Autor: Anatolij Matzak (Enkel)
Hass, Chauvinismus ist ein Beweis für die Minderwertigkeit einer Nation. Eine Welt, in der es akzeptabel ist, Vertreter einer anderen Nation als anders zu behandeln, als Menschen einer anderen Klasse, hat kein Recht zu existieren. Die Deportation der Wolgadeutschen stellte eine schreckliche Seite in der Geschichte der UdSSR dar, was dazu führte, dass sich der Begriff «Chauvinismus» in den Köpfen der Menschen festsetzte. Heute erzähle ich davon, wie die Geschichte meiner Familie Teil der Geschichte des großen Landes wurde.
An einem sonnigen Morgen beschlossen die Kinder und ich, unsere Großmutter, Elvira Andrejewna Weit, Augenzeugin jener furchtbaren Ereignisse, noch einmal darum zu bitten, ihre Erinnerungen mit uns zu teilen.
Sie wurde am 29. Mai 1927 in der Stadt Buguruslan, im Gebiet Orenburg geboren, das damals noch Gouvernement Saratow hieß. 1938, noch ein Kind, wurde sie zur Waise: die Eltern wurden verhaftet und anschließend erschossen. 1941 wurden die Wolgadeutschen deportiert und in andere Territorien der UdSSR zwangsumgesiedelt – auf diese Weise verlor Elvira nicht nur ihre Familie, sondern auch ihr Heim, ihre kleine Heimat, den Grund und Boden, mit denen ihre kindlichen Erinnerungen verbunden waren. An diese Tragödie konnte sie sich noch sehr gut erinnern – kann man so etwas denn vergessen? Oft erzählte sie mit zitternder Stimme die Geschichte jener, ihrer, Lebensjahre.
Mein Urgroßvater, Andrej (Heinrich) Iwanowitsch Weit, geb. 1896, war geboren in der Ortschaft Kotschetnoje, Kanton Seelmann, ASSR der Wolgadeutschen, Wolgadeutscher, Nationalität deutsch. Er war ein gebildeter Mann, konnte lesen und schreiben, was damals eine Seltenheit war. Er war nie Parteimitglied. Bis zu seiner Verhaftung lebte er in der Stadt Buguruslan, arbeitete als Leiter der Kantine an der tatarisch-baskirischen pädagogischen Fachhochschule. Am 22. März 1938 wurde er von den Organen der NKWD-Behörde im Gebiet Orenburg verhaftet und am 5. Oktober 1938 von einer Troika derselben Behörde wegen angeblicher Aktenfälschung in einem manipulierten Verfahren wegen angeblicher Spionage- und Sabotage-Tätigkeit zur Höchststrafe verurteilt – Erschießung. Das Urteil wurde noch am selben Tag in der Stadt Orenburg vollstreckt.
Elvira Andrejewnas Mutter – Paulina Aleksandrowna Braun, geb. 1897, geboren in der Ortschaft Marienthal, Kanton Marienthal, Wolgadeutsche. Arbeitete als Deutschlehrerin. Sie war nie Parteimitglied. 1937 wurde sie aufgrund des «Tatbestandes faschistischer Agitation unter den Schülern», wie es in ihren Akten geschrieben stand, entlassen. Am 18. März 1938 wurde sie von Organen der NKWD-Behörde im Gebiet Orenburg verhaftet, verurteilt und erschossen.
Der Begräbnisort von Paulina Aleksandrowna Braun und Andrej Iwanowitsch Weit ist in den Archiv-Materialien nicht angegeben, doch dank der Forschungsarbeiten konnte ermittelt werden, dass die Opfer der Massen-Repressionen der Jahre 1937-1938 im Sauralsker Wäldchen, nahe der Stadt Orenburg, bestattet wurden. Dieser Ort wurde auf Beschluss des städtischen Exekutivkomitees zum städtischen Friedhof erklärt. Nun wurde am Begräbnisort der unschuldigen Repressionsopfer ein Gedenkzeichen aufgestellt.
