die Gegend, in der wir lebten, war umgeben von Bergen und Schluchten. Wald gab es dort nicht, doch die Natur bestand aus einem einzigen großen Blumenbeet. Blau-rosa-weiße Iris und die Schluchten voller Päonien!“ Setz‘ dich nieder und genieße diese sibirische, nicht von Menschenhand gemachte Schönheit! In unserem nördlichen Lande wachsen auch eine Menge schöner Blumen, aber um sie muss man sich kümmern, sie pflegen.

Der Fluss war die einzige Stelle, an der wir Wasser holten. Hinter dem Fluss gab es kleinere Dickichte aus Weidengestrüpp, von wo wir im Winter, wenn der Fluss zugefroren war, trockene Zweige zum Heizen nach Hause brachten. Im Sommer besorgten wir als Brennstoff Kuhfladen; die trockneten wir, und dann brannten sie ziemlich gut. Später bekamen wir Steinkohle, sie brannte im Herd ganz vortrefflich und gab eine Menge Wärme ab. Es ist herrlich, wenn man sich im warmen Zimmer aufhalten kann, besonders wenn draußen grimmigster Frost herrscht! Es gab viel Schnee, was den Kindern große Freude bereitete; sie rutschten die großen Hänge hinab, manche besaßen dafür ein Brett, manche rutschten so auf dem Hosenboden hinunter. Aber überall war das fröhliche Geschrei der Kinder zu hören.

So gingen die Jahre dahin. In der letzten Zeit vor meiner Abreise war ich noch an allen möglichen Arbeitsplätzen tätig, unter anderem auch auf dem Bau. Die Nostalgie zur Heimat hat mich nie verlassen, und keine einzige Minute war für mich die Hoffnung erloschen, wieder nach Hause zurück zu kehren.


Estnische Frauen-Brigade auf dem Dach eines von ihnen gebauten Hauses.
Rechts im weißen Kleid Nelli Lagle

Zurück nach Hause!

Im Dezember 1956 kam der Tag, an dem sie uns erlaubten nach Hause, nach Estland, zurückzufahren! Um Pässe zu bekommen, mussten wir vierzig Kilometer weit in die Bezirkshauptstadt fahren. Ich ging auf der Straße, die aus Uschur hinausführt, um mit einem zufällig vorbeikommenden Fahrzeug bis nach Balachta mitzufahren. Ich hatte Glück, denn schon bald kam ein Auto angefahren. In Balachta erhielt ich drei Pässe – meinen eigenen, den für Mama und für Schwester Salme; Bruder Tynu war noch nicht volljährig; er benötigte keinen Pass. Mein Herz frohlockte. Wieder ging ich zur Straße, um dort auf ein Fahrzeug zu warten, das in dieselbe Richtung fahren würde. Es begann bereits zu dunkeln und ein Schneesturm setzte ein, als mir endlich das Glück hold war. Auf dem Weg gab es überall Schneeverwehungen, ich hatte schreckliche Angst, dass wir uns festfahren oder vom Weg abkommen würden. Ich betete während der gesamten Fahrt, und der himmlische Vater muss meine Bitten wohl gehört haben. Wohlbehalten gelangten wir bis zum Abbieger zur Getreide-Sowchose. Von dort ging ich mühsam, bis zu en Knien im Schnee, in der Dunkelheit nach Hause, immer in Richtung auf die Lichter. Es war kalt und furchterregend, aber die Seele frohlockte vor lauter Glück! Zur Arbeit ging ich danach nicht mehr. Wir begannen mit den Vorbereitungen für unsere Abreise. Sie fand Ende Januar statt. Bis zur Eisenbahn-Station Uschur gelangten wir auf einem Getreidelaster. Wir saßen mit unseren Habseligkeiten im Wagenkasten; es war schrecklich kalt, so dass die Beine vom Frost abstarben. Als wir in Uschur eintrafen, wollten sie sich einfach nicht bewegen, und ich fiel in eine Schneewehe. Sie mussten massiert werden, damit wieder Gefühl hineinkam und ich aufstehen konnte. Damals verabschiedeten wir uns von Sibirien und – einsteigen! Der Waggon war voller Menschen, es gab keine Sitzplätze, wir mussten während der Fahrt stehen. Nachdem der Zug in irgendeiner großen Stadt gehalten hatte, gelang es uns ein paar Sitzplätze zu ergattern. In Moskau stiegen wir in den Zug nach Leningrad um, von dort – in einen Zug nach Tallinn. In Tallinn brach ich auf dem Bahnsteig vor lauter Glück in Tränen aus. Unsere älteste Schwester Evi holte uns vom Bahnhof ab.

In Tallinn hatte ich keine besonderen Sorgen. Ich fand Arbeit in der Fabrik „Kommunar“, wo ich viele Jahre tätig war, und von der Fabrik bekam ich auch eine Zimmerchen gestellt. Später machte ich eine Ausbildung zur Fahrerin für Oberleitungsbusse und arbeitete anschließend zwanzig Jahre im Busdepot als Ober-Streckenfahrdienstleiter.

In Gefangenschaft

Die sibirische Nacht ist sternenklar.
Der Winter, das Winterchen ist grimmig kalt,
Der schwarze Boden fruchtbar. Die Schluchten sind voller Blumen,
Die Menschen hier sind gut und glücklich.

Im Frühjahr rieselt das Wasser,
Der Sommer ist warm, die Sonne glühend heiß,
Bunte Wiesen überall,
Und der Herbst – traurig, kalt!

Schnee bedeckt den Boden,
Der Alltag verbirgt die Blumen,
Aber alles, was schön ist –
Bleibt hier für immer schön.

Übersetzung (Estnisch-Russisch)
Asta Tikerpjae (Jenok)
Tallinn, Oktober 2013

Ihre Erinnerungen schrieb Nelli Lagle auf Bitten des Estnischen National-Museums.


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