Unser Dorf Lichowo, Nowo-Wodolaschsker Kreis, Region Charkow, existiert scheinbar seit der Zeit der polnischen Gutsbesitzer, denn es gibt dort viele polnische Familiennamen. Zum Beispiel taucht der Nachname German (Herman) sehr häufig auf, und jenen Teil des Dorfes, in dem die Germans wohnten, nannten wir Germaniwka. Viele trugen den Familiennamen Onazkij (meine Mutter war eine geborene Onazkaja), und der Teil hieß dementsprechend Onazkiwka. Ungeachtet der Bezeichnung „Lichowo“ („unheilvoll, böse“) lag das Dorf ganz im Grünen und an einer Schlucht. Um das Dorf herum gab es ein paar kleinere Waldstücke von jeweils etwa 2-3 Hektar Größe: Eiche, Ahorn, wilde Funduk-Haselnuß, Obstbäume (Wildapfel und Wildbirne), Schlehen und Hagebutten. Im Wald wuchsen Pilze und Erdbee-ren. Außer dem Wald gab es auch Gärten. Danach wurden sie zu Kolchoseigentum, und dort rannten wir hin und klauten Äpfel. Die Wäldchen und Gärten, die früher einen privaten Besitzer gehabt hatten, gingen ebenfalls in den Besitz der Kolchose über (aufgrund meines damaligen Alters weiß ich nicht, wie das genau vor sich ging). Die Kolchose holzte den Wald für ihren Bedarf ab, mit der Zeit rodete man alles aus, und jetzt befinden sich dort Äcker. Die Ländereien und Gebäude der ehemaligen Hausbesitzer, die entkulakisiert worden waren, wurden an die Kolchose übertragen. Der Hof der Zwangsenteigneten – ein einfaches Haus mit drei großen Zimmern, nebenan ein Pferdestall und ein Speicher. Früher hieß der Hausherr mal Prochor, mal Prochorow – und wie nannten wir dann den Wald? – den Prochowsker. Und ebenso die Bauernhöfe: Prochoriwsker, Prodajduschiwsker, Gubariwsker.
Als die Deutschen (im Krieg) dort gewesen waren, da erschien auf einem der Gehöfte irgend-ein Verwandter von einem entkulakisierten Hausbesitzer, wohl der Sohn. Aber dort gab es schon nichts Interessantes mehr: auf dem Hof stehen Pflüge und Eggen herum, das Haus macht einen verkommenen Eindruck, mit abgeschlagenen Ecken, die Farbe ist von den Speichern abgeblättert, der Pferdestall abgerissen – und so verschwand er wieder, um so mehr, als die Front in Bewegung war.
Mir fiel ein Zeitungsartikel mit der Überschrift „Operation – Hunger“ in die Hände. Ich las ihn und unfreiwillig flossen Tränen. Ich erinnere dieses Jahr 1933. An was eigentlich kann ein 6-7 Jahre altes Kind sich erinnern? Eines ist im Gedächtnis haften geblieben: ich wollte so gern essen, immerzu wollte ich essen, aber im Haus gab es nichts Eßbares, kein einziges Gramm.
In der Famile waren 6 Kinder: Anna, die Älteste (1912 geboren), war bereits verheiratet, befand sich aber aus irgendeinem Grunde häufig bei uns zuhause; dann Lisa (geb. 1914), Vera (geb. 1919), Milja (geb. 1921), Tolja (geb. 1922) und ich, Olga (geb. 1927). Unsere Mutter, Alexandra Nikitowna Zwirkun, war Analphabetin und Bäuerin.Vater, Nikifor Jewgenjewitsch Zwirkun, hatte in der Vergangenheit das Vaterland verteidigt – er hatte zwei Kreuze auf der Brust (Tapferkeitsabzeichen), er, war Fähnrich in der Zarenarmee gewesen, aber das war überhaupt nichts Außergewöhnliches. Dieser Titel war es auch, der zum Kummer der ganzen Familie wurde: der Vater selbst war gezwungen, sich zu verstecken, sonst wäre er erschossen worden, denn andauernd kamen aus demKreis irgendwelche Leute angefahren, die in Erfah-rung bringen wollten, wo er denn sei. Und das schreibt in einem Brief, daran erinnere ich mich, meine Schwester Vera, die in der Stadt Charkow lebte. „1914, während des Krieges gegen die Deutschen, war Väterchen auch im Krieg ... damals war das so ein ganz übler Krieg, heute kämpft ein Soldat bei den Roten und eine Woche später bei den Weißen... Als der Krieg zuende war, kam er nach Hause und wohnte dort zusammen mit seiner Familie. Seine Eltern bauten ihm ein Haus, die Eltern mütterlicher- und väterlicherseits halfen. Väterchens Eltern lebten in ärmlichen Verhältnissen, aber Mutters Eltern waren reiche Leute. Im Sommer befaßten sie sich mit der Landwirtschaft und im Winter nähten sie für andere Leute Stiefel, er war ein guter Schuhmacher, ganz Lichowa kam, um sich von ihm Stiefel anfertigen zu lassen. Nun, ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wie alt Du damals warst, 2 oder 3 Jahre, als Väterchen uns verließ. Vater wußte, daß diejenigen, die 1914 im Krieg gewesen waren, nun verhaftet wurden und ins Gefängnis kamen. Also ging er eines Nachts, im Jahre 1930, fort; Mama begleitete ihn zur Bahnstation in Nowoselowka, dort waren keine Leute aus Lichowo und niemand kannte ihn. Gerade ... hatte man begonnen die Menschen zu entkulakisieren; man nahm uns die Kuh fort und das gesamte Getreide brachten sie in einen Speicher. An all das kann ich mich erinnern. Sie schreien Mama an: „Dein Mann ist Fähnrich gewesen, er hat sowohl für die Roten als auch für die Deutschen gekämpft“. Ich sage doch, es war ein ganz übler Krieg. Irgendwie kam Väterchen eines Nachts nach Hause, um zu erfahren, wie es seiner Familie hier ging; er schlief eine Nacht zuhause und ging in der darauffolgenden wieder fort. Mama begleitete ihn zur Bahnstation, um sicher zu seien, daß sie ihn nicht verhafteten. Dann fuhr er nach Kirgisien, Briefe schrieb er uns nicht, nur einmal im Jahr hat er auf den Namen von Onkelchen Grizka geschrieben, ebenso schickte er auf diese Weise zwei Päckchen für uns, aber der Onkel hat sie uns nicht gegeben.
