Unsere Familie wurde im Jahre 1941 nach Sibirien deportiert. Wir wohnten und arbeiteten in der Sawodsker Chemie- und Forstwirtschaft des Nischne-Ingaschsker Kreises, wo nicht weniger als 150 lettische Familien lebten.
Hier in der Taiga gab es viele Kinder.
Die Bewohner dieser Kinder-"Republik" waren sich selbst überlassen: ihre Mütter gingen viele Kilometer entfernt zur Arbeit, den ganzen Tag über. Jedes Fernbleiben von der Arbeit wurde mit dem Entzug der Brotration und der zweimal in vierundzwanzig Stunden ausgege-benen dünnflüssigen Suppe bestraft, die einfach aus Wasser bestand, angemacht mit Mehl sowie einem Teelöffel voll Pflanzenöl. Wir nannten dies "Beimengungen". Seine Ration mit irgendetwas ergänzen oder auffüllen war unmöglich.
Wir wohnten in Baracken aus Holzbalken, die für mehrere Familien gedacht waren. Hunger und Krankheiten waren der ständige Begleiter der Verbannten. Die kleinsten und schwächsten starben noch im ersten Winter. Die anderen waren ständig krank - hier lief ein Prozeß ums blanke Überleben.
Wie Gnome, warm und fest in Decken und Tücher der Mütter gehüllt, die Füße mit irgend-welchen Lappen umwickelt, so streiften die Kinder durch die Siedlung auf der Suche nach Wärme und Gesellschaft mit Altersgenossen. Häufig konnte man sie eng aneinander geschmiegt finden, zusammengedrängt um einen kalt gewordenen gußeisernen Topf. Egal über was die Kinder sich auch unterhielten, stets kehrte ihr Gespräch zum Thema "essen" zurück. Die Älteren erzählten den Jüngeren vom Überfluß an Brot in Lettland. Diese Geschichten, wenngleich sie Krämpfe auslösten, waren die interessantesten und liebsten Märchen.
So vergingen zwei Jahre. Die Zahl der Kinder wurde immer weniger. Ein Teil von ihnen wurde nach dem Tod ihrer Mütter in ein Kinderheim gebracht.
Niemand begleitete diese vom Schicksal schwer gekränkten Jungs, niemand rüstete sie, so wie es sich gehört, für den Weg in die Zukunft. Die armen Waisen schleppten sich mit Mühe hinter der nächsten Brotfuhre her, welche zweimal pro Woche in die Siedlung gefahren kam, und weiter hinter dem Wagen her bis zur Station Tinskaja. Mitunter setzten mitfühlende Fahrer sie auf die Leiterwagen oder Schlitten (abhängig von der Jahreszeit) und nahmen die erschöpften und völlig von Kräften gekommenen Kinder ein paar Werst mit. Lange Zeit fahren durfte man nicht. Im Winter konnten die Kinder erfrieren und im Sommer von den stechenden Insekten zu Tode gebissen werden. Sich auf eigenen Beinen fortzubewegen war weniger gefährlich. Wohin man sie weiter schickte, wußte niemand.
Natürlich gab es in der Taiga auch keine Schule. Ein Blatt Papier wurde mit Gold aufgewogen und für einen Brief an den Vater aufbewahrt, über dessen Schicksal wir später erfuhren. Glücklich war der, dem es gelang, an ein paar alte Zeitungsseiten heranzukommen. Auf ihnen konnte man quer darüber einen Text schreiben, und das Geschriebene war dann noch einiger-maßen gut zu erkennen. Abends, nach der Arbeit, am geheizten Ofen, lehrten die Mütter ihre Kinder lesen, schreiben, rechnen und erzählten ihnen all das, was sie selber aus ihrer Schulzeit noch erinnerten. Tagsüber, wenn die Kinder allein waren, erzählten sie ihren Freunden das Erlernte weiter. Bald sagte die Mehrheit der Kinder Gedichte lettischer Poeten auf oder sie erzählten die besten Werke der Prosaiker nach. Aber das alles reichte für eine ernsthafte Ausbilding nicht aus.