Großmutter hat sich immer an den Tag erinnert, an dem spätabends Mitarbeiter des NKWD zu ihnen nach Hause kamen. Zu der Zeit wohnten sie in der Stadt Buguruslan im Gouvernement Saratow. Sie hielt sich dort mit ihrer Schwester Jewgenia Weit und der Mutter Paulina Aleksandrowna auf. Die Mitarbeiter führten eine Haussuchung durch und befahlen der Urgroßmutter sich anzukleiden und mit ihnen mitzukommen. In dieser Nacht blieben die Kinder allein zu Hause. Am folgenden Tag kam der Vater von der Arbeit nach Hause. Die Kinder berichteten ihm davon, was am Vorabend geschehen war. Der Vater frühstückte, zog sich an und sagte: «Ich gehe los, um herauszufinden, was mit Mama passiert ist. Ich bin bald wieder zurück». Doch er sollte nie wieder nach Hause zurückkehren… Ein paar Tage blieben die Kinder in dem verlassenen, kalten Haus, sie, die keinerlei Vorstellung davon hatten, was mit ihren Eltern geschehen war, ob sie zurückkehren würden, und sie zitterten vor lauter Ungewissheit.
Die Vormundschaftsbehörden kümmerten sich noch nicht einmal darum, die Kinder
in ein Kinderheim zu bringen – schließlich galten sie als Volksfeinde. Zu der
Zeit war Elvira Weit elf Jahre alt, ihre Schwester Jewgenia – dreizehn.
• Unweit von Buguruslan, in der Stadt Engels, wohnte Großmutters Onkel, Paulina
Aleksandrowna Brauns Bruder, mit seiner Familie. Eine Woche nach den
beschriebenen Ereignissen berichteten allgemeine Bekannte der Familie ihm, was
passiert war. Er kam und holte die Kinder zu sich nach Engels. So lebten sie
dann in der Familie ihrer Verwandten, ohne zu wissen, was wirklich mit ihren
Eltern geschehen war. Und erst Ende des zwanzigsten Jahrhunderts erhielten sie
Dokumente, aus denen sie die Gründe für die Verhaftung, die Verurteilung und den
Tod durch Erschießen erfuhren.
Bis September 1941 wohnte die gesamte Familie in der Stadt Engels. Es war eine große, einträchtig miteinander lebende Familie: Stanislaw Aleksandrowitsch Braun, seine Ehefrau Margarita Adamowna und zwei Töchter: Jewgenia und Elvira. Und ein Teil dieser Familie waren, nach der Verhaftung und dem tragischen Tod der Eltern, meine Großmutter Elvira Andrejewna Weit und ihre Schwester Jewgenia Andrejewna Weit. Gerade Jewgenia und Elvira waren für unsere Familie sehr traditionsgebunden.
Am 29. August 1941 erging das unglückselige Dekret des Obersten Sowjets des Präsidiums der UdSSR über die Umsiedlung der in den Wolgagebieten lebenden Deutschen. Und dieses Dekret zwang viele Menschen, ihr Haus, ihre Arbeit und ihre Freunde zurückzulassen und ihr Leben für immer zu ändern.