Im Winter 1932/1933 unterstützte uns Vaters Bruder Wladimir. Er war 30 Jahre alt, ledig, irgendwie ein armer Krüppel; er fuhr durch die Städte, bat um eine milde Gabe und brachte in den Taschen ein paar Stückchen Brot oder Zwieback heim. Irgendwo lauerte ihm offenbar das Unheil auf: er ging fort und verschwand, und wir fanden uns am Rande eines Abgrunds, denn zu essen gab es absolut nichts und alle waren ganz abgemagert. Mit einem Reibeisen wurde das Herzstück von einem Maisstrunk zerrieben. Besonders nach dem Aushülsen der Mais-kolben heizten wir mit diesen Strünken den Ofen. Aber weil sie uns diese Maiskolben wegge-nommen hatten, waren nur die Strünke übriggeblieben, die wir nun zerrieben und dann kochten. Aber das ist wie Holzmehl: wie sehr du das auch kochst, es bleibt doch Holzmehl. Wir kochten und aßen das – natürlich. Danach bekamen wir Verstopfung. Der Magen wei-gerte sich eine solche Nahrung zu verdauern. Der Bruder wäre beinahe gestorben, sein Bauch war ganz aufgebläht, das Kind krümmte sich vor Schmerzen. Mama ging zum Schuldirektor (er war unserer Familie gegenüber sehr wohlwollend gesinnt), erzählt von ihrem Elend, und seine Frau (ebenfalls Lehrerin) gab ihr einen halben Liter Milch und ein Stückchen Butter mit Brot. Das Jungchen wurde gerettet; er war der einzige Junge bei uns, und dann waren da noch wir 5 Schwestern.
Es wurde Frühling, und wir fingen an, den Gemüsegarten umzugraben. Und beim Graben fand ich im Boden eine Kartoffel aus dem vergangenen Jahr, richtiger gesagt war das schon gar keine Kartoffel mehr, sondern ein dünner Brei aus dunkel gewordener Stärke in einer „Pelle“. Wer so etwas fand, säuberte es und – steckte es sofort in den Mund. Brennesseln und Kräuter begannen aus der Erde zu wachsen. Um das Dorf herum lagen noch ein paar kleine Wäldchen (in den 60-er Jahren wurden sie ausgerodet), und in solchen Wäldchen wuchs die wilde Funduk-Haselnuß. Im Frühjahr blüht sie und bildet Kätzchen – wie bei den Pappeln. Diese Kätzchen wurden gepflückt, getrocknet, zerdrückt, zerrieben, zusammen mit Kräutern gekocht und dann gegessen. Außer Essen kam uns nichts anderes in den Sinn, wir wollten doch wenigstens ein Stückchen Brot essen, auch wenn es nur ganz klein war. Und da ent-schied Mutter sich, ihr Glück zu versuchen – mit den Kindern in die Stadt Charkow zu gehen und ein Stück Brot zu erbetteln. Es ist schwer sich vorzustellen, wie sie sich das gedacht hatte, denn sie war noch in der Stadt gewesen. Ich erinnere noch, daß sie Vera, Milja und Tolja mit-nahm. Schwester Anna und ich blieben zuhause. Und wir bekamen eine Rübe in die Hand, die wir einfach so essen konnten. Aber damit es ein bißchen mehr wurde, mußte man irgendetwas hinzugeben. Anna pflückte irgendwelche Kräuter und entschloß sich, eine Suppe zu kochen. Sie kochte sie, wir aßen und in den Ohren begann es zu rauschen und zu schmerzen. Das war überhaupt nicht lustig. Aber Hoffnung umfing uns: am Abend kommt Mama mit den Kindern zurück und bringt etwas mit.
Aber Mama widerfuhr noch ein anderes Unglück: sie hatte gedacht, daß die Stadt so ähnlich wie das Dorf war, und als sie aus dem Bahnhof herauskam, verlor sie sofort Vera und Tolja in der Menge (Milja hatte sie an der Hand). Die arme Frau vergaß alles um sich herum, rannte auf den Plätzen hin und her und fragte alle Leute, ob sie nicht ein Mädchen mit einem Jungen gesehen hätten. Sie lief auf irgendeine Straße hinaus und – oh, Himmel! – da kamen ihr auf eben dieser Straße ihre Kinder entgegen gelaufen. Sie packte sie und – sofort ab zum Bahnhof und nach Hause, ohne ein einziges Stückchen Brot. Manche Leute brachten ihre Kinder fort in die Stadt und setzten sie dort aus oder gaben sie im Waisenhaus ab. Mama aber sagte: ich bringe sie nirgends hin und gebe sie bei niemandem ab.
Irgendwie blieben wir am Leben, wenngleich wir weiterhin ständig Not litten. Mama war Kolchosarbeiterin, Lisa, die Schwester, arbeitete ebenfalls in der Kolchose, wo man Arbeits-einheiten anschrieb. Und zuhause vier schulpflichtige Kinder. Bei uns im Haus gab es zwei Zimmer. In dem einen saßen wir alle zusammengepfercht, und in dem anderen, so erinnere ich mich, lebten immer irgendwelche Mieter: mal wohnten dort die Kreis-Bevollmächtigten, mal der Vorsitzende des Dorf-Sowjets mit seiner Familie. Anscheinend war das eine Strafe, denn noch mehr kränken und einengen konnte man uns schon gar nicht mehr. Aber ich will von etwas anderem erzählen. Als dort die Bevollmächtigten wohnten, da erhielten sie von der Kolchose eine Essensration und Mama kochte für sie das Mittagessen und, natürlich, gelang-ten vom herrschaftlichen Tisch auch ein paar Krümel an die Kinder.