Meine Mutter besaß eine pädagogische Ausbildung und war bis unmittelbar vor ihrer Deportation nach Sibirien Lehrerin gewesen. So entschloß sie sich auch, sich an die Gründung einer Schule zu machen.
Um für diese edle Sache das Einverständnis der örtlichen Leitung zu erbitten, begab Mama sich in die Kreisstadt. Zufuß meisterte sie die 120 km dorthin innerhalb von drei Tagen. In der Kreis-Abteilung für Bildungswesen begegnete man ihr mit gespannter Aufmerksamkeit: "Eine Schule für Verbannte in der Taiga? Wozu brauchten sie die? Sie kennen die russische Sprache nicht. Sie sind Pädagogin, wo ist Ihr Diplom?" Solche und ähnliche Fragen folgten einander Schlag auf Schlag. Da überlegte Mama, wie sie die "gestrenge" Leitung am besten von ihrer geplanten Bildungsmaßnahme überzeugen konnte. Sie erklärte, daß die Schule auch von den Kindern besuchte würde, deren Väter sich im Krieg befanden. Tatsächlich lebten in der Siedlung zwei solcher Familien und ihr Kinder waren auch schon mehr als zwei Jahre nicht in die Schule gegangen. Das war von entscheidender Bedeutung, und Mutter bekam die Einwilligung zur Eröffnung einer Schule. Bei der Behörde erhielt sie die Erlaubnis zur vorläu-figen Ausübung des Lehramtes.
Jetzt war sie bereits die 120 km von der Kreisstadt bis zur Siedlung zurückgegangen, beladen mit Lehrbüchern, Schreibheften, Bleistiften und anderen Lernmaterialien sowie Kanzlei-zubehör.
12 Tage nachdem sie aufgebrochen war, kehrte die Mutter in die Siedlung zurück, bepackt mit einem großen, selbstgemachten Sack, in dem sich alle möglichen Gegenstände befanden, sowie einem alten, fußlosen Globus.
In Windeseile wurde für die Schule ein rotes Eckchen eingerichtet. Aus dem zentralen Lagerbereich wurde eine kleine Klassentafel herangeschafft. Ein paar lange Tische und Sitzbänke wurden organisiert. Da die ganze Schule in nur einem Zimmer untergebracht war und die Kinder unterschiedlichen Alters waren und eine ungleiche schulische Vorbildung besaßen, entschloß man sich, wenigstens die Erstklässler in einer Ecke abzutrennen. Die übrigen lernten gemeinsam.
Die Lehrbücher waren in russischer Sprache gehalten, welche die Kinder schlecht verstanden, vor allem kannten die Schüler das russische Alphabet nicht. Daher wurde in jedem Unterricht erstmal mit der Fibel begonnen. In den Fächern Mathematik, Geographie und Geschichte mußten die Texte ins Lettische übersetzt werden. Solch eine ungewöhnliche Methode des Unterrichtens und der Aneignung von Schulwissen führte zu unerwarteten Resultaten. Nach kurzer Zeit entstand nämlich eine neue lettisch-russische Schulsprache, in der die Schüler sich untereinander verständigten, darunter auch die Kinder russischer Familien. Es erforderte viel Kraft und Verstand, diese Verschmelzung beider Sprachen miteinander zu unterbinden.
Ungeachtet aller Schwierigkeiten arbeitete die Schule weiter.
1944 wurde ich nach Krasnojarsk abkommandiert. Nach etwas über einem Jahr erhielten wir die Erlaubnis zur Wiederzusammenführung unserer kleinen Familie. Mutter verabschiedete sich von ihren Zöglingen und zog zusammen mit der Schwester zu mir um.
1946 ging durch die sibirischen Lande das Gerücht, daß sich in Krasnojarsk eine Kommission aus Lettland befinden würde, die sich mit der Verschickung lettischer Kinder in die Heimat befaßt. Bald erfuhr ich, daß diese Ankömmlinge aus Lettland im Hotel „Jenissej“ wohnten. Ich machte mich mit ihnen bekannt. Ich wollte so viel wissen über die Orte in der Heimat und auch sie stellten mir viele Fragen über das Leben und die Lage der Letten in der Region. Ich kannte das Gebiet gut, und so wurde mir der Vorschlag unterbreitet, ihnen bei der Arbeit zu helfen. In dem Dokument, welches die Kommission bei sich vorliegen hatte, stand, daß sie mit dem Ausfindigmachen, Sammeln und der Verschickung von elternlosen Kindern in die Heimat beauftragt worden war.
