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Robert Maier. Das Schicksal eines Russland-Deutschen

Teil III
Verbannung

Kapitel 16. Ein weiteres Jahr der Trennung

In Tambow traf ich am 23. Oktober 1951 ein. Der Zug näherte sich gerade erst der Stadt, aber und mein Herz stockte süß und aufgeregt in meiner Brust: was erwartete mich in Tambow, was suchte ich hier? Lalja, Mamas Grab, die Wunder der Jugend, Rita? Und wie verhielt es sich mit Nina, Valerik? Während der gesamten Fahrt hatten widersprüchliche Gefühle in mir miteinander gekämpft. Einerseits die ängstliche Erwartung der Begegnung mit der Vergangenheit, mit der Jugend, andererseits – ein Gefühl der Schuld gegenüber Nina und Valerik. Warum war ich nicht direkt nach Krasnojarsk gefahren? Alles wäre näher bei ihnen gewesen. Ich hätte angefangen zu arbeiten, zu helfen, die Wiedervereinigung erreicht. Die Gedanken waren verwirrt, mein Herz versank in Angst. Unerträglich langsam zogen sich die letzten Minuten dahin.

Und dann, endlich, der Bahnhof. Mit angestrengt quietschenden Bremsen kam der Zug am Bahnsteig zum Stehen. Eine Schar von Menschen, welche zur Begrüßung der Ankömmlinge eingetroffen waren – und kein einziges bekanntes Gesicht. Niemand war gekommen, um mich willkommen zu heißen. Denn ich hatte Lalja von meiner Ankunft nichts mitgeteilt. Nachdem ich meinen alten Furnierholz-Koffer bei der Gepäck-Aufbewahrung abgegeben hatte, begab ich mich in die Stadt. Sie hatte sich während der letzten zehn Jahre kaum verändert. Dieselben Straßen, dieselben Gebäude. Waren es jetzt weniger Bäume oder kam mir das nur so vor – nach meinem langen Aufenthalt in der Taiga? Ich ging, beschäftigt mit der Besichtigung der Stadt. Die Beine trugen mich von selbst in die mir bekannten Straßen, vorbei an den bekannten Häusern. Der Arbeitstag ging zu Ende. Die Menschen drängten sich vor den Geschäften, stellten sich zu langen Schlangen auf. Mit klappernden Rädern fuhren Karren vorbei, mit surrenden Reifen brausten Autos dahin. Die Stadt lebte ihr alltägliches Leben, aber für mich fühlte es sich tot an – alles hier war meiner Gegenwart fremd, alles erweckte in mir nur Erinnerungen, und sie verfolgten mich wie ein Phantom.

Endlich unsere Straße. Sie hatte sich absolut nicht verändert. Kleine, mit Brettern verschlagene einstöckige Häuschen. Ein paar Ulmen, staubiges, abgeplatztes Pflaster. Und da steht unser Haus. Eine alte Frau, die mit dem Rücken zu mir stand, war am Fensterputzen. Mit gleichgültigem Gesichtsausdruck, um keine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, ging ich vorüber, konnte mich aber nicht beherrschen, machte kehrt und ging wieder zurück. Als ich mit der Frau wieder auf gleicher Höhe war, fragte ich sie, ob die Ischinas noch in diesem Haus wohnten. Sie drehte sich um, schaute mich aufmerksam an und rief plötzlich: «Roba!», - drückte mich an sich, gab mir einen Kuss und führte mich ins Haus.

Maria Iwanowna Ischina! Wie war es nur möglich gewesen, dass ich sie nicht erkannt hatte? Schließlich hatten wir doch zehn Jahre lang Seite an Seite gewohnt. Ihr Sohn Jura, der fünf Jahre jünger war als ich, hatte in der Armee gedient und studierte jetzt im vierten Semester an der historischen Fakultät des Pädagogischen Instituts in Tambow. Außerdem lebten zwei ihrer Töchter bei ihr: die ältere Dina und die mittlere Irina. Dina war verheiratet gewesen und inzwischen wieder geschieden, Irina war noch nicht verheiratet. Vieles erzählten sie mir über die Stadt, über Freunde und Bekannte, von denen fast keiner in Tambow geblieben war.

Als sie erfuhren, dass ich zu Lalja nach Pady wollte, verstimmten sie mich mit der Mitteilung, dass sie zu Beginn des Studienjahres bei ihnen gewesen sei und gesagt habe, dass sie mit Igorek und den Kindern nach Rostow zu Sofia Wladimirowna umziehen wolle, die dort als Lehrerin tätig war. Was sollte ich tun? Ich hatte viel Geld verbraucht, aber das Wichtigste nicht erledigt – Lalja und die Kinder wiedersehen, und an Mamas Grab war ich auch nicht gewesen. Für eine Fahrt nach Rostow reichten meine finanziellen Mittel schon nicht mehr, wenngleich mich, andererseits, die Möglichkeit reizte, nach Otradowaka zu fahren, um Olga Fedotowna wiederzusehen. Auf jeden Fall wäre Nina das recht, und glättete in gewisser Weise meine Schuld ihr gegenüber. Nachdem ich bei den Ischins übernachtet hatte, begab ich mich am Morgen zur Gebietsabteilung für Volksbildung, um herauszufinden, wo Lalja sich befand. Es stellte sich heraus, dass ihnen über ihre Abreise nach Rostow nichts bekannt war, und dass sie nach wie vor in ihren Verzeichnissen eingetragen war. Allerdings gaben sie mir den Rat, bei der Bezirksbehörde anzurufen, um dort Genaueres herauszufinden.

Von der Gebietsabteilung für Volksbildung machte ich mich auf den Weg zum Institut. Es war jetzt im Gebäude der ehemaligen Eisenbahnerschule untergebracht. Ich ging durch die Korridore, schaute ins Auditorium. Die Studenten drängten sich, Lehrer gingen vorbei, und wieder sah ich kein einziges bekanntes Gesicht. Ich machte das Dekanat ausfindig, öffnete ein Stück weit die Tür und erstarrte. Am Schreibtisch saß Artjomenko, groß und breitschultrig, mit dichten grauen Haaren auf seinem massigen Kopf.

Ich trat ein. Den Blick von den vor ihm auf dem Tisch liegenden Papieren abwendend, blickte Dmitrij Trofimowitsch mich fragend an. Strenges Gesicht, dünne Lippen, kleine graue Augen unter zottigen ergrauten Augenbrauen. Ich blieb schweigend stehen. Ob er mich wohl erkennt? Schließlich hatten wir so viele Abende, mitunter auch schlaflose Nächte zusammen in unserem damaligen wärmetechnischen Labor verbracht.

Er erkannte mich wieder! Das gutmütige, bekannte Lächeln verwandelte sein Gesicht. Er stand auf, klopfte mir auf die Schulter und führte mich ins unbesetzte Labor, fort von neugierigen Augen. Dort saßen wir über eine Stunde zusammen, erinnerten uns an die Vergangenheit und schmiedeten Pläne für meine Zukunft. Anschließend ließ er mich allein und ging zum Direktor, um ein wenig vorzufühlen. Er kehrte mit düsterem Blick zurück, unzufrieden mit seiner Unentschlossenheit zurück. Er bedauerte, dass unser alter Direktor nicht mehr da war. Bald darauf schaute Sergej Sergejewitsch Treskin ins Labor. Er hielt nach wie vor den Kursus für mathematische Analyse ab. Er erkannte mich sofort. Nachdem sie das entstandene Problem erörtert hatten, beschlossen sie, dass ich mich in der Abteilung Fernstudium einschreiben müsste. Sie hofften das Einverständnis der Organe zu erhalten. Nach ihrem Diktat schrieb ich meinen Antrag.

Vom Institut ging ich zum Postamt, um nach Snamenka zu telefonieren, wo sich die Bezirksabteilung für Volksbildung befand. Von dort antwortete man mir, dass Lalja nach wie vor als Lehrerin der deutschen Sprache an der Mittelschule der Ortschaft Bolschie Pady unterrichte.

Am nächsten Tag stand ich um zehn Uhr auf, frühstückte und begab mich erneut zum Postamt. Allerdings gelang es mir nicht zum Bolsche-Padowsker Dorfrat durchzukommen und Lalja oder Igorek ans Telefon holen zu lassen. Ich entschied, ohne Voranmeldung dorthin zu fahren. Die Entfernung betrug nicht mehr als 25-30 km. Mit Mühe fand ich ein vorüberfahrendes Auto, dessen Fahrer bereit war, mich bis zu der Abfahrt mitzunehmen, von der aus es, nach seinen Worten, bis nach Pady nicht mehr weit wäre. Dort stieg ich aus und machte mich auf die Suche nach Pady. Ich irrte mehr als eine Stunde über Felder und Wege, und als ich endlich an der Mühle herauskam, in der, wie man mir gesagt hatte, Igorek arbeitete, dämmerte es bereits.