Ich weiß noch, wie sie einmal Buchweizensuppe kochte. Die Reste der Suppe fielen an mich. Oh, wie schmeckte diese Suppe gut! Später, als ich bereits selber Hausfrau war, versuchte ich, eine solche Suppe zuzubereiten. Eine kräftige Bouillon mit Fettaugen, aber mit was ich sie auch verfeinerte – sie wurde nicht so, wie die von damals. Und jene Suppe habe ich mein Lebtag nicht vergessen.
So gelang es uns auch nicht, uns eine richtige Wirtschaft anzuschaffen, außer ein paar Hühnern, Viel später, 1938 oder 1939, kaufte Mama ein Zicklein, und dann züchteten wir Ziegen, es waren drei Ziegen.
In der Schule wurden uns ständig Vorwürfe wegen unseres Vaters gemacht. Mit dem Komsomol gab es Meinungsverschiedenheiten: die älteren akzeptierten es nicht, daß so jemand Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes war, sie hänselten ihn mit dem Wort „prapor“ („Zarenfähnrich“). Für mich war das ein kränkendes und widerliches Wort, obwohl das Wort „prapor“ in der Übersetzung aus dem Ukrainischen eigentlich „Fahne“ bedeutet. Aber damals war mir das noch nicht bekannt.
Nach Beendigung der 7-Klassen-Schule begannen die älteren Schwestern Vera und Milja eine Ausbildung an der Schule für Arzthelferinnen und Hebammen (in der Kreisstadt), und Tolja ging später ans polytechnische Institut in Charkow, von wo aus man ihn direkt zur Armee holte. Lisa verließ die Kolchose und nahm zuerst eine Arbeit in der Seilfabrik in Charkow auf, später in einer Bäckerei. Außer den moralischen Kränkungen drückte das Elend – es gab nirgends Hoffnung. Da ich die jüngste war, lief ich ständig in dem zerfetzten Schuhwerk der älteren herum, wofür man Mama nicht nur einmal in die Schule kommen ließ. Aber ich lernte sehr gut, und dafür wurde ich mit dem Begriff „Streberin“ aufgezogen. Als der Bruder in die Armee einberufen wurde, bekam ich seine Mütze mit den Ohrenklappen und so einen altertümlichen Bauernroch für den Winter vermacht.
Ich greife schon einmal vorweg und erzähle, daß der Vater an der Wolga „landete“, bei Sysran, wo er als Agronom arbeitete. Er hatte eine andere Familie, obwohl er mit der Frau keine Kinder hatte. Seitdem haben wir uns nie wieder gesehen. Er starb 1971.
Vor dem Krieg beendete ich die 6. Klasse. Schwester Milja und Bruder Tolja gerieten zum Feldheer und kämpften den ganzen Krieg über. Milja gelangte bis in die Tschechoslowakei und lebt jetzt in Lwow. Und unser Jungchen war Panzersoldat, er geriet bis nach Königsberg und kam im Februar 1945 im Alter von 23 Jahren ums Leben. Es war ein schreckliches Leid, was unsere Familie da ereilte. Und was für eine gute Seele war dieses Bürschlein gewesen! Ich weiß noch, als er vor dem Krieg in Charkow am Technikum lernte, kam er an den freien Tagen immer ins Dorf. Wir beide waren sehr gute Freunde. Er versuchte immer, mir irgend etwas mitzubringen oder zu erzählen; vor allem erzählte er den Inhalt von Filmen nach, die er gesehen hatte. Einmal knüpfte er ein Gespräch über Eiscreme an, wie gut das schmecken würde und was das überhaupt war. Und er sagte: ich bringe dir was mit (aber mit dem Zug muß man von der Stadt aus 50 km fahren, und dann sind es noch von der Bahnstation bis ins Dorf 5 km zufuß). Du mußt zum Zug kommen, sagte er, sonst schaffe ich es nicht bis nach Hause – es schmilzt. Und so eilte ich also zum Zug, er stürzte heraus und reichte mir – die versprochene Eiscreme, aber in dem Papier lief nur ein milchig-dünner Brei. Aber darum ging es gar nicht, sondern um die Tatsache, daß er etwas mitgebracht hatte. Immer, wenn ich an den Bruder denke, muß ich weinen. Später, als meine Kinder (ich habe zwei Söhne) bereits über 20 waren, studierten sie an Instituten; einmal schaute ich zu ihnen ins Zimmer hinein – sie schliefen, meine beiden Studenten. Ich sah sie an und dachte: „Mein Gott, das sind die Jungen von den Jungen, und mein Brüderchen so ähnlich, und solche Bürschchen und Jung-chen haben über das Schicksal der Heimat entschieden.
Ein lichter Feierfag nähert sich – der Tag des Sieges. Der 9. Mai – ein heiliger Tag. Die Enkel kommen, um den Großvater (mein Mann, Kriegsveteran) zu beglückwünschen, und Enkel Kirill, Erstklässler, quält mich stets: erzähl doch vom Krieg. Ich hatte doch zwei Jahre unter Okkupation gestanden und war damals 13-15 Jahre alt.
Unser Dorf Lichowo stand und steht seitlich der Autotrasse Moskau-Simferopol. Jetzt ist das eine wunderbar asphaltierte Straße, die nach dem Kriege von kriegsgefangenen Deutschen gebaut wurde, zu beiden Seiten mit Akazien, Ahorn oder Obstbäumen bepflanzt. Die deutschen Kriegsgefangenen hungerten, gingen durch die umliegenden Dörfer und bettelten um Almosen. Einige Leute gaben auch etwas, aber die meisten, die durch den Krieg Tote zu beklagen hatten, jagten sie mit Stöcken fort. Vor dem Krieg besaß die Autotrasse keinen Belag aus Asphalt und war deshalb natürlich in nicht so gutem Zustand. Auf dieser Straße bewegten sich 1941 die faschistischen Truppen der Deutschen in Richtung Osten. Auf dem Weg dorthin kamen sie auch durch unser Dorf.