Ein derart humanes Ziel bekam die volle Zustimmung der im Bildungswesen tätigen Krasnojarsker. Sie sahen in der Verwirklichung dieser Aktion auch den Vorteil, daß nach Abfahrt der lettischen Waisen Kinderheim-Plätze für andere frei würden, darunter für solche, deren Eltern im Krieg umgekommen waren.
Zur Präzisierung der genaueren Umstände besuchten die Mitglieder der Kommission eine Reihe von Ortschaften, in denen Vertriebene aus Lettland lebten. Auf einer dieser Fahrten begleitete ich Walja Andersson in den Nischne-Ingaschsker Kreis. Das, was wir in Wjerchnij Tabagaschet sahen, kann man nicht einmal heute ohne Schaudern in die Erinnerung zurück-rufen. Die skrofulösen Kinder konnten sich schon nicht mehr bewegen, ihre Augen und Lippen waren mit Schorf bedeckt, ihre Blicke abwesend, völlig ausdruckslos. Sie zeigten noch nicht einmal mehr kindliche Neugier gegenüber den ankommenden Besuchern. Die Mehrzahl der Kinder hatte Rachitis. Fast alle Eltern baten die Mitglieder der Kommission, sie zu Verwandten, Bekannten oder wenigstens in Kinderheime in Lettland zu bringen.
Man mußte dringend Maßnahmen zur Rettung der lettischen Kinder ergreifen.
Und da wurde auf eigene Verantwortung der Kommission entschieden, alle Kinder bis zum 16. Lebensjahr nach Lettland zu schicken, deren Mütter damit einverstanden und bereit waren, von ihnen Abschied zu nehmen.
Von den Kindern, die nach Lettland gebracht werden sollten, wurden Listen erstellt, die bei der Behörde für Staatssicherheit bestätigt werden mußten. Ob die dort wußten, daß die Kommission ihre Machtbefugnisse überschritten hatte und nicht nur Waisen nach Lettland schickte? Ich glaube, sie wußten es. Offensichtlich gab es aber Überlegungen, die „Gesetz-losigkeit“ im Handeln der Kommission zu übersehen. In einem der Waggons fuhr auch meine Schwester fort, und meine Mutter fuhr als Begleitung mit. Unter den Kindern waren ehema-lige ihrer Zöglinge aus der weit entfernten Schule in der Taiga.
Nach der Ankunft in Riga und der zusammen mit den Kindern durchgeführten Quarantäne sowie der offiziellen Ausgabe der Papiere an die Verwandten, erhielt sie einen Dienstreise-schein für die Srudalinsker Schule. Sie bemühte sich, durch dörfliche Gegenden zu fahren, um weniger den Blicken der Leute ausgesetzt zu sein. Aber es half nichts. Im Jahre 1950 wurden Mutter und Tochter verhaftet, und im weiteren Verlauf der Ereignisse folgten die berühmten Leningrader „Kreuze“ (berüchtigtes Gefängnis im ehemaligen Leningrad, dessen Grundriß in Kreuzform angelegt ist; Anmerkung der Übersetzerin), die Gefängnisse von Kirow und Krasnojarsk. Nach halbjähriger Inhaftierung wurden sie in das Dorf Jarzewo, Region Krasnojarsk, deportiert.
Dieses tragische Los teilten nahezu alle Mitglieder der Kommission. Ihre Heldentat wurde als Verbrechen gewertet. Und viele von ihnen , die inzwischen bereits Halbwüchsige und schon erwachsen gewordene Kinder waren, konnten einer zweiten Verbannung nach Sibirien nicht entgehen.
Mama starb 1981 in Krasnojarsk. Die Schwester lebt in Salaspils.
A.Lielajs - „Krasnojarsker Arbeiter“, 17. Februar 1990