Nach den traditionsgemäßen Küssen und Umarmungen berichtete Igorek, dass fünf Tage vor meiner Ankunft in der Nacht ihre Wohnung neben der Mühle abgebrannt sei. Und obwohl im Großen und Ganzen für sie alles vergleichsweise gut ausgegangen war, lediglich alle Kartoffeln waren Opfer der Flammen geworden, hatten sie nach Jablonewka umziehen müssen, welches nicht weiter als einen Kilometer von der Mühle entfernt lag. Wir gingen zu Fuß und unterhielten uns. Bald sah ich die Hütten. Ich schaute voraus, versuchte zu erraten, in welcher sie wohl nun wohnten. In Erwartung der Begegnung mit Lalja schlug mein Herz angstvoll. Wir hatten schon fast das ganze Dorf durchquert, als Igorek mich bei der Hand nahm, stehen blieb und leise sagte: “Hier!” Dann näherte er sich vorsichtig, damit man ihn vom Fenster aus nicht sah, der Tür. Er klopfte. Man hörte Schritte und eine schmerzlich vertraute Stimme, die fragte: «Wer ist da?»“ Mach auf, hier sucht dich jemand”, - antwortete Igorek bewusst gleichgültig.

Der Riegel wurde beiseitegeschoben, die Tür ging auf und Lalja blickte in die fortgeschrittene Dämmerung hinaus. «Robotschka!» - schrie sie auf und warf sich in meine Arme. Es ist schwer die Eindrücke der ersten Begegnung, sie zu beschreiben. Doch alles geht vorüber. Auch diese Minuten. Wir betraten das Zimmer, und dort, beim Licht einer Kerosinlampe, konnte ich mein Schwesterchen anschauen. Wie sehr hatte sie sich in diesen zehn Jahren verändert! Aus dem jungen, interessanten Mädchen war eine durch die Strapazen des Lebens müde gewordene Frau geworden. In den Mundwinkeln waren kleine Fältchen aufgetaucht, aber noch auffälliger war ihre gebeugte Haltung. Bei ihrem Anblick wurden diese unwiederbringlich in der Vergangenheit liegenden zehn Jahre spürbar.

Wie eigentümlich war es sie zu betrachten, die mit einer Ofengabel und einem Schürhaken um den russischen Ofen hetzte. Besonders verblüffte mich die Tatsache, dass sie sich mit diesem Leben vollkommen abgefunden hatte und sogar mit ihrem kleinen häuslichen Glück zufrieden war. Bald darauf kamen Alik und Tanja. Er, elf Jahre alt, besucht die vierte Klasse, und sieht Igorek sehr ähnlich. Tanjuscha ist neun Jahre alt, geht in die zweite Klasse, sie ist schelmisch, flink und läßt den Jungs nichts durchgehen.


Tambow, 1952
Igorek, Lalja und ich

Am nächsten Tag, morgens, schickte ich Nina ein Telegramm:

Angekommen Tambow. Am fünften abfahre Kranojarsk. Telegrafiere Snamensker Bezirk Bolschiye Pady Krasawtsewa. Kuss Robert.» Auf diese Weise markierte ich sowohl für mich als auch für Lalja meine Aufenthaltsdauer in Jablonewka.

Um die Mittagszeit, nachdem Lalja und die Kinder aus der Schule heimgekehrt waren, gingen wir zum Friedhof. Verwaist, vom Herbstwind zerzaust, die letzte Zufluchtsstätte der Toten. Keine Abzäunungen, keine Grabtafeln. Lediglich eine Reihe abgesenkter, vom Regen ausgewaschener Erdhügel mit von der Zeit und durch schlechtes Wetter geschwärzten Kreuzen. Einsam dastehende, mit vergilbtem Birkenlaub bedeckte, Büsche längst gelb gewordenen Flieders. Ich stehe da, mit unbedecktem Kopf, zerdrücke in meinen Händen meine alte Lagermütze. In den Augen Tränen. Ich bin zu spät gekommen! Ich habe es nicht geschafft! Hinter mir Lalja mit rotgeweinten Augen. Neben mir die still gewordenen Kinder. Über das gepflügte Feld eilt Igorek. Am Abend eine Art Gedenkfeier. Wodka, Kutja, Bliny. Kissel. Igorek erinnert sich, was für ein schutzloser und guter Mensch Sifia Oswaldowna war. Lalja und ich schweigen. Sie – unsere Mama, die beste, die einzige! In jenen letzten Tagen hatte sie die ganze Zeit auf meinen Brief gewartet. Aber ich hatte anderes zu tun, andere Sorgen. Ich dachte, sie wartet, ich schaffe es. Aber ich schaffte es nicht rechtzeitig, und sie wartete nicht.

Die acht Tage, die ich für meinen Aufenthalt in Jablonewka abzweigte, flogen vollkommen unbemerkt vorüber. An den langen Herbstabenden, wenn die Kinder eingeschlafen waren, erzählte ich von meinem Leben im Lager. Gespenstische Schatten fielen von der Kerosinlampe mit dem am Glas verkohlten Papierschirm. Igorek hörte interessiert zu, stellte viele Fragen: über die Arbeitsbedingungen, das Leben, die Haftordnung, die Kriminellen. Lalja seufzte immer lauter, versuchte erfolglos das Gespräch auf Nina und Valerik zu bringen.

Igorek seinerseits erzählte mir in diesen Tagen eine Menge über das schwere Los der Dorfbewohner. Er, von Geburt Bauer, der lange Jahre in einem entlegenen Tambowsker Dorf gelebt hatte, Kommunist per Überzeugung, Panzersoldat im Offiziersrang, der den ganzen Krieg miterlebt und viel gesehen hatte, nahm sich den Niedergang des russischen Dorflebens sehr zu Herzen.

Nach seinem Bericht zu urteilen hatten die Bauern ein sehr schweres Leben. Die Arbeit in den Tambowsker Kolchosen wurde praktisch nicht entlohnt. Über die staatlichen Aufkäufe wurde ihnen lediglich ein Fünftel der produzierten Milch vergütet, ein Zehntel des Getreides, ein Zwanzigstel des Fleisches. In der Jablonewsker Nachbarkolchose, die zu den führenden zählte, brachte man 150 Gramm Korn pro Tagesarbeitseinheit in Anrechnung.

Da die Kolchosarbeiter gezwungen waren, ihr Dasein hauptsächlich auf Kosten der Hilfswirtschaften zu fristen, versuchten sie auf jede nur erdenkliche Weise die Arbeiten in der Kolchose zu umgehen. Im Kampf gegen diese “kranke”, “privateigentümerische” Tendenz, verringerte der Stadt, beginnend mit dem Jahr 1946, nicht nur grundlegend die an den Häusern gelegenen Grundstücke und belegte den verbliebenen Teil mit unermesslich hohen Steuern, sondern beschränkte auch merklich die Möglichkeiten Handel zu treiben. Die Produkte aus seiner eigenen kleinen Wirtschaft auf dem Markt verkaufen konnte der Kolchosbauer nur dann, wenn er ein spezielles Dokument vorweisen darüber konnte, dass
Die entsprechende Kolchose ihre Verpflichtungen gegenüber dem Staat vollständig erfüllt hatte. Gebühren und Steuern auf die Einkommen der Landbewohner aus Verkäufen auf dem freien Markt wurden stark angehoben.

In den Jahren 1947-48 griff die Regierung zu Zwangsmaßnahmen gegen die Kolchosbauern, die nach Igoreks Meinung an die schlimmsten Zeiten des ersten Fünfjahresplans erinnerten: so sahen die Dekrete, die am 4. Juni 1947 verabschiedet wurden, zwischen fünf und fünfundzwanzig Jahren Lagerhaft für jedwede “Übergriffe auf Staats- oder Kolchos-Eigentum” vor. Damals, 1947, wurde das Pflichtminimum an Tagesarbeitseinheiten bestätigt, welches bereits Ende der dreißiger Jahre eingeführt worden war. Bei Nichterfüllung drohte die Verbannung. Es setzte ein massiver Bauern-“Exodus”, vor allem der jungen Leute, aus den Dörfern ein, der ein noch viel größeres Ausmaß gehabt hätte, wenn die Kolchosarbeiter im Besitz eines Ausweises gewesen wären.

Aus allem, was Igorek erzählte, folgte offenkundlich, dass das Land sich erholte und nun auf Kosten einer grausamen Ausbeutung der Bauernschaft lebte. Ich wollte hinzufügen: “und auf Kosten der Sklavenarbeit von Gefangenen und Verbannten”.

Seine Überlegungen wurden von einer Gruppe von etwa zehn Frauen unterbrochen, die auf der vom Regen aufgeweichten Straße in Richtung der in der Ferne sichtbaren Farm gingen. In schäbigen, selbstgestrickten Pullovern, selbstgesponnenen, abgeschnitten Mänteln. An den Füßen abgetretene Stiefel, mit einer Schnur festgebundene Überschuhe. In den Händen Eimer und Forken. Sie gehen langsam, ohne Gelächter, ohne Gesang.