So verhielt es sich auch mit meiner Großmutter. An einem unbeschwerten Tag betraten Soldaten das Haus der Familie Braun und gaben bekannt, dass sie vierundzwanzig Stunden Zeit zum Packen ihrer Sachen hätten. Nur das Allernötigste durften sie mitnehmen: Essen für zwei Wochen sowie Dokumente, und der gesamte restliche Besitz musste zurückbleiben. Alle dachten, dass sie nicht für lange fortbleiben würden, dass es nur vorübergehend wäre. Außerdem hieß es in dem Dekret, dass sie in Gebiete mit reichlich Ackerland umgesiedelt würden, wo jeder Familie ein Stück Land zugewiesen und der Staat ihnen Hilfestellung bei der Einrichtung am neuen Wohnort geben würde. Genau einen Tag später kamen die Soldaten erneut und begleiteten die Familie zum Bahnhof. Dort befanden sich bereits andere Familien, die aus ihren Wohnorten weggeholt und aus dem gesamten Wolgagebiet vertrieben worden waren. Auf dem Bahnhof standen bereits extra für die Deportierung vorbereitete Züge, deren Waggons eigentlich für den Transport von Vieh vorgesehen waren, doch nun sollten Menschen darin befördert werden. Diese Waggons sahen aus wie leere Boxen, ohne Sitzbänke, Tische, Schlafplätze und Toiletten. Am 2. September 1941 wurde die Familie mit Zug ¹ 821 nach Krasnojarsk verfrachtet. Sie waren lange unterwegs, ungefähr drei Wochen. Die Waggons waren völlig überfüllt, nirgends konnten sie sich zum Schlafen niederlegen, so dass die Menschen auf dem Boden kauern mussten. Die Notdurft verrichteten sie über ihrem Kochgeschirr, wo bei sie sich hinter Vorhängen verbargen. Anschließend wurden die Töpfe gewaschen und darin das Essen zubereitet. Unterwegs wurde der Zug häufig angehalten, um Züge mit Soldaten passieren zu lassen, die sich auf dem Weg an die Front befanden. Nur wenn der Zug hielt, durften die Menschen die Waggons verlassen, ein Lagerfeuer entfachen, Essen zubereiten und ihre Notdurft verrichten. Wann der Zug hielt und wann er weiterfuhr, wurde ihnen nicht angekündigt der vorsorglich mitgeteilt. Drei langgezogene Hup-Töne verkündeten, dass sich der Zug in Bewegung setzte, und die Menschen schnappten sich ihre heißen Töpfe mit Essen, ihre Kleidung und Kinder und sprangen oft auf die bereits fahrenden Waggons. Manchmal organisierten die Behörden an den Bahnstationen provisorische Kantinen, wo für die Deportierten Brei gekocht wurde. An diesen Stationen standen die Männer während der Zug-Halte mit Eimern und Kochgeschirr Schlange, um noch eine Portion von diesem Brei zu erlangen. Freilich reichte er nicht immer für alle.
In dieser ganzen Unruhe und Verwirrung waren die Kinder auf ihre Verwandten angewiesen. Onkel und Kinder versuchten die Kinder zu trösten und sagten ihnen, dass bald alles gut werden würde. Doch vor den Familien lag nur das Unbekannte. Sie wussten nicht, wohin man sie brachte. Manchmal gingen in den Waggons Gerüchte um, denen zufolge man sie zur Erschießung brächte. Natürlich hatten die kleine Elvira und ihre Schwester große Angst, aber sie verloren nie vollständig die Hoffnung. Sie half ihnen, diesen schrecklichen Umzug durchzustehen.
Schließlich kamen sie in der Mokruschinsker Sowchose, Bezirk Kansk, Region Krasnojarsk, ein. Die Familienwurden in alten Baracken untergebracht. Es waren große Räumlichkeiten, an deren Wänden Sitzbänke standen, und in deren Mitte sich ein Ofen befand. Die Baracken verfügten noch nicht einmal über Fenster. Die Meschen bekamen so gut wie nichts zu essen. Die Erwachsen überließen die nahrhaftesten Dinge für die Kinder, sie selbst litten Hunger.
Einmal, im Herbst, als die Zeit der Kartoffelernte heranrückte, wurden alle Familien, einschließlich der Großmütter und Kinder, auf das Sowchosen-Feld geschickt. Die schrecklich harte Arbeit war für die Erwachsenen und die Kinder gleichermaßen seelisch belastend. Es fiel den Menschen schwer, Tag und Nacht auf den Feldern zu verbringen, um die Kartoffeln zu ernten. Großmutter beschreibt diese Zeit als große Herausforderung, die jeder annehmen musste, um überhaupt zu überleben. Sie erinnert sich, wie sie gelegentlich, direkt auf dem Feld, ein Lagerfeuer entfachten und darüber Kartoffeln brieten. Und abends, vor dem Heimweg, steckten sie ein paar Kartoffeln in ihre Jackentaschen und Brusttücher und nahmen sie mit nach Hause. Und nachdem sie sie dort gebraten oder gekocht hatten, gab es ein Familien-Festessen. Das waren die glücklichsten Momente ihrer schweren Kindheit. Derart schmackhafte Kartoffeln hat sie ihr Leben lang nicht mehr gegessen, – so erinnert sich die Großmutter.
Elvira und ihre Schwester träumten davon, in jene sorglose Zeit ihrer glücklichen Kindheit zurückzukehren und ihre geliebten Eltern wiederzusehen. Die beiden Mädchen hegten vergeblich die Hoffnung, dass Mama und Papa bald wieder zu Hause sein würden, die Familie wiederhergestellt und nach Buguruslan zurückkehren würde.
Der Winter setzte ein. Die Deportierten erfuhren nun am eigenen Leibe, was «sibirische Fröste» bedeuteten. Viele wurden zum Holzfällen in den Wald geschickt. Dafür wurden Gruppen von sieben bis acht Personen zusammengestellt, darunter auch häufig Kinder und Jugendliche, denn die Erwachsenen waren mit den körperlich schwierigsten Aufgaben beschäftigt. Elvira und andere Kinder wurden mit einem Schlitten, auf den ein kleines Häuschen gebaut worden war, für fünf bis sieben Tage in den Wald gebracht. Im tiefsten Nirgendwo wurden sie zurückgelassen und mussten Bäume fällen. Dann kamen wieder Leute und brachten sie an deinen neuen Arbeitsort. Das zerkleinerte Holz luden sie auf Schlitten und transportierten es ab. Essen erhielten sie für genau eine Woche, doch die Kinder aßen es meistens innerhalb von zwei-drei Tagen auf, so dass sie die verbleibende Zeit hungerten, irgendwelche Wurzeln oder Beeren sammelten und daraus Tee kochten, den sie mit großem Behagen tranken. Es wurde keinerlei warme Kleidung an sie verteilt. Sie mussten sich in das einhüllen, was sie besaßen, und viel arbeiten.
Die grausame Ausbeutung der deportierten Deutschen setzte sich bis zum Einsetzen von «Chruschtschows Tauwetterperiode» fort. Viele Verurteilte wurden rehabilitiert, unter anderem auch posthum. Elvira Andrejewna Weit wurde rehabilitiert und aus der Sonderansiedlung am 28. Februar 1956 entlassen, aber sie behielt dann ihren Wohnort in Turuchansk. Zu dem Zeitpunkt hatte sie bereits vier Kinder, unter ihnen war auch mein Vater Aleksandr Stefanowitsch Matzak, geboren 1952. 1966 starb mein Großvater Stefan Kondratewitsch Matzak. Bis 1979 wohnte Großmutter in Turuchansk, dann heiratete sie noch einmal und zog nach Jekaterinburg um. Von 1984 bis 1988 lebte ich dort bei ihr. Von frühester Kindheit an lehrte sie mich die deutsche Sprache und impfte mir die national-kulturellen Werte des deutschen Volkes ein. Großmutter war stolz auf ihre Nationalität.
1995 reiste ihre Schwester Jewgenia Goltmann (Weit) im Rahmen des Spätaussiedler-Programms nach Deutschland aus. Zum Zeitpunkt der Abholung der Dokumente für die Staatsbürgerschaft erfuhren ihre Schwester und Großmutter endlich von der unrechtmäßigen Verhaftung und Erschießung ihrer Eltern – Andrej Iwanowitsch Weit und Paulina Aleksandrowna Braun. Nachdem sie die Qualen der bürokratischen Verfahrensweisen durchlaufen hatten, gelang es ihnen schließlich, die Rehabilitation für ihre Eltern zu erhalten.