Der ganze Ort geriet in Aufruhr. Zwei Wochen zuvor war von einer Sonderbrigade das gesamte Kolchos-Vieh nach Osten gejagt worden, die Vorsitzenden des Kolchos und des Dorfsowjets waren fortgefahren. Es herrschten Anarchie und Besorgnis; Gespräche wurden darüber geführt, daß die Deutschen durch unser Land marschierten und bald hier sein würden.
An einem solcher Tage waren Schüsse zu hören. In der Ferne breitete sich Rauch aus: 8 km weiter brannte ein Getreidespeicher. Unsere Armee wich durch das Dorf zurück. Das waren narürlich keine Einheiten, sondern kleinste Truppenteile – jeweils drei oder vier von unseren Soldaten liefen vereinzelt vorbei, mit leichtem Gepäck und Gewehren in den Händen. Es ist nicht bekannt, ob es ihnen, diesen Unglückseligen, gelang sich zu verbergen, denn bald hörte man auf dem Platz am Anfang der Straße ein dumpfes Dröhnen, und dann zeigten sich moto-risierte Faschisten-Einheiten. Wir, Jung und Alt, versteckten uns hinter den Zäunen und Flechtzäunen und beobachteten mit Schrecken und Interesse die Motorräder und Schützen-panzerwagen, die sich durch unsere Straße bewegten. Auf ihnen saßen junge, selbstgefällige Burschen in schwarzen Uniformen, als wenn sie aufgrund ihres großen Wuches ausgesucht worden waren, keck, mit schief aufgesetzten Fliegermützen, die mit einem Hakenkreuz ver-sehen waren, und umgürtet mit allen möglichen Ausrüstungsgegenständen – Maschinen-istolen, Feldstechern und anderem.
Diese unbekannte Gewalt legte sich mit einer schrecklichen Schwere auf die Menschen, und von den alten Leuten waren Seufzer und solche Worte zu hören: „Nun, das war’s dann wohl –wir werden die Unseren niemals wiedersehen“. Die kleinen Kinder behielten das alles auf ihre Weise im Gedächtnis.
Die Deutschen fuhren ohne Unterlaß – ihnen wurde keinerlei Widerstand entgegengesetzt. Und scheinbar hatten sie den Auftrag erhalten – „vorwärts!“ Hinter den vorderen Truppen-teilen zogen sich Wagenzüge hin. In die Fuhrwerke waren ziemlich dicke, kurzbeinige Pferde eingespannt, die aus irgendeinem Grunde rumänische genannt wurden (wahrscheinlich waren sie auch aus Rumänien), und von Madjaren gelenkt wurden (das sind ja jene Rumänen). Die Wagenkolonnen waren vermutlich beladen mit Verpflegung, Patronen und Projektilen. Offenbar gab es in den Trecks auch Deutsche, denn als so ein Wagenzug einmal in unserem Dorf haltmachte, da ließen sich nämlich Deutsche in unserem Hof nieder, obwohl es nicht jene waren, die wir in den ersten Tagen auf den Motorrädern gesehen hatten: dies hier waren irgendwie einfache Soldaten von mittlerem Wuchs. Im Gedächtnis haften geblieben ist auch, wie der Hund, der neben der Scheune angebunden waren, anfing zu bellen, als zwei oder drei Gespanne in unseren Hof gefahren kamen. Ein der Deutschen schoß auf diesen Hund. Ich stand neben dem Haus – und fing bitterlich an zu weinen. Ein anderer Deutscher fiel (mit Worten) über den her, der den Schuß abgegeben hatte. Wir erklärten uns das so, daß er den Schützen ausschimpfte. Aber mein treuer Hund Top war tot.
Sobald die Deutschen aus dem Dorf abgezogen waren, hörte man aus allen Ecken das Quieken von Ferkeln und das Gackern von Hühnern. Und dann kamen die Deutschen häufig und in großer Zahl von der Trasse in den Ort gelaufen und schrien auf den Höfen herum:
„Mütterchen, - Milch, Eier, Butter!“ Und sie nahmen alles mit, was ihnen unter die Augen kam.
Wir besaßen einen Hahn und ein paar Hennen. Ich beschützte sie alle. Im Sommer liefen sie irgendwo im Gemüsegarten herum, im Grünen – aber wo sollten sie im Winter hin? Die Wintermonate waren kalt, bis minus 40°, und die Schneewehen reichten fast bis zum Dach.
Und wir paßten uns an. Wir wohnten in der Mitte der Straße. In die Schneewehen hinein baute ich ein paar tiefe Tunnel. Und sobald im Dorfe die Deutschen auftauchten (und das konnte man immer am Bellen der Hunde, dem Gackern der Hühner und dem Quieken der Ferkel hören), steckte ich meine Hühner in eine Sack, versteckte diesen in dem Tunnel und schüttete dann den Eingang mit Schnee zu. Und wenn die Deutschen wieder weggefahren waren, dann schüttelte ich meine Hühner-Gesellschaft wieder aus dem Sack heraus. Das war meine Pflicht, sie nahm mich ganz in Anspruch, und ich triumphierte jedes Mal auf kindliche Weise, wenn ich als Sieger hervorgegangen war.
In unserem Dorf waren keine deutschen Truppen stationiert. Die Macht übte dort ein Polizist aus (nach der Befreiung schickte man ihn ins Strafbataillon; er kehrte verwundet zurück).
Die Stadt Charkow ging mehrmals von einer Hand in die andere über, aber die Frontlinie auf unserer Seite war mehr oder weniger beweglich, die Erde unter den Füßen brannte nicht; von irgendeiner Seite hörte man dumpfes Getöse, ununterbrochenes Gepolter, Detonationen, und man sah Brandherde. Einmal warf ein Flugzeug Bomben auf das Dorf. Und sieh mal einer an! Von insgesamt fünf Bomben fiel eine genau auf das Haus meiner ältesten Schwester. Im Haus befanden sich vier Kinder: drei eigene und eins aus der Nachbarschaft, etwa 6 Jahre alt und das älteste von allen. Zuerst riß die Druckwelle das Dach vom Haus. Die Kinder erinnerten sich: „Wir haben im Zimmer gespielt, sehen nach oben – dort ist nur Himmel...“. Und dann wurden sie durch die Wucht der Explosion aus dem Zimmer geschleudert, von dem lediglich zwei Wände stehen blieben, welche eine Ecke bildeten, in die es das eineinhalbjährige Mäd-chen fortriß und mit Erde verschüttete. Die anderen schleuderte es nach draußen. Das Nach-barkind blieb sein Leben lang ein Krüppel. Der Junge erkältete sich (es war April) und starb 1944 an einer eitrigen Rippenfellentzündung, und bei den beiden jüngeren blieben von den Wunden Narben und ein Schädeltrauma zurück.