Igorek und ich sitzen auf dem Erdhügel. Die kaum wärmende Herbstsonne scheint. Am Himmel treiben dunkle Wolkenfetzen. Es scheint, als würden sie in den kahlen, flehentlich ausgestreckten Ästen der Bäume hängenbleiben. Die Luft ist mit Feuchtigkeit gesättigt, doch es regnet nicht. Es hatte die ganze Nacht geregnet und erst gegen Morgen aufgehört. Und ich musste ans Lager denken. Ein trüber Herbstmorgen im Jahr 1959. Der Holzverarbeitungspunkt des Frauenlagers «Lesnaja». Eduard Gustavowitsch Schmidgal, der Revisor des OLP, und ich waren zur Überprüfung der Buchhaltungsarbeiten gekommen und früh eingetroffen, die Leute gingen gerade zur Arbeit. Im Morgengrauen nieselte es. Hinter den Toren eine Frauen-Brigade. In Wattejacken, Westen, Pumphosen und Röcken. An den Beinen dicke, lange Strümpfe und viel zu große Bastschuhe. Auf den Köpfen tragen einige eine Soldatenmütze mit Ohrenklappen, andere ein Kopftuch. Darüber ein Stückchen Wachstuch – als Schutz vor dem Regen. Unter den Kopfbedeckungen lugen regennasse Haarsträhnen hervor. In den Händen Äxte und Sägen, an den Gürteln befestigtes Kochgeschirr. Die Gesichter blicken düster drein, nass – entweder vom Regen oder von Tränen. Schmidgal und ich stehen bei der Wache im Licht der Projektoren, und ich schäme mich furchtbar. Ich schäme mich meiner Jugend, für mein wenig lagergemäßes Aussehen, dafür, dass die Frauen losgehen, um das verhasste Holz zu sägen, während wir uns ins warme, trockene Kontor begeben, wo auf uns wahrscheinlich ein Frühstück wartet, dafür, dass ich hierhergekommen bin, weil Nelja Soroka in Lesnaja als Oberbuchhalterin tätig ist.

Die Erinnerung daran war derart lebendig, dass ich mich unwillkürlich auf der Suche nach dem Begleitsoldaten umsah, der mit den Frauen mitgehen sollte. Igorek schwieg ebenfalls; er dachte auch über sein schweres Los nach.

In all diesen Tagen quälte mich der Gedanke an Nina und Valerik. Wahrscheinlich hätte ich trotz allem sofort nach Krasnojarsk fahren sollen. Stattdessen hatte ich mir einen Urlaub verschafft. Das Geld, das ich für die Reise erhalten hatte, war schnell dahingeschmolzen, und für die Fahrt nach Krasnojarsk reichte es bereits nicht mehr. Konnte Nina diese Zeit ohne meine Hilfe durchhalten?

In der zweiten Novemberwoche, nachdem ich von Lalja Beistand in Form von Geld und Nahrungsmitteln erhalten hatte, machte ich mich auf den Weg nach Tambow. Die Abfahrt nach Krasnojarsk war für den 13. November festgelegt. Die verbleibenden Tage beschloss ich dafür zu nutzen, alte Bekannte, Freunde ausfindig zu machen. In Tambow gab es nur noch sehr wenige von ihnen.

Vor allem fand ich Lew Petersson mit Igoreks Hilfe. Nachdem er den Krieg mitgemacht und anschließend demobilisiert worden war, arbeitete er nun bei der Fahrzeuginspektion. Er war stolz auf seinen Offiziersrang und seine Medaillen. Vieles erzählte er, mit einem Gefühl der Überlegenheit, von seinem Leben an der Front. Er hatte Mitleid mit mir, aber es war irgendwie seltsam, als ob er einen Film sähe. Lew lebte zusammen mit seiner Mutter, Ehefrau und Tochter in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Seine Frau, Kellnerin in einem örtlichen Restaurant, war mollig, hatte ein rundes Gesicht, rosige Wangen und einen dicken, blonden Zopf. Sie hatte bereits mehrmals mit ihrer Tochter das Haus verlassen, nachdem sie erneut einen Skandal verursacht hatte. Neben ihr machte Lew, beinahe hager und schmächtig in seiner Offiziersuniform, einen verlorenen, unsicheren Eindruck. Man konnte ihn um seine Frau kaum beneiden.

Es gelang mir die Orlows ausfindig zu machen: Andrej und Platon. Beide haben den Krieg mitgemacht, beide sind verheiratet. Andrej steht im Rang eines Majors. Er diente als Übersetzer (aus dem Deutschen und Rumänischen). Sie wohnten in dem alten Elternhaus, in dem ich manchmal, in meinem vergangenen Leben, so gern aufgehalten hatte. Damals hatte sich an den Abenden ihre ganze Familie auf der großen verglasten Veranda um den blitzblanken Samowar versammelt. Durch das gemusterte Gitter des Aschenkastens schimmerte die Glut, und es roch nach Rauch. Die Zuckerdose war randvoll mit schneeweißem, funkelndem Kandis – zur damaligen Zeit ein überzeugender Beweis für materiellen Wohlstand. In dem großen grünlichen Glasbehälter noch warmes hausgemachtes Gebäck. In ebensolchen grünen Schalen Kirschmarmelade.

Jetzt hatte sich alles verändert. Die alten Leute waren tot. Die Veranda war abgesackt und zur Seite geneigt. Der Garten hatte sich gelichtet, die Apfelbäume waren verschwunden, die einst mit ihren Zweigen an die Fenster der Veranda geklopft hatten. Die Familie war auseinandergegangen. Die Interessen ebenfalls. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich wie ein Fremder. Vor allem Platon brachte mich in Verlegenheit. Mit Andrej war es einfacher. Besonders wenn er versuchte, mir am Stadtrand das Motorrad-Fahren beizubringen, und ich es stets darauf anlegte, den einzigen Pfosten weit und breit umzufahren.

Ich fand auch Luda Sobolewa, mit der ich in der Schule gemeinsam gelernt hatte, und die ich nach dem Abschlussabend nach Hause begleitet hatte. Unter Missachtung der allgemein anerkannten Normen kam ich völlig unerwartet dorthin. Ich klopfe. Ein junger, hagerer Mann öffnet die Tür. Die Tür führt direkt ins Zimmer – groß, aber ärmlich eingerichtet. Quer durch den Raum sind Leinen gespannt, an denen Wäsche aufgehängt ist. Auf dem Fußboden spielen zwei Mädchen. Nichts mehr vom vergangenen Leben, dem Glanz der Staatsanwaltswohnung des Vaters. Lusja selbst ist nachlässig gekleidet und füllig geworden. Sichtlich verlegen und durcheinander. Sie macht mich mit ihrem Mann bekannt. Bietet mir einen Sitzplatz an. Das Gespräch stockt. Weshalb bin ich gekommen, womit habe ich gerechnet?

Ich ging in meine vertraute Schule. Traf mich mit den Lehrern. Von denen, die zu meiner Zeit unterrichtet hatten, war kaum noch jemand übrig. Lange und herzlich sprach ich mit der Deutschlehrerin, die damals unsere Klassenlehrerin war und uns in Mathematik unterrichtete, die wir damals sehr verliebt «Tausenfüßlerin» genannt hatten. Nachdem ich von ihnen Anna Petrownas Adresse erhalten hatte (unsere Physiklehrerin), begab ich mich zu ihr nach Hause, bat um Entschuldigung für unser dummes Verhalten und die Unterbrechungen im Unterricht. Wir tranken Tee, erinnerten uns an die Vergangenheit, das Leben vor dem Krieg.

Und das ist alles. Weder Robert Stoks noch Simatsch waren in der Stadt, und es gelang mir auch nicht irgendetwas über sie herauszufinden. Ich machte auch keinen der damaligen Kursteilnehmer ausfindig. Nicht einmal Rita Konjuchowna, mit der ich mir in tiefster Seele ein Treffen erträumt hatte.

Bevor ich mir die Fahrkarte nach Krasnojarsk besorgte, schaute ich beim Institut herein, und dort teilte Artjomenko mir mit, dass er die Erlaubnis erhalten habe, mich in der Abteilung für Fernunterricht einzuschreiben. Mit Genehmigung des Rektorats ging das ohne Aufnahme-Prüfungen, gleich für den zweiten Kurs, aber sie empfahlen, die Prüfungen und Tests für mindestens ein Semester vor meiner Fahrt nach Krasnojarsk abzulegen, um auf diese Weise die Ernsthaftigkeit meiner Absichten zu bestätigen. Dabei meinte Artjomenko, dass, wenn man mich im Rektorat nicht als ernsthaften und initiativen Studenten kennen würde, ich die Aufnahmeprüfungen und Prüfungen für den ersten Kurs noch einmal hätte ablegen müssen.

Vor mir stand ein schwieriges Problem. Um die Prüfungen und Tests für das zweite Semester ablegen brauchte es mindestens eineinhalb Monate. Und das bedeutete, dass ich nicht vor Januar nach Krasnojarsk käme. Wenn ich eine Arbeit finde, Lohn erhalte - vergeht ein weiterer Monat? Wie wird Nina einer solchen Perspektive gegenüberstehen, und wie werden sie und Valerik in diesen zwei-drei Monaten über die Runden kommen? Und dann schreibe ich ihr am 16. November einen dicken Brief, an dessen Ende ich die entstandene Situation mit folgenden Worten erkläre:

«... Meine liebe Ninotschka, verzeih deinem Ro, aber, ehrlich gesagt, habe ich einen so wilden Wunsch zu studieren, dass ich kaum widerstehen kann. Insgesamt nur eineinhalb Monate. Ich werde die Prüfung für den zweiten Kurs ablegen, ein Zeugnis erhalten, eine akademische Bescheinigung entgegennehmen und mich dann sofort bei meiner Ankunft in Krasnojarsk für das dritte Semester einschreiben. Mit der Vorbereitung beeile ich mich; ich sitze hier bereits den dritten Tag, ohne aufzustehen, von acht Uhr morgens bis zwei Uhr in der Nacht. Man könnte den Prozess beschleunigen, aber ich will mich nicht blamieren, sondern eine Eins schaffen.