Andrej Iwanowitsch Weit wurde posthum am 19. Oktober 1989 von der Militär-Staatsanwaltschaft des Militärbezirks Wolga gemäß Artikel I des Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 16. Januar 1989 «Über zusätzliche Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit im Hinblick auf die ausgeübten Repressalien in den 1930-1940er Jahren und zu Beginn der 1950er Jahre» rehabilitiert. Paulina Aleksandrowna Braun erhielt ebenfalls posthum ihre Rehabilitation am 29. Januar 1990 durch die Militär-Staatsanwaltschaft des Militärbezirks Wolga-Ural in Entsprechung desselben Dekrets. Nachdem sie die entsprechenden Dokumente erhalten hatten, wussten die beiden Schwestern endlich, was tatsächlich mit ihren Eltern geschehen war. Aber die Traurigkeit und der Schmerz über die Tragödie ihrer Familie blieben ihnen für den Rest ihres Lebens erhalten.
Ab dem Augenblick der Umsiedlung ihrer Schwester nach Deutschland träumte die Großmutter davon, sie, die Schwester, wiederzutreffen, mit der sie die Schrecken der Deportation erlebt hatte. Doch ihr Traum ging nicht in Erfüllung: 2010 verstarb ihre Schwester in Deutschland.
Den Grund dafür, dass Großmutter nicht mit nach Deutschland aussiedelte, erklärte sie damit, dass ihr zweiter Ehemann den Wohnort nicht verlassen wollte.
1988 zog meine Familie nach Stawropol um, wo ich die Schule besuchte.
Obwohl die Großmutter weit entfernt wohnte, hielt sie Kontakt mit der Familie, kam auch nach Stawropol und nahm an den traditionellen nationalen, religiösen und familiären Feierlichkeiten teil, sah ständig ihre Familienmitglieder, so dass es möglich war, die nationalen und kulturellen Werte des deutschen Volkes im Rahmen der Familientradition zu vermitteln.
Während meiner Schulzeit und meines Studiums lernte ich Deutsch, das ich fließend beherrschte, da es seit meiner Kindheit meine Muttersprache war. 2006 nahm in Stawropol das Russisch-Deutsche Haus seinen Betrieb auf, dessen aktives Mitglied ich 2013 wurde, wobei ich viel mit der deutschen Sprache zu tun hatte und als Organisator und Teilnehmer kultureller Massen-Veranstaltungen tätig war, die mit der Wahrung und Promotion der deutschen nationalen Kultur verbunden waren. Meine Kinder besuchen ebenfalls das Russisch-Deutsche Haus.
Vor dem Tod ihrer Schwester, Jewgenia Weit, hatte mir Großmutter nichts von der Aussiedlung, von dem Teil unserer Familie in Deutschland, erzählt und nicht die Einzelheiten und den Inhalt der Dokumente mit mir geteilt, in den von der Verhaftung und Erschießung meiner Urgroßeltern die Rede war. Erst 2010, nach dem Tod meiner Großtante, erfuhr ich alles. Großmutter berichtete mir auch, dass meine beiden Großtanten Tatjana und Natalia Goltmann lebten. Von dem Augenblick an träumte ich davon, nach Deutschland zu reisen und sie zu sehen und auch das Grab meiner Großtante zu besuchen.
2012 bekam ich die finanzielle Möglichkeit für eine Reise meiner Familie nach Deutschland, in meine historische Heimat, wo es mir zum ersten Mal gelang, meine Großtanten Tatjana Goltmann und Natalia Nels (Goltmann) zu sehen. Innerhalb Deutschlands reiste ich in drei Städte: Berlin, Frankfurt-am-Main und Hamburg, um dort mit Familienmitgliedern zusammenzutreffen. Meine Verwandten übergaben mir Kopien der Dokumente über die rechtswidrige und unrechtmäßige Verhaftung und Erschießung meiner Urgroßeltern, die von den Sicherheitsorganen der UdSSR unter Zugrundelegung falscher Tatsachen getötet wurden und somit zu Opfern des Genozids der deutschen Bevölkerung in diesem Land wurden.
2019 siedelte meine Großmutter wegen ihres Gesundheitszustands zu uns nach Stawropol über. Wir lebten als eine Familie und bewahrten auch weiterhin die nationalen und religiösen Traditionen des deutschen Volkes. Doch leider verstarb meine Großmutter am 4. Januar 2023 in ihrem 95. Lebensjahr. Wir sprachen oft mit ihr darüber, gemeinsam an die Wolga zu fahren, die Möglichkeit , die Gräber ihrer Schwestern in Deutschland zu besuchen. Im Wolgagebiet hätte sie gern die Orte besucht, an denen sie ihre Kindheit verbracht hatte und das ruhige, sorglose Leben ihrer Familie jäh abgebrochen wurde – an jenen Ort, an dem 1941 die furchtbare Tragödie der Russland-Deutschen ihren Ursprung genommen hatte. Im Sterben bat die Großmutter: «Versprich mir, dass du auf jeden Fall in die historische Heimat zurückkehren und die Gräber meiner Schwestern besuchen wirst… ».
Erst nach ihrem Tod im Januar 2023 reiste ich mit meiner Familie in mehrere Städte im Wolgagebiet: Saratow, Lipowka, Engels, Marx (Jekaterinstadt), Sorkino. Wir verbrachten Zeit in Museen, wiedererrichteten und zerstörten Kirchen deutscher Katholiken. Es war sehr schwer, sich jene schreckliche Zeit vorzustellen. All das hinterlässt in der Seele eine unauslöschliche Spur. Wie viel Kraft hatte es gebraucht, um überleben zu können! Denn schließlich überlebten nur diejenigen, die einen starken Geist und einen unerschütterlichen Glauben besaßen, aufrichtig ihrer Arbeit erledigten, nicht auf Hilfe warteten, nicht an die Zukunft dachten, sondern nur zum Glück und Wohl ihrer Familie, ihres Volkes lebten.
1937 in Buguruslan. Ein Jahr vor der Verhaftung.
Links Andrej Iwanowitsch Weit (Urgroßvater)
1940. Stadt Engels. Ein Jahr vor der Deportation.
Waisen. In der Mitte Elvira Weit. Rechts Jewgenia Weit.
2 Jahre zuvor wurden die Eltern erschossen.
1940. Stadt Engels. Familie Braun. Ein Jahr vor der Deportation.
1949. Stadt Krasnojarsk. Elvira Weit.
1957. Stadt Turuchansk. Robert Matzak (Onkel).
1957. Stadt Turuchansk. Alexander Matzak (Vater)
BRAUN, Stanislaw Aleksandrowitsch (Stanislaus Alexanderowitsch), geb. 1900. Geboren in der Ortschaft Brabander, Kanton Kukkus, ASSR der Wolgadeutschen. Deutscher, Buchhalter bei der Genossenschaft «Pionier» in der Stadt Engels. Familie: Ehefrau Margerita (Margarethe) Adamowna, 1900, Hausfrau, Kinder Jewgenia (Eugenie), geb. 1926, Elvira, geb. 1926, Nichten Elvira Andrejewna (Andreasowna/Heinrichowna) Weit, geb. 1926, Jewgenia Andrejewna (Eugenie Andreasowna/Heinrichowna) Weit, geb. 1925. 1941 deportiert in den Mokruschinsker Dorfrat, Kansker Bezirk, Region Krasnojarsk.