Die Autotrasse, die an unserem Dorf vorbeiführte, mußte ständig gesäubert werden: im Sommer beschädigten alle möglichen technischen Geräte, die darauf bewegt wurden, die Fahrbahn bis auf den Untergrund, und im Winter – Schneewehen. Die Deutschen sammelten aus den Dörfern alles ein, was irgendwie zum Reinigen der Straßen geeignet schien, teilten die Leute in Brigaden ein; technische Mittel gab es überhaupt nicht – Spaten, Harken, Brech-stangen und die bloßen Hände. Gearbeitet wurde unentgeltlich. In einer der Brigaden arbeitete meine Schwester Vera. Anfangs wurden die Arbeiten von Deutschen beaufsichtigt, später dann mal von Tschechen, mal von Polen.
Zu der Zeit, als dort noch deutsche Aufseher waren, geschah einmal ein trauriger Unglücks-fall.
In einer der Brigaden arbeitete meine Kusine Dusja. Sie war 1924 oder 1925 geboren. Vor dem Krieg hatte sie die 7-Klassen-Schule beendet und besuchte dann irgendein Technikum, was sie jedoch nicht abschloß – der Krieg begann. Sie wohnten am Rande des Dorfes: die Mutter, die Schwester der Mutter, Dusja und ihre jüngeren Geschwister. Der Vater war an der Front. Dusja hatte anscheinend in der Schule, und später auch am Technikum, Deutsch gelernt. Und da, als sie beim Schneeräumen waren, hat sie es gewagt, dem Deutschen irgendetwas in seiner Muttersprache zu antworten. Der Deutsche wollte sich wohl irgendwie an sie heranmachen und fragte, wo sie wohnte und sagte, daß er abends kommen würde, daß er eine Frau benötigte, die in der Küche das Essen bereitet. Und diese Deutschen hatten sich unweit unseres Hauses, schräg gegenüber, niedergelassen; die Hausherren hatten sie fortgejagt. Aus der Unterredung hatte sie scheinbar verstanden, daß ihr Unheil drohte. Am Abend ging sie nach Hause, steckte in die Brusttasche eine Fotografie und sagte den Ver-wandten, daß diese sie heute zum letzten Mal sehen würden.
Die ganze Familie saß zuhause zusammen, kaute Sonnenblumenkerne. Plötzlich ein Klopfen – zwei Deutsche waren gekommen. Sie sagten: "Eßt ihr da russische Schokolade? (Und damit meinten sie die Sonnenblumenkerne). Und an Dusja wandten sie sich mit den Worten: zieh dich an –wir gehen. Jeglicher Widerstand war zwecklos. Die Tante wollte mit ihr gehen – sie untersagten es. Sie brachten sie zu dem Haus, das sie eingenommen hatten. Was dort vorfiel, ist nicht klar, aber es gelang ihr zu fliehen. Aber wohin? Der einzige Weg war mit Schnee-wehen zugeweht – auf der Straße konnte man nirgendwohin abbiegen, außer zu den Häusern. Sie kam in unseren Hof gerannt; wir waren schon mit unserer Arbeit fertig geworden und hatten uns schlafen gelegt – es muß so ungefähr 10 oder 11 Uhr gewesen sein; zur Beleuch-tung brannte eine Petroleumfunzel. Vera und ich schliefen auf dem Boden auf Stroh, Mama – auf dem Ofen, und auf dem Bett, quer – die älteste Schwester mit den verletzten Kindern. Wir hatten uns gerade hingelegt, da klopfte es an der Tür. Schwester Anna öffnete – da stand Dusja und sogleich dahinter näherte sich ein Deutscher, d.h. ihr war es noch nicht einmal gelungen, sich zu verstecken. Sie kamen herein, es war dunkel; was bringt ein Talglicht auch schon für eine Helligkeit. Aufgeregt besprachen sie etwas miteinander. Dann fragte der Deutsche: gibt es hier eine Frau von ungefähr 20 Jahren, die in der Küche arbeitet? Wir sagten ihm, daß dies nicht der Fall sei, aber auf dem Fußboden liegt doch Vera neben mir, sie ist 22 Jahre alt, aber es ist ja dunkel; man kann es nicht sehen, und Dusja verriet es nicht, sagte nichts, obwohl sie wußte, daß Vera hier war. Sie gingen hinaus und unterhielten sich lange Zeit auf dem Erdwall, der das Haus umgab, und wie ich schon sagte – waren sie sehr aufgeregt. Scheinbar hatte er sie gerufen, aber sie hatte sich widersetzt. Es wurde still. Und am Morgen ging eine schreckliche Nachricht durchs Dorf: Dusja war umgebracht worden.
Es war ihr offenbar gelungen, ein zweites Mal zu fliehen und zwar noch etwas weiter die Straße hinauf, als wir wohnten, wo sie zu irgendeinem Haus rannte. Dort ließ man sie herein. Sie sagte, daß sie schrecklich frieren würde, und so bot man ihr an, auf die Ofenbank zu klettern. Dort befand sich schon ein Haufen Kinderchen, und sie kroch zu ihnen. Sie wurde von den Deutschen aufgegriffen, die bereits nach ihr gesucht hatten. Sie klopften an unsere Tür: ob hier niemand reingekommen sei? Und so klopften sie an jede Haustür, bis sie zu dem Haus kamen, wo das Mädchen Unterschlupf gefunden hatte. Sie zwangen sie, vom Ofen hinunterzuklettern, sich anzuziehen – und brachten sie fort. Wir es tatsächlich war, ist niemandem bekannt. Lediglich gegenüber dem Haus, wo die Deutschen sich niedergelassen hatten, befand sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein eingezäunter Vorgarten, und dort fand man die Ermordete. Im Hinterkopf steckte eine Kugel, und vorher hatte man ihr offensichtlich ein Messer in die Brust gestoßen, denn die Fotografie, die sie an der Brust verborgen hatte, war beschädigt. Um die Leiche herum war der Schnee geschmolzen, wahrscheinlich hatten sie sie gepeinigt. Ihre Mutter und Tante kamen mit einem Schlitten herbei, hoben sie auf und brachten sie fort, um sie zu begraben.
Und in diesem Zeitraum, als wir die älteste Schwester mit den verletzten Kindern zu uns holten, eilten die Eroberer erneut Richtung Osten, genauer gesagt mit Windeseile. Nach allem zu urteilen, waren es die vordersten Frontlinien: irgendeine Gruppe machte einen Abstecher in unser Dorf. In unserem Haus war von zwei Zimmern eines unbewohnt, denn in unserem Waldsteppen-Gebiet gab es kein Heizmaterial. Und da ließ sich in so einem kalten Zimmer, dessen Fenster zur Straße hinaus zeigten, ein Fritz von imposanter Größe nieder. Er zwang uns, die Fensterläden zu öffnen, schlug die Rahmen von den Fenstern, stellte sein leichtes Maschinengewehr auf dem Fensterbrett ab, nahm seinen Ledermantel und hing in bei der Tür an einen Haken. Noch während er eintrat geriet ich ihm unter die Augen (ich war 13 Jahre alt) und, nachdem es sich im Zimmer niedergelassen hatte, rief er: „Frauchen! Frauchen!“ Ich ging hinein. Er saß am Tisch und bat mich irgendein Stück Papier aus seiner Manteltasche zu ziehen und ihm zu geben. Er sprach Deutsch, und ich verstand das Wort „Papier“, das auf Deutsch und Ukrainisch „bumaga“ (Papier) bedeutet. Ich hatte das verstanden, nahm das Papier aus der Tasche und brachte es ihm. Dann nahm er ein Wörterbuch in die Hand, zeigte auch mich und auf sich und sagte: „Ich, du – schlafen“. Ich wurde rot, in Erwartung irgend-einer schmachvollen und schrecklichen Sache. Ich dachte nicht lange nach, drehte mich schnell um und ging hinaus. Er schrie: „Frauchen, komm!“ Die Schwester sagt zu mir: „ Geh hin, sonst bringt er dich um!“ Aber ich antwortete ihr: „Geh doch selbst“. Aber er rief beharrlich weiter. Ich betrat das Zimmer und – in dem Moment tauchte meine Rettung auf: ein anderer Deutscher kam hereingelaufen und sagte ganz-ganz schnell irgendetwas. Wie sich später herausstellte, hatte sich die Einheit zum Angriff entschlossen. Der Fritz nahm sich seine „Ritter-Rüstung“ und rannte hinaus.
Aus den Erzählungen der Alten erinnere ich noch das folgende Ereignis. Die Deutschen nahmen für ihre Toten schrecklich Rache. Und da fanden die Faschisten einmal in einem Dorf, das 20 oder 25 km von unserem Ort entfernt lag, einen ermordeten Deutschen. Ein Straftrupp kam heran und brannte das ganze Dorf nieder – und alle, die dort gelebt hatten, wurden ausgerottet.
Während der Besatzungszeit herrschte in der Stadt größerer Hunger als im Dorf, wo die Leute Gemüse anbauten und in den Gärten Früchte wuchsen. Um zu überleben gingen die Stadtbe-wohner in die Dörfer und boten ihre Habseligkeiten im Tausch gegen Lebensmittel an. Wir nannten sie „Tauscher“.
Da neben unserem Dorf die Trasse verlief, kamen dort viele „Tauscher“ vorbei. Im Winter war es sehr schwierig für sie. Alles lag voll Schnee, es herrschte Frost bis minus 40°. Manche brachten Schlitten mit, andere schleppten die Sachen selbst. Die einen gingen in die Stadt – andere verließen sie gerade. Auf der Trasse waren es von uns bis zur Stadt 60 km, aber sie gingen noch weiter. Wir, die Bauern, benötigten dringend Streichhölzer, Seife, Zwirn, Nadeln, Stecknadeln, Knöpfe, usw. Wenn man nur eine einzige Kleinigkeit nahm, dann mußte man dafür auch irgendetwas erwerben. Und da kochte Mama im Winter Kompott aus getrock-neten Früchten (Äpfeln, Birnen, Pflaumen), und anstatt Zucker gab sie eine Zuckerrübe hinzu. Das heiße Kompott wickelte sie in Tücher ein (dabei half ich Mama), damit es nicht kalt wurde, stellte es auf den Schlitten und brachte es den „Tauschern“ zur Trasse. Hier boten wir ihnen die Kompottgläser zum Trinken an (legten auch noch ein paar Früchte und eine Rübe mit hinein), und dafür gaben sie uns, was sie gerade konnten.
Die von den Deutschen verkündete Mobilmachung der Jugend nach Deutschland, in die von ihnen besetzten Gebiete, betraf auch unser Dorf. Ich erinnere mich daran, daß die Nachbarin zwei Töchter hatte,, die Schwestern Polja und Maria. Beide befanden sich in Deutschland. Im Jahre 1945, als die Unseren die Faschisten zerschlugen und die Kriegsgefangenen befreiten, lief Polja zu Maria, um ihr zu sagen, daß der Sieg da sei – bald würde es nach Hause gehen!
Wie ich erfuhr, erlitt Maria vor Freude – einen Herzschlag. Sie wurde dort, in der Fremde, beerdigt.
Man erinnert sich auch noch an den letzten Rückzug der Faschisten. Irgendwo in der Ferne hörte man abends am Horizont das Krachen der Front – ein roter Schein am Kriegshimmel.
Am Morgen tauchten in unserem Dorf Motorradfahrer auf, jagten alle Bewohner aus den Häusern und bedeuteten ihnen: Marsch nach Westen! Mama beschloß, sich nicht irgendwo-hin loszureißen. Auch Schwester Vera sagte, daß sie nirgends hingehen würde. Und was soll die älteste Schwester Anna tun – mit ihren drei Kindern? Die ganze Zeit hatte ich ihr gehol-fen, mit den Kindern fertig zu werden. Damals war sie ja schon drei Jahre Witwe. Und sie war zu jener Zeit 31 Jahre alt gewesen. Ihr Mann hatte sich die Nieren erkältet, und vor dem Krieg wurde ihm eine Niere entfernt. Und wie war es zu der Erkältung gekommen? Er hatte Arbeit in der Stadt bekommen, aber die Kolchos-„Aktivisten“ wollten ihn zwingen, in der Kolchose zu arbeiten. Und einmal (ich erinnere das aus Erzählungen), als er nach Hause zurückkehrte, hatte man eine „Hetzjagd“ auf ihn organisiert. Er sprang in Unterwäsche auf die Straße hinaus und setzte sich irgendwo in eine Schneewehe, so lange, bis die Aktivisiten fortgegangen waren. Na ja! Die Deutschen verjagten uns – so lautete ihr Befehl. Wer weiß, wo sie Leute brauchten ... Und was sollen wir tun? Wo können wir Rettung finden? Wir denken: wenn hier nun gleich ein Kampf stattfindet, wo sollen wir uns dann verstecken? Schwester Anna macht eine Schubkarre fertig, beladen mit ein paar Habseligkeiten. Zwei Kindchen werden auf die Karre gesetzt, die ich von hinten abstütze und anschiebe, und ein Kind nimmt sie an die Hand und hält mit der anderen den Griff der Karre. Und die Menschen strömten aus dem Dorf. Jene, die Kühe besessen hatten, spannten diese Kühe vor die Fuhrwerke. Und hinter dem Dorf wird bereits ein endloser Streifen von Menchen sichtbar. Vorneweg fährt ein Deutscher auf einem Motorrad, hinten ebenfalls. Sie weichen mal hierhin, mal dorthin aus, schreien herum und treiben die Menschen an. Wir schleppten uns hinter den Nachbarn her, die eine Kuh vor ihr Fuhrwerk gespannt hatten, und als sie uns sahen, erlaubten sie uns, die Schubkarre an ihr Fuhrwerk zu binden, dann würde es etwas leichter gehen. Der Menschenstrom bestand aus – Frauen, Kindern, alten Leuten.
So gingen wir bis zum Abend; 15 km legten wir zurück. Die alten Leute fingen an zu berat-schlagen: vot fahren wir in ein Dorf, da kommen wir an Gärten vorbei; und wenn die Deutschen auf ihren Motorrädern nach vorn vorbeisausten, dann sollten wir schnell in das Dickicht eines Gartens einbiegen. Und so machten wir es auch. Es war dunkel. Die Nachbarn lenkten ihre Kuh in den Garten, fuhren ein wenig tiefer hinein und hielten dann an, wobei sie sich ganz leise verhielten, bis die übrigen auf der Straße weitergefahren waren. Das Herz zersprang uns fast in der Brust! All das geschah unter Todesangst.
Als der Menschenstrom sich entfernt hatte, fuhren wir auf die Straße hinaus, die senkrecht zu der verlief, auf der die Deutschen uns fortgejagt hatten, und fuhren nun in Richtung auf eine große Schlucht. Die Örtlichkeiten waren vielen bekannt, in der Dunkelheit schleppten wir uns auf gut Glück vorwärts, um Rettung zu suchen. Wir näherten uns der Schlucht; sie war tief, aber der Abhang dorthin war sanft abfallend, etwa drei Kilometer lang. Wir schauten uns ein wenig um – und sahen, daß dort alles voller Menschen war. Sie sitzen in Häufchen zusammen, entzünden kleine Lagerfeuer, kochen irgend etwas – einige haben doch ihre Kinder dabei. Erst später analysierte ich das und dachte: na, das war aber eine Verschwörung; gut, daß die Deutschen nicht darauf gekommen sind, sonst wär was los gewesen!
Wir steigen in die Schlucht hinab. Das Gras ist grün, frisch. Hier beschlossen wir, am frühen Morgen ins Dorf zurückzukehren, aber über einen Umweg, auf einer anderen Straße. Wir kehrten um – und unser Dorf steht in Flammen. Die Strohdächer haben die Deutschen mit Fackeln angezündet. Am anderen Ende des Dorfes stehen die Häuser noch, scheinbar hatten die Faschisten nicht genügend Zeit, um hineinzugehen: nach einigen Stunden flogen über uns Geschosse vom Typ „Katjusch“ hinweg, und dann marschierten unsere Truppen ein. Wir empfingen die Soldaten mit unseren gußeisernen Töpfen, mit gekochten Kartoffeln und gesalzenen Gurken – das war für die Soldaten die beste Bewirtung. Damals gab es kein Brot, keinen Zucker, aber Kartoffeln und Gurken wuchsen ganz von allein.
Unser Haus war abgebrannt. Wie sollte es nun weitergehen? Bis jetzt hatten wir eine Scheune aus Lehmziegeln (Stroh, Lehm, Wasser) aufgebaut, aber sie hatte noch kein Dach, das war noch nicht fertig. Aber dann haben wir uns daran gemacht, es fertig zu bauen. Die Sache zog sich bis zum Herbst hin. Wir bauten die Scheune fertig und hatten ein Zimmer und einen kleinen Anbau. Und hier waren wir dann mit sieben Mann untergebracht: Mama, Anna mit drei Kindern, Vera und ich – und noch sechs Nachbarn.
Im Jahre 1943, einige Tage nach der Befreiung, trafen wir mit Bruder Tolja zusammen. Er fuhr aus dem Hospital an die Front. Er war 21 Jahre alt und kam mir mutig und großartig vor. Im allgemeinen war er ein fröhlicher junger Mann, spielte gern auf der Balalaika, verfaßte gelegentlich Gedichte und hatte in der Schule gut gelernt. Ich erinnere mich noch, wie 1940, als er zur Armee mußte und wir von ihm Abschied nahmen, ein Mittagessen bei uns stattfand, an dem auch die Nachbarn teilnahmen. Das Gespräch bei Tisch war scheinbar ziemlich betrüblich und, um die Stimmung zu entspannen, wandete er sich an die Mutter und sagte zu ihr:
„Mama! Wenn es ward kalt,
wenn verschüttet im Schnee ich lag,
dann ist das Postamt nicht weit –
einen Brief ich dorthin trag."
Alle fingen an zu lachen. Es war nämlich so, daß nebenan ein Briefträger wohnte, der auch hier bei uns mit am Tisch saß. Fest in meinem Gedächtnis haften geblieben sind: der Finni-sche Krieg, viel Schnee – und daß er so etwas sagte.
Dann, als der Bruder gefallen war, kam ein Dienstkollege von ihm bei uns angefahren und erzählte, daß Tolja ein sehr aufgeweckter, kluger Kopf gewesen sei: er manövrierte mit seinen Panzer äußerst geschickt und wußte sofort, wo er Geschosse sprengen konnte und was unverwundbar war. Er erzählte, daß im Umkreis des Panzers alles in Flammen stand, aber seine Position immer erfolgreich war. Und kaum hat er sie geändert und an seiner Stelle taucht ein anderer auf, da gerät dieser auch schon ins Schußfeld. Und so war das nicht nur einmal. Im Februar 1945, als es bis zum Sieg nicht einmal mehr zwei Monate waren, erreichte uns eine Totenbescheinigung auf den Namen der Mutter. Man teilte ihr mit, daß ihr Sohn den Heldentod gestorben war. Ungeachtet dieser Bescheinigung wartete die Mutter ihr Leben lang auf die Rückkehr des Sohnes; sie überlebte ihn um 25 Jahre.
Die wahren Namen meines Bruders und meiner Schwester, die im Großen Vaterländischen Krieg gekämpft hatten, sind nicht Anatolij und Milja, sondern Ananij und Matrena. In jungen Jahren hatten sie sich wegen ihrer veralteten Vornamen geschämt. Und so wurde aus Bruder Ananij Anatolij und aus der Schwester Milja, obwohl ihre persönlichen Papiere natürlich auf Ananij und Matrena lauteten.
Nach der zweijährigen Okkupation vertrieben die Unseren die Deutschen nach Westen. Ich kann mich nicht genau erinnern, aber in irgendeinem Nachkriegsjahr setzte eine Hungerpe-riode ein. Nicht genug damit, daß es nirgends etwas gab – es herrschten auch noch Dürre und Mißernten. Die Menschen aus unserem Dorf begannen in die West-Ukraine fortzufahren, um etwas einzutauschen. Wir wurden auch zur „Tauschern“, nur gingen wir nicht zufuß, sondern fuhren mit dem Zug, aber die fuhren selten, Passagierwaggons waren durcheinander mit Güterwagen zusammengekuppelt, und die Waggons waren buchstäblich vollgehängt mit Menschen, auch an den Seiten und auf dem Dach. Ein Mädchen aus unserem Dorf, Marfa, die etwa 24-25 Jahre alt war, fuhr auf dem Dach eines Waggons mit, schlummerte unterwegs ein und fiel zwischen die Zugwagen. Die mit ihr zusammen gefahren waren, gingen zu ihrer Mutter und erzählten ihr, was vorgefallen war. Aber nach einiger Zeit tauchte Marfa plötzlich wieder auf – völlig unversehrt. Sie war tatsächlich hinuntergefallen, aber glücklicherweise genau zwischen die Schienenstränge; sie verletzte sich zwar, blieb jedoch am Leben. Ein glücklicher Zufall.
Nach Abschluß der 7. Klasse wurde ich Studentin am Technikum in Charkow. Überall waren Ruinen. Anstatt die Lehrveranstaltungen zu besuchen, gingen wir häufig los, um die vielen Trümmer zu beseitigen. Alles mit den bloßen Händen und alles einzelne Backsteine. Der Unterricht fand in irgendeinem unversehrt geblieben dreistöckigen Gebäude statt. Im Winter war es kalt- es gab kein Heizmaterial, wir saßen dort voll angekleidet, die Tinte war gefroren. Die Toilette befand sich auf der Straße. Ich wohnte mit Schwester Vera in einer Wohnung am Rande der Stadt.
Zu all dem Elend im Lande gesellte sich noch ein weiteres – Mißernte, Hunger (1945-46). Während des Sommers war nicht ein einziger Tropfen Regen gefallen. Als ich zu Mama ins Dorf gefahren kam, zogen wir aus dem Brunnen Wasser herauf und begossen mit einem Krug
die ganzen Kartoffelstauden. Die Kolchosbauern wurden für jedes Stückchen Gemüse, jede Ähre bestraft, die sie nach der Ernte vom Boden aufgesammelt hatten. Meine Kusine Anna kam von der Arbeit und nahm sich eine Rübe. Das kam heraus und sie erhielt dafür 5 Jahre Freiheitsentzug. Sie war unverheiratet, alleinstehend, und – wie man sagt – hatte sie Glück im Unglück, denn während der Inhaftierung heiratete sie und kehrte nicht wieder in ihr Dorf zurück.
Ich will noch ein wenig von mir erzählen. Nach der Befreiung der Ukraine von den Deutschen besuchte ich in einem anderen Dorf, das etwa 5 km entfernt lag, die 7. Klasse, denn die Schule in unserem Dorf war zerstört worden. Danach begann ich ein Studium am Technikum in Charkow, und arbeitete nach dessen Abschluß in Tschernigow bei einer Bank für Baufinanzierung. Ich begann ein Fernstudium und heiratete einen Militärangehörigen. Das Institut beendete ich mit zwei Kindern an der Hnd. Über zwanzig Jahre arbeitete ich als Leiterin der Planungsabteilung im Bauwesen. Jetzt bin ich in Rente.
O.N. Lawritschenko
Aufgezeichnet von K.A.Dsjuba, Gesellschaft „Memorial“, Krasnojarsk.
April – Mai 1990