Du weißt doch, mein Liebling, dass das Studieren mein ewiger Traum war. Wenn sich die Möglichkeit nun schon einmal ergibt, sollte ich sie auch nutzen. Schließlich haben wir uns jetzt schon so lange in Geduld geübt, da können wir uns auch noch ein-zwei Monate gedulden. Für meinen endgültigen Entschluss teile mir bitte mit, wie es um Valeriks und deine Gesundheit bestellt ist und wie es mit der finanziellen Situation aussieht. Ich habe so lange Zeit, so schrecklich lange Zeit von dir keine Briefe erhalten, keine einzige Nachricht, nur Telegramme. Ich bin so beunruhigt! Gute Nacht. Sei deinem Ro nicht böse. Ich küsse dich und Valerik ganz, ganz, ganz doll! Dein Ro, euer Papa.»

Für Nina war das ein ernster Schlag. Meine Entscheidung kam für sie völlig unerwartet und stellte meinen Wunsch, so nah wie möglich bei ihnen zu sein, die Familienzusammenführung zu erwirken, in Zweifel. Und vielleicht ist das ja auch das Ende und er versucht auf diese Weise, sich die Hände freizumachen – dachte sie. Hatten nicht die Verwandten sie davor gewarnt, die für sie beharrlich einen Bräutigam gesucht hatten? Und obwohl sie an eine derartige Möglichkeit nicht gedacht hatte, war es ihr trotzdem unangenehm, auf Fragen anlässlich des Datums meiner Ankunft zu antworten. Und es gab einfach zu viele Neugierige. Für sie war Ninas und mein Leben so eine Art zeitgenössischer mexikanischer Fernsehserien. Häufig war der Inhalt meiner Telegramme ihnen bereits bekannt, bevor es Nina ausgehändigt worden war, besonders dann, wenn es um die nächste Verschiebung meines Abreisedatums ging. Leider gab es von diesen Telegrammen später recht viele. Meine Pläne zur Erlangung der höheren Bildung und meine Lernerfolge waren ihr angenehm, und sie wollte gern allen davon erzählen, aber sie verblassten vor einer offensichtlichen Tatsache – ich hatte es mit meiner Abfahrt nach Krasnojarsk nicht eilig, mein Studium war für mich wichtiger als ihr Wohlergehen und unser gemeinsames Leben.

Für mich war mittlerweile das Wohnen zum Hauptproblem geworden. Absatz neununddreißig der Pass-Beschränkungen gestattete mir keine Zuzugsgenehmigung und keinen langen Aufenthalt in Tambow. Die erste Zeit lebte ich in Jablonewka und kam nur zu den Examina und der Abgabe der Tests nach Tambow. Aber das war sehr unbequem bei den engen Fristen, die ich mir selbst gesetzt hatte. Jedes Mal, wenn ich mich an die Vorbereitung für die nächste Prüfung machte, musste ich mit dem Prüfer zusammentreffen, was mitunter mehrere Tage in Anspruch nahm, einen Prüfungstermin vereinbaren, das Programm und die Anforderungen besprechen. Anschließend musste ich eine Kontrollarbeit vorlegen und den Lehrer dazu überreden, diese so schnell wie möglich zu überprüfen, dann bekam ich eine Zwischenprüfung auferlegt und schließlich musste ich den Prüfer an unsere Abmachungen erinnern und bereit sein für eine Änderung bei der abgesprochenen Frist. Und für all das - 7- 10 Tage. Daher entstand die Notwendigkeit, in regelmäßigen Abständen für jeweils zwei-drei Tage in der Woche, in Tambow zu leben und dort bei Freunden und Bekannten zu übernachten. Meistens bei Lew Petersson.

In den Fällen stellte er für mich in der Küche ein Klappbett auf, wodurch ich sie, freilich, alle sehr stark einengte. Und obwohl sie es mir nicht zeigten, war es mir doch recht peinlich. Zudem saß mir die Angst im Nacken, dass die Miliz mich entdecken könnte. Für das Leben ohne Anmeldung konnte man 10 Jahre aufgebrummt bekommen. Im Lager hatten sie Personen, die wegen des Aufenthalts ohne festen Wohnsitz verurteilt worden waren, Penner. Dort hatte es sehr viele von denen gegeben und sie bekamen niemals einen Ausweis. Außerdem setzte ich auch meine Hauswirte einer ernsthaften Gefahr aus. Deswegen war ich bemüht, so spät wie möglich zu kommen, aber noch bevor alle schlafen gingen. Dabei konnte man allerdings schnell einen Fehler machen – indem man zu spät kam, wenn das Licht in der Wohnung bereits gelöscht war. In solchen Fällen begab ich mich in Soja Kosmodemjanskajas Gartenanlage, richtete mich auf der entfernten, durch Fliederbüsche verborgenen Bank ein und wartete dort mit Müh und Not, die ganze Nacht mit den Zähnen klappernd, auf die ersten Autobusse, in denen man sich wenigstens ein bisschen wieder aufwärmen konnte. Ich riskierte es nicht, die Nacht auf dem Bahnhof zu verbringen, wie die heutigen Penner es zu tun pflegen. Dort wurden ständig Razzien durchgeführt und die Wohnungslosen nach kurzer Gerichtsverhandlung in Lager gebracht.

Auf die Examina bereitete ich mich hauptsächlich in Jablonewka vor. Ion den Tagen, in denen ich mich in Tambow befand, ging ich in den Lesesaal. Leider war es dort sehr kalt. Für mich völlig unerwartet fand ich einen geeigneten Platz: im Kontor der Treibstoffabteilung des städtischen Exekutivkomitees. Dort gab es stets lange Schlangen und irgendwelche Möbel, auf denen man zumindest sitzen konnte. Ich stellte mich in die Schlange, holte mein Lehrbuch hervor und bewegte mich langsam zu der Tür, die ins Kabinett führte, wo ich mich dann auf das nächste Examen vorbereitete. Als ich schließlich an der Reihe war, reihte ich mich woanders wieder ein, indem ich darauf hinwies, dass mein Bruder gleich mit den nötigen Dokumenten käme.

Noch schlimmer war es um die Verpflegung bestellt. Die Lebensmittel, mit denen ich von Lalja vor der Fahrt nach Tambow versorgt worden war, hatte ich bei den Peterssons zurückgelassen, aber es war mir peinlich, zum Mittagessen dorthin zu gehen und mich noch einmal bloßzustellen. Ich aß, wie es sich gerade ergab, wer von den Bekannten mich bei sich bewirtete. Manchmal ging ich auch in die Studenten-Kantine. Selten kaufte ich im Milchladen ein Brötchen und ein Glas Sahne, doch damit floss das Geld dahin, und das war bei mir äußerst knapp.

Ende Dezember verschaffte Igorek mir eine Wohn- und Ess-Möglichkeit bei ihm bekannten alten Leuten, die in ihrem eigenen Haus in der Kirow-Straße 56 lebten, unweit unseres einstigen Hauses. An ihren Nachnamen kann ich mich noch erinnern – Sirawin. Sie hieß Klawdia Iwanowna, seinen Vornamen weiß ich nicht mehr. Igorek bezahlte sie in Naturalien, die er aus Pady mitbrachte – vorwiegend Kartoffeln. Ob er ihnen von meinem Problem mit der Aufenthaltsgenehmigung erzählt hatte, vermag ich nicht zu sagen. Wohl eher nicht. Ich ließ davon jedenfalls nichts verlauten. Aber das Problem und die damit verbundene Gefahr blieben. Auf Anraten Artjomenkos und mit seiner Petition begab ich mich zur Deputierten des Obersten Rats im Tambower Gebiet, der Mittelschullehrerin Bystrowa, damit sie mir die Erlaubnis erteilten, mich während der Zeit meiner Examina in Tambow aufzuhalten. Nach kurzem Gespräch setzte sie auch mein Gesuch den Vermerk: «Mit der Bitte, dem Antrag stattzugeben» und riet mir zur Miliz zu gehen. Nach reiflichen Überlegungen beschlosss ich, um keine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, nirgendwo hinzugehen. Das Blatt Papier habe ich noch lange in meinem Archiv aufbewahrt, aber später ist es dann irgendwo verloren gegangen.

Die Prüfungen für den zweiten Kurs zogen sich in die Länge. Als ich mich daran machte, hatte ich Nina versprochen, sie Mitte Dezember beendet zu haben. Doch es gelang nicht, diesen Plan zu verwirklichen. Im Zusammenhang mit Änderungen des Unterrichtsplans tauchten neue Fächer und gesonderte Themen auf, in denen weitere Prüfungen für das erste Semester abgelegt werden mussten. Zudem hatte ich mit Begeisterung einige Prüfungen in mathematischen Disziplinen absolviert und dabei die in den humanitären Disziplinen für später gelassen. Dieses Sich-Stürzen auf das Gebiet der mathematischen Disziplinen wurde von der Leitung der Korrespondenzabteilung unterbunden. Demzufolge musste ich Anfang Dezember noch Prüfungen in drei Fächern ablegen: Physik, Pädagogik und Grundlagen des Marxismus-Leninismus.

Die Examina in den mathematischen Disziplinen verliefen ohne besondere Probleme. In allen Fachgebieten erhielt ich eine Eins. Die Sache hatte nur einen Haken. Bei der Ausführung der Kontrollarbeit auf Konvergenz der Reihen benutzte ich in einigen Beispielen, anstelle der Quotenkriterien von d’Alembert und Kosch die weniger aussagekräftigen Kriterien von Raabe und Gauss. Ich wollte zeigen, dass meine Kenntnisse über den Rahmen der Programmanforderungen hinausgingen. Wie verwundert war ich, als mir drei Tage später die Laborantin, schuldbewusst lächelnd, die Kontrollarbeit zurückgab, die komplett mit roter Tinte durchgestrichen war. Empört darüber, was geschehen war, bat ich um ein Treffen mit dem Lehrer, der die Arbeit geprüft hatte. Es war Boris Klukwin, der erst kürzlich das Institut beendet hatte und erst im zweiten Jahr an der Fakultät tätig war. Nachdem er zugegeben hatte, dass ich im Recht war, bat er mich dennoch darum, die Arbeit neu zu schreiben, denn sie in dieser Form in der Akte zu belassen, war ihm peinlich. Ich war einverstanden. Zwischen uns entwickelten sich freundschaftliche Beziehungen, und in der Folge half er mir mehrfach aus der Klemme, indem er mir materielle Hilfe erwies.

Für den vollständigen zweiten Kurs zahlte ich erst Mitte Januar. In meinem Ârief vom 14., Januar bat ich Nina um ihre Zustimmung zur Verschiebung meiner Abfahrt nach Krasnojarsk:

«Ich kann mir vorstellen, wie quälend lang sich die Tage für dich hinziehen, wie viele unfreiwillige Qualen und Leiden ich dir mit meiner Verzögerung in Tambow bereitet habe.

Freilich wäre alles ganz anders gekommen, wenn ich sofort nach Krasnojarsk gefahren wäre. Aber du verstehst doch, dass ich die mir gebotenen Möglichkeiten nicht ablehnen konnte, zumal wir uns vor Eröffnung der schiffbaren Zeit sowieso nicht hätten wiedersehen können.

Ich verstehe sehr gut, dass es Momente gibt, die dieses Problem nur noch verschlimmern. Schließlich kommt der Glaube durch Glauben und die Zweifel durch Zweifel. Ich kann mir gut vorstellen, was die Leute sagen, die sich in deinem Umfeld befinden und nicht daran glauben, dass ich komme. Ihre Ungläubigkeit überträgt sich auf dich – und du leidest.

Meine Liebste, wenn ich doch nur ein Stündchen mit dir reden könnte, dann, davon bin ich überzeugt, würdest du neuen Glauben und neue Kraft gewinnen.

All meine Tage hier vergehen in harter Arbeit. Nur selten lege ich mich vor zwei-drei Uhr nachts schlafen. Von morgens bis in die tiefe Nacht sitze ich über den Büchern. Am 21. November habe ich mit den Examina begonnen, und innerhalb eines Monats und zwanzig Tagen 14 abgelegt und fast genauso viele Tests. Das sind vier Tage pro Examen, sogar weniger. Dabei habe ich nur drei von ihnen mit „gut“ bestanden, alle anderen mit einer „Eins“. Am 11. Januar haben sie im Protokoll vermerkt, dass ich den Lehrplan für das zweite Semester erfüllt habe und ins dritte versetzt worden bin, und außerdem den Abschluss des Lehrplans für die Wintersitzung im dritten Kurs. Überleg doch mal, bleibt denn dann noch zweit für irgendwelche Dinge nebenbei?

Das neue Jahr habe ich in Jablonewka begrüßt. An diesem Abend legten sich, wie gewöhnlich, Lalja, Igorek und die Kinder um zehn Uhr schlafen, während ich, bewaffnet mit Feder und Papier, mich hinsetzte, um dir zu schreiben und auf zwölf Uhr zu warten. In der Hütte (so nennt Igorek sein Häuschen) ist es ganz still. Vor mir auf dem Tisch die Kerosinlampe, von der ich ein ganz warmes Gesicht und warme Hände bekomme, aber die Füße frieren. Das Herz ist mir unsäglich schwer. In diesen Minuten kommt alles zusammen: die körperliche und seelische Müdigkeit, die Einsamkeit und die Sorge um euch.

Am achtundzwanzigsten habe ich dir ein Telegramm geschickt, in dem ich dich zum neuen Jahr beglückwünschte. Leider war es mir, trotz meines sehnlichsten Wunsches, nicht möglich dir wenigstens einen kleinen Geldbetrag zukommen zu lassen.


Tambow, 1952
Lalja und Igor mit den Kindern

Nur knapp übriggeblieben sind: 400 Rubel, von denen ich 300 für die Fahrt nach Krasnojarsk benötige. In demselben Glückwunsch-Telegramm schrieb ich, dass ich am 5. Januar Abreise, doch ich musste noch für einen speziellen Kursus eine Prüfung ablegen, ohne die sie mir die Versetzung vom zweiten ins dritte Semester nicht ausgestellt hätten».

Und ganz am Schluss desselben Briefes die unangenehme Überraschung für Nina – die Bitte um eine erneute Verschiebung des Abreisetermins.

«Nachdem am Elften alle Sachen erledigt waren, habe ich mich von den mir nahestehenden Lehrern verabschiedet: Dmitrij Trofimowitsch, Sergej Sergejewitsch, Aisek Asimowitsch Pjassetzkij, Boris Klukwin. Nachdem sie mich angehört hatten, fingen sie an sich zu empören: “Das ist schlichtweg ein Verbrechen, mittendrin alles aufzugeben”, «Man hat ihm die Möglichkeit gegeben, innerhalb eines Jahres gleich mehrere Kurse zu machen, und nun fährt er auf und davon», «Außerdem kannst du jetzt nicht Turuchansk fahren, du musst irgend woanders in der Region Krasnojarsk auf die Navigationszeit warten.”. Und Boris Klukwin, genau der, welcher seinerzeit meine Kontrollarbeit rot durchgestrichen hatte, gab mir 200 Rubel mit den Worten: «Hol damit deine Frau hierher, aber leg wenigstens noch für das zweite Halbjahr des dritten Kurses deine Prüfungen ab».

Mein Liebes, ich verstehe, wie schwer es für dich sein muss, aber versteh auch meine Situation. Bisweilen kommt es mir so vor, als würde ich verrückt von all der Anspannung, den Ängsten und Sorgen, verlöre die Macht über mich. Dann möchte ich alles hinwerfen und abreisen, um nur etwas näher bei euch sein zu können. Mein Liebes, versteh die Wichtigkeit all dessen, was ich hier tue. Das sind keine Marotten, es ist der einzige für uns mögliche Weg in ein würdiges Leben.

Ich bitte dich, mein Liebes, glaube an deinen Ro, hege keine einzige Minute Zweifel in ihn. Wäge alles ab, und wenn du es, trotz der Unmöglichkeit unseres Wiedersehens vor Beginn der Schifffahrtszeit, für notwendig hältst, dass ich nach Krasnojarsk komme, schick mir ein Telegramm und, glaube mir, dann werde ich diese ganze Angelegenheit hier stehen und liegen lassen und abreisen.

Und nun zum Brief. Ich habe lange nicht geschrieben, erstens, weil ich keine Zeit vom Unterricht abzweigen wollte, was meinen Aufenthalt hier nur unnötig verlängert hätte, aber vor allen Dingen, weil ich ja jeden Tag abreisen wollte. Aber warum schreibst du denn nicht? Wie ist es um deine und Valeriks Gesundheit bestellt? Was macht die Arbeit? Bei wem wohnst du?

Küsse Valerik von mir, er soll auf den Papa nicht böse sein. Ich küsse dich ganz, ganz fest. Dein Ro, euer Papa.»

Am siebzehnten Januar erhielt ich ein Telegramm von Nina: "Studiere in Ruhe, habe zwei geschrieben, deinen erhalten, sind gesund, küssen dich = Nina". Erleichtert widmete ich mich meinem Studium. Bis zum 20. Januar mussten die Prüfungen für den dritten Kurs in Differentialgeometrie, die Geschichte der Pädagogik und der politischen Ökonomie (Kapitalismus) abgelegt werden.

Während ich meine Examina bestand, änderten sich meine Zukunftspläne. Während ich noch davon träumte, im November das zweite und im Dezember das dritte Jahr zu absolvieren, plante ich bereits Ende Januar, nachdem ich zwei weitere Mathematikfächer mit Bravour bestanden hatte, das Staatsexamen abzulegen. Natürlich war ich mir bewusst, welchen Schaden ich Nina mit jeder weiteren Verzögerung der Ankunft in Krasnojarsk zufügte. Alle meine Briefe aus dieser Zeit sind daher voll von Liebeserklärungen, Treuebekundungen, Erklärungen über die Zweckmäßigkeit einer weiteren Ausbildung, einer höheren Bildung. Das Hauptargument ist, dass es unmöglich ist, vor der Öffnung der Schifffahrt nach Turuchansk zu kommen. Was würde es nützen, wenn ich in einer Stadt oder einem Dorf in der Region Krasnojarsk leben würde? In Krasnojarsk selbst konnte ich auch nicht wohnen.

Doch all dies half wenig. Nina lebte in ihrem eigenen Umfeld. Ihre Bekannten dachten, ich würde sie nur "durcheinanderbringen". Dass ich wahrscheinlich schon längst eine Frau gefunden hätte und sicher nie in eine Absteige wie Turukhansk kommen würde.

In der zweiten Januarhälfte wurde Nina zum KGB vorgeladen. In ihrer Todesangst ging sie mit Valerik dort hin. Der diensthabende Wachtmeister verlangte, dass sie allein ins Büro des Chefs gehen und Valerik im Empfangsraum lassen solle. Nina, die sich dieser Forderung widersetzte, verlangte zu erfahren, warum sie vorgeladen worden war. Der Unteroffizier wusste es nicht oder wollte es nicht sagen und bestand darauf, dass sie Valerik zurückließe und versuchte sogar, ihn mit Gewalt fortzubringen. Erschrocken über das, was geschah, begann Valerik laut zu weinen

 

Eine mit Kunstleder beschlagene Tür öffnete sich, und ein Stabshauptmann trat in den Empfangsraum. In voller NKWD-Uniform. Auf dem Kopf eine Mütze mit himbeerfarbenem Rand. Offensichtlich der Chef.

- Was ist los, warum ist das Kind hier? – fragte er den Sergeanten.

- Na, aufgrund Ihrer Vorladung, Ihrer Benachrichtigung, kam diese Bürgerin und hat ihr Kind mitgebracht, - antwortete der Sergeant.

- Warum sind Sie mit dem Kind gekommen? – wandte sich der Leiter nun an Nina.

- Es gab niemanden, wo ich es lassen konnte, - erwiderte sie.

- Lassen Sie es hier im Empfangszimmer beim Sergeanten, - verlangte der Leiter.

- Nein, nein, nur nicht das, - rief Nina aus und drückte Valerik noch fester an sich.

- Aber mit dem Kind – das geht nicht, - widersprach der Hauptmann überraschend ruhig, - ich muss eine Aussage aufnehmen.

- Was für eine Aussage, worüber, über wen?

- Kannten Sie Romanzewa?

- Freilich kannte ich sie. Und das ist alles? Wollen Sie mich lediglich über sie befragen? Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt, - fragte Nina, nachdem sie sich beruhigt hatte. Und dann erzählte sie alles, was sie wusste. Sie konnte nichts Neues mitteilen.

- Haben Sie mit ihr noch Kontakt?

- Selbstverständlich nicht, denn ich weiß ja nicht, wie ihr weiteres Schicksal verlaufen ist, und ich kann auch nichts über ihr vergangenes Leben sagen! Seinerzeit hatte ich den Ermittlungsrichter gebeten, eine Gegenüberstellung vorzunehmen. Dann hätte sich alles aufgeklärt.

Der Hauptmann schrieb das Protokoll und tat so, als sei damit alles erledigt.

Doch so schien es nur. Beim örtlichen KGB interessierte man sich dafür, weshalb sie, eine Verbannte, in Turuchansk wohnt und im Büro arbeitet, anstatt sich bei allgemeinen Arbeiten in Seliwanicha aufzuhalten. Über ihr hing die Bedrohung einer Entlassung oder bestenfalls einer Versetzung in irgendeine “Siedlung”, beispielsweise, in eben jenes Seliwanicha. Janina Jossifowna war gezwungen sie als Buchhalterin der Kantine an den Flughafen zu versetzen. Einige Zeit arbeitete sie nicht. Von all dem erfuhr ich erst später, aber bis dahin kam lediglich ein Telegramm, in dem Nina mir mitteilte, dass sie ohne Arbeit sei.

Was sollte ich tun? Lalja konnte nicht helfen. Sie arbeitete in der Schule, unterrichtete Deutsch und erhielt nicht mehr als 600 Rubel im Monat, möglicherweise auch weniger. Igorek, der als Leiter der Hilfswirtschaft tätig war, hatte ständig mit Leuten zu tun, mit denen die Beziehungen auf Wodka gebaut waren. Er, ein guter und teilnahmsvoller Mann, liebte Lalja allem Anschein nach, aber er trank – und das ziemlich viel. Von seinem Gehalt blieb nichts übrig. Und dabei gehörten vier Personen zur Familie. Alle mussten ernährt, gekleidet und mit Schuhen versorgt werden. Und nun war auch noch ich über ihren Köpfen herabgerollt. Wenn es nur für ein-zwei Tage gewesen wäre oder eine Woche. Das ging also nicht; zuerst ein Monat in Jablonenka, dann ein halbes Jahr in Tambow bei den Sirawins. Sie mussten ihre Miete für die Wohnung zahlen, wenn auch nicht mit Geld, so doch in Naturalien, aber bezahlen mussten sie. Sie mussten mich miternähren, denn ich hatte kein eigenes Geld.

Ich musste Nina zweihundert der vierhundert Rubel, die für die Fahrt vorgesehen waren, überweisen. Die mussten unbedingt ersetzt werden. Man wusste nie, was passieren konnte. Plötzlich musst du dringend nach Krasnojarsk! Außerdem benötigte ich selbst auch Geld, mindestens 4-5 Rubel am Tag. Ich konnte meiner Schwester nicht so lange auf der Tasche liegen, umso mehr als die Ärzte bei ihr eine Rippenfellentzündung festgestellt und ihr kräftigende Nahrung «verordnet» hatten. Es blieb nur ein Ausweg: ich musste in die Region Krasnojarsk fahren und mir Arbeit suchen. Erneut mischte sich Boris Klukwin ein. Er brachte mich zu einer bekannten Lehrerin – aus irgendeinem Grund entschied ich, dass es sich um seine Schwester handeln musste – und überredete sie, für mich Studenten zu finden, die mich gut bezahlten, aber nicht allzu leistungsschwach waren.

Sie murrte zwar anlässlich der gestellten Bedingungen, versprach aber trotzdem, zwei ihrer Fünfenschreiber auszuwählen. Das sollte mir zu 300-400 Rubel im Monat verhelfen. Einstweilen hatte sie bis zum Februar einen ausgesucht. Unterricht dreimal die Woche. Ich musste zu ihm nach Hause oder in die Schule fahren. Das machten 150 Rubel monatlich. Außerdem machte sie sechs Flugzeugführer ausfindig, die sich auf die Akademie vorbereiten mussten. Allerdings zeigten zwei von ihnen in ihren Leistungen derart schwach, dass keinerlei Hoffnung für ihre gute Vorbereitung innerhalb der gesetzten Frist bestand, so dass ich gezwungen war ihnen eine Absage zu erteilen. Zwei blieben übrig, und die nahmen unregelmäßig an den Stunden teil. Die hatten mal eine Besprechung, mal eine Sitzung oder sonst irgendetwas auf der Arbeit. Im Februar erhielt ich von ihnen lediglich 150 Rubel. Insgesamt verdiente ich 300, von denen ich teilweise meine Ausbildung im Fernunterricht bestreiten musste. Den Rest schickte ich Nina. Freilich hätte ich mehr Stunden geben könnten, aber das hätte viel Zeit gekostet und hätte meine Prüfungen in die Länge gezogen, mit denen ich schnell fertig werden wollte.

Die Lage wurde dadurch erschwert, dass ich von Nina nur vereinzelt Telegramme erhielt. Anscheinend hatte sie, verwirrt durch meine ständig sich ändernden Abreisetermine und weil sie nicht wollte, dass ihre Briefe in fremde Hände gerieten, einfach keine geschrieben. Da ich nicht wusste, ob sie arbeitete und von welchen Mitteln und wo sie wohnte, konnte keine richtige Entscheidung treffen. Außerdem vermisste ich einfach ihre Briefe, ihre Handschrift. Schließlich, am 10. Februar, erhielt ich gleichzeitig drei Briefe. Aus ihnen sprachen Sehnsucht und Sorge. Beharrlich, von Brief zu Brief, derselbe Gedanke: ich liebe sie nicht mehr, ihr Leben, ihr Schicksal seien mir gleichgültig, ich sei nur mit mir selbst, meinen Ideen beschäftigt und fröne meiner Selbstliebe. An meinem Arbeitsplatz halten sie mich entgegen den Forderungen des KGB. Jede Minute können sie mich davonjagen und was dann? So starker Frost, und sie haben nichts anzuziehen.

In meinen Briefen redete ich nach wie vor auf sie ein, versuchte zu überzeugen, zu beweisen, bat sie mir zu glauben, darauf zu bauen, dass wir eine gemeinsame, notwendige Sache betrieben. Zugleich wuchs ein Gefühl des inneren Protests. Ich war davon überzeugt, dass ich eine Heldentat beging, dass ich mich zu unserem gemeinsamen Wohl abmühte, während sie, der Mensch, der mir am nächsten stand, dass nicht begreifen konnte oder wollte. Immer wieder kam der Wunsch auf, alles stehen und liegen zu lassen und nach Krasnojarsk zu fahren, damit sie dann von Reue gequält wurde. Ich wollte, dass jemand Mitleide mit mir hatte, mich lobte. Denn wenn es die finanziellen Probleme nicht gegeben hätte, hätte ich ohne besondere Mühe innerhalb von sechs-sieben Monaten die mathematische Fakultät abgeschlossen. “Wenn das keine Heldentat ist, dann soll mir das mal einer nachmachen”, - dachte ich. Allerdings unterdrückte ich diese Gefühle in mir, indem ich mir vorstellte, in was für einer schwierigen Situation sich Nina befand und worauf ihre Zweifel sich gründeten. Und trotzdem wollte mich das Selbstmitleid nicht verlassen.

Aber egal wie schwierig es für mich war und welche düsteren Gedanken mich befielen – die Prüfungen gingen weiter, vielleicht nicht so schnell, wie ich es gern gewollt hätte. Am 28. Januar legte ich die Prüfung in Differential-Geometrie ab. Ich hatte mich nach dem Norden-Lehrbuch vorbereitet. Ich rechnete sämtliche dort verfügbaren Aufgaben durch. Ich fand eine Reihe von Antworten, die mir falsch erschienen. Aisek Asimowitsch Pjassezkij, der das Examen abnahm und sie nach seinen Aufzeichnungen überprüfte, war zufrieden und gab mir eine Eins, nachdem er meine Erklärungen angehört hatte.

Am zehnten Februar bestand ich auch die Prüfung in Zahlentheorie mit „sehr gut“ und am siebzehnten – die Grundlagen der Geometrie. Für mich hatte die Bewertung in Grundlagen-Geometrie vorrangige Bedeutung. Damals legte ich diese Prüfung, meinen Kommilitonen zuvorkommend, bei W.F. Kagan ab, dem größten Spezialisten und der größten Autoritätsperson auf diesem Gebiet. Ich wollte die ausgezeichnete Beurteilung, die er mir vor zehn Jahren gegeben hatte, unbedingt bestätigen, umso mehr, als ich in den tiefen meiner Seele davon träumte, meine Fern-Aspirantur bei ihm zu belegen. Pjassezkij, der mich prüfte, blieb zufrieden und machte mir zahlreiche Komplimente aufgrund meines Könnens und meiner Energie.

Jetzt, Mitte Februar, musste ich nur noch acht Semesterprüfungen bestehen, um die staatliche Zulassung zu erhalten. Ich begann mich auf die projektive und deskriptive Geometrie vorzubereiten. Ein äußerst umfangreiches Material. Für die Vorbereitung hatte ich eine Woche angesetzt, begriff aber schon sehr bald, dass ich nicht weniger als zehn Tage benötigen würde. Und so kam es auch. Am achtundzwanzigsten begab ich mich zur Prüfung. Leider erschien der Lehrer nicht, er war krank geworden. Was sollte ich tun? Ein anderes Fach vorbereiten, ohne diese Prüfung abgelegt zu haben, konnte ich nicht. Bei meiner Methode musste ich in einem vorbereiteten Fach erst die entsprechende Prüfung abgelegt haben, bevor ich die nächste in Angriff nahm. Andernfalls würde im Kopf nur alles durcheinandergeraten.

Ich war entsetzlich müde, fühlte, dass jedes neue Fach mir immer mehr Mühe abverlangte. Und die Zeit rannte, schnell wie ein Pfeil, dahin. Kaum war man morgens aufgestanden, zu den Schülern geeilt, hatte das beabsichtigte Lehrmaterial durchgearbeitet – da war schon wieder später Abend. Die Prüfung in deskriptiver und projektiver Geometrie absolvierte ich am dritten März mit „sehr gut“ und begann mich anschließend sofort auf die Methodik der Mathematik vorzubereiten. Ich machte das entsprechende Examen am zehnten März, ebenfalls mit „sehr gut“.

Bis jetzt hatte ich Glück gehabt, aber wie würde es nun weitergehen? Ich war entsetzlich müde. Zeitweise hätte ich am liebsten alles hingeworfen, um mich auszuruhen. Besonders schwer war es für mich nach der nächsten Prüfung: Erschöpfung, geistige Leere. Ich kam mir überall fremd und nutzlos vor. Die Leute wunderten sich über meine Erfolge, lobten mich, aber durch ihren Tonfall drang stets hindurch: «was kümmert uns das alles». Es schätzten wohl nur wenige Oberstufenschüler, in deren Gegenwart ich oft Prüfungen ablegen musste, meine Erfolge. Sie brauchten nichts erzählen. Alles geschah unmittelbar vor ihren Augen. In der Regel nahm der Lehrer, der die Prüfung abnahm, mich mit in seinen Unterricht. Während er seine Vorlesung hielt, saß ich in der ersten Bank und bereitete mich auf die Antwort vor. Das Examen selbst begann unmittelbar nach dem Klingeln, hier, im Auditorium, in Anwesenheit der Studenten. Einige von ihnen lernte ich kennen. Als im Januar die Zeit der Prüfungen in der Krankenstation begann, kam ich auf ihr Bitten in die Fakultät, setzte mich in den Korridor und löste die mir aus dem Auditorium gelieferten Aufgaben. Danach luden sie mich in die Mensa ein, um das Examen zu feiern.

Einmal, als ich wieder eine Prüfung abgelegt hatte, traf ich Nina Petschonkina, mit der ich früher einmal in derselben Gruppe unterrichtet worden war. Sie freute sich und lud mich zu sich nach Hause ein. Sie bereitete Tee zu und stellte etwas Süßes dazu. Wir fingen an uns zu erinnern. Vieles erzählte sie vom Schicksal unserer gemeinsamen Bekannten: über Saschin, Filin, Rita Konjuchowna. Es stellte sich heraus, dass Letztgenannte in der Suworowsker Fachschule tätig und mit Jakowlew verheiratet war. Ich verbarg sorgfältig die Aufregung, die mich ergriff.

Petschonkina selbst unterrichtete ebenfalls. Nach allem zu urteilen lebte sie allein. Sie sah jung aus mit ihren blond gefärbten Haaren und den gezupften Augenbrauen. Ich fragte nicht, ob sie verheiratet sei. Unser Teetrinken wiederholte sich noch zwei-, dreimal, wobei ich über mein Lagerleben berichtete, Nina und Valerik jedoch nicht erwähnte. Seitdem lud sie mich nicht mehr ein.

Schwierig und merkwürdig entwickelte sich die Beziehung zwischen mir und Sascha - Kljukwins «Schwester». Empört von Boris, wie es ihr schien, dreisten Forderung, für mich zahlungskräftige und nicht allzu verwahrloste Schüler zu suchen, sprach sie mit mir durch die Zähne, und untersuchte in meiner Gegenwart meine Schützlinge mit Leidenschaft. Das verstimmte mich. Es war so ungewohnt, dass jemand mich hassen konnte. Mit allen Kräften versuchte ich zu beweisen, dass ich ein aufrichtiger, ordentlicher Mensch sei. Nebenbei sprach ich, ebenso wie Petschonkina, über mein Leben im Lager, mein Studium, aber aufgrund meiner bitteren Erfahrung sprach in weder von Nina noch von Valerik. Umso mehr, als sie auch keine Fragen über meine familiäre Situation stellte. Zudem war ich überzeugt, dass Boris ihr mit Sicherheit darüber berichten würde. Nach und nach verbesserten sich unsere Beziehungen. Sascha begann sich systematisch für meine Lernerfolge zu interessieren, und das war wie Balsam für meine nach Lob dürstende Seele. Ein paarmal ging ich ins Kino. Wer der Urheber dieser Idee war, weiß ich heute schon nicht mehr. Nach ihrem Charakter zu urteile, hätte die Initiative von ihr ausgegangen sein können. Eine solche Wendung der Dinge machte mir Angst, aber ich konnte die Entwicklung der Dinge nicht aufhalten. In dem Gefühl auf eine schiefe Ebene zu geraten, schrieb ich lange, sehnsuchtsvolle und zärtliche Briefe nach Turuchansk. Und das, worüber ich schrieb, war nicht gelogen. Ich dachte tatsächlich ständig mit viel Liebe an die beiden, mir so teuren, Turuchansker, empfand riesige Zuneigung zu Nina. Damit Sascha nicht irgendwelche weitreichenden Pläne schmiedete, sagte ich, dass ich laut Vorschrift in Turuchansk bleiben müsste, wohin ich nach Abschluss des Instituts verpflichtend zurückzukehren hätte.

Indessen setzten sich meine Unterrichtsstunden am Institut fort. Sofort nach dem Examen in Methodik der Mathematik musste ich ein Referat schreiben und auf einem Sonder-Seminar einen Vortrag halten. An der Vorbereitung des Vortrags und des Referats saß ich, ohne Unterbrechung, zwei Tage und Nächte, wonach mir der Kopf dermaßen wehtat, dass ich kein Buch in den Händen halten konnte. Sobald es mir etwas besser ging, begann ich mich auf die Methodik der Physik und Technik des Schulexperiments vorzubereiten. Am zwanzigsten ging ich morgens zu Prüfung. Ich steckte den ganzen Tag im Laboratorium und bekam eine Zwei. Das hatte ich keineswegs erwartet, und im Übrigen bereitete es mir auch keinen Verdruss. Ich begriff, dass ich im Großen und Ganzen auf den Anspruch eine Eins zu bekommen verzichten musste.

Bis zum Beginn des Staatsexamens in der Krankenstation blieben noch eineinhalb-zwei Monate. Aber es mussten noch mindestens sieben Examina abgelegt werden, darunter zwei in theoretischer Mechanik, zwei in politischer Ökonomie, ein Examen in der Geschichte der Pädagogik, der Funktionstheorie, Astronomie sowie einige Tests. Im Großen und Ganzen eine für mich gewohnte Angelegenheit, aber mein Befinden beunruhigte mich – ich hatte häufig Kopfschmerzen, litt an Erkältungen. Vermutlich war mein Herbstmantel daran schuld. Ich beschloss, dass ich, wenn die Kraft nicht reichte, die Prüfungen im Herbst oder im nächsten Jahr absolvieren würde, aber dann bereits in Krasnojarsk. Auch die Sehnsucht nach Nina ließ mir keine Ruhe, der nahende Frühling zeigte wohl seine Auswirkungen! In meinem Brief vom 30. Mi an sie schrieb ich: «... Nun habe ich schon eine Woche lang nichts mehr von dir bekommen. Was ist los, ihr seid doch nicht krank? Jeden Morgen warte ich ungeduldig auf den Postboten. Aber er kommt mit leeren Händen. Von niemandem eine Nachricht, obwohl ich auch selbst an niemanden schreibe, nur an dich. Lalja ist an einer Lungenentzündung erkrankt – schon zum vierten Mal in ihrem Leben. Morgen oder übermorgen werde ich bei ihr vorbeischauen, ich habe sie bereits eineinhalb Monate nicht gesehen.

Ab dem 22. Bereite ich auf die theoretische Mechanik vor, aber die Dinge kommen langsam voran, mein Gehirn ist offenbar nicht mehr so stark, ich bin in diesen fünf Monaten sehr müde geworden. Es wäre schade, wenn ich es bis zu meiner Abreise nicht schaffe. Schließlich sind nur noch drei wichtige Fächer übriggeblieben: theoretische Mechanik, politische Ökonomie und die Geschichte der Pädagogik.

Auf der anderen Seite ist jeder Tag so mühevoll. Ich fühle mich einsam, heimatlos. Ich denke immer nur – ich war schon mehr als zehn Jahre in keinem richtigen Zuhause, habe nicht in meinem eigenen Bett geschlafen, habe nichts gegessen, ohne zu denken, dass es etwas Fremdes ist.

Egal wie die Bedingungen in Turuchansk auch sein mögen, aber ich möchte schnell bei euch sein, das heißt – zu Hause. Wie schön wäre es, wenn du bis zu meiner Ankunft das Zimmer halten könntest, damit wir für uns wären. Sonst hätten wir ständig die Öffentlichkeit um uns herum.

Wie sehr ich von jener Minute träume, wenn ich neben dir im sauberen Bett liege, deinen Herzschlag höre, deine Wärme spüre. Wenn du wüsstest, wie sehr ich mich nach dir sehne. Ja, genau, nach dir ganz persönlich. Freilich liebe ich Valerik, möchte ihn auf meinen Armen halten, mit ihm spielen, ihn großziehen, aber ich wiederhole immer wieder, dass ich ihn durch die Liebe zu dir liebhabe. Und mich motiviert nicht die Verpflichtung ihm gegenüber, sondern die Liebe zu dir und ihm!

Ich bin des Alleinseins so müde, sehne mich so sehr nach deinen Umarmungen, deiner Zärtlichkeit! Und an ihrer Stelle nur Bücher, Formulare, Zahlen, Daten, dass der ganze Kopf sich dreht. Der Stress kann dich dazu bringen, diese ganze Bücherweisheit zu hassen, die mir, bei aller Liebe zu ihr, nicht eine deiner Berührungen ersetzen kann.»

Aber Frühling ist Frühling, Müdigkeit ist Müdigkeit, Prüfungen sind Prüfungen. Am neunundzwanzigsten März habe ich mit der Vorbereitung des Kurses in theoretischer Mechanik begonnen. Am neunten April habe ich den ersten Teil der Prüfung abgelegt, am zweiundzwanzigsten – den zweiten. Beide mit „sehr gut“. Insgesamt habe ich für diese beiden Examina 24 Tage benötigt. Für kein einziges Fach habe ich so viel Zeit verbraucht. Ich habe mich besonders sorgsam darauf vorbereitet, denn die Prüfung wurde von einem Lehrer abgenommen, der, nach Auskunft der Studenten, noch nie niemandem jemals die Note „sehr gut“ erteilt hat, und eine Zwei nur Mädchen mit schönen Beinen. Es war eine Sache des Prinzips, und mein Sieg steigerte meine Autorität unter den Studenten des vierten Kurses merklich.

Die ganze Zeit ließ mir der Gedanke an eine Begegnung mit Rita keine Ruhe. Und dann schließlich, ermutigt durch die hervorragende Bewertung und weil es so ein durchdringend heller Frühlingstag war, machte ich mich auf den Weg zum alten Institutsgebäude, wo jetzt die Suworowsker Fachschule untergebracht ist. Eine strenge Architektur, ohne viel Drumherum. Von der Zeit nachgedunkelte Ziegelsteine. Die gusseiserne Ligatur an der Eingangstür. Die von grünem Dunst umgebenen Bäume. Und gegen über jene stille, ruhige und friedliche Grünanlage. Ich setze mich auf eine Bank und beobachte die Menschen, die hinein- und hinausgehen. Es sind nur wenige. Vor allem Männer in Militäruniform. Die Frühlingssonne wärmt meinen Rücken, mein Gesicht befindet sich im Schatten.

Es ertönte ein durch die dicken Mauern gedämpfter Glockenton. Aus der Tür quoll eine Horde Surowow-Schüler. Nachdem die Jungen die Straße überquert hatten, eilten sie zur Grünanlage. Sie warfen Steinchen, schubsten sich gegenseitig und kehrten dann sogleich wieder zurück.

Ich sitze hier schon über eine Stunde. Schwierige Gefühle kämpfen in mir. Ich möchte Rita gern sehen. Nur sehen. Umso mehr, als sie verheiratet ist. Schließlich ist das kein Verrat an meiner Beziehung zu Nina. Aber die Zeit! Hier vergeude ich sie nur. Vielleicht befindet sie sich heute, jetzt nicht im Gebäude. Und wie lange werde ich hier sitzen. Ich muss gehen, mit der Vorbereitung des nächsten Fachs beginnen.

Eine weitere Stunde vergeht. Die Sonne ist merklich gewandert und wärmt jetzt schon nicht mehr nur meinen Rücken, sondern auch meine linke Seite. Die nervliche Anspannung wächst. Weshalb sitze ich eigentlich hier, auf was hoffe ich, worauf warte ich?

Und dann, endlich, erschien sie in der sich kaum merklich öffnenden Tür. Ich erkenne sie sofort, trotz der Militäruniform und des ungewohnten Haarschnitts. In meiner Seele erbebt alles. Ich krallte mich an der Bank fest, bemüht, meine Aufregung nicht zu zeigen. Sie, vertieft in ihre Gedanken, geht vorüber. Minute um Minute vergrößert sich die Entfernung zwischen uns. Warum habe ich sie nicht angehalten? Wir hätten uns doch zumindest ein wenig unterhalten, einiges klären können. Doch die Zeit ist verloren, wir können sie jetzt nicht mehr einholen. Und dennoch stehe ich auf und folge ihr. Ich gehe in einiger Entfernung, kann mich weder entschließen, mich ihr schneller zu nähern noch den Rückweg anzutreten. Mir kommt der Gedanke eine rein zufällige Begegnung zu inszenieren. Dafür muss ich sie überholen, dann umkehren und ihr entgegengehen. Das zu machen ist einfach, zumal sie langsam geht. Und dann überlege ich, was ich zu ihr sage, was ich sie frage. Und dann – wozu das alles, wenn sie doch so wenig mit meiner Verhaftung zu tun gehabt hatte. Ob sie nicht denken wird, dass ich mich rächen will. Nein, das darf nicht sein! Ich bleibe stehen, beobachte noch ein paar Sekunden ihre sich weiter entfernende Gestalt, drehe mich um und gehe nach Hause, wo die Lehrbücher und Konspekte schon auf mich warten.

Den ganzen Abend, die ganze Nacht quäle ich mich mit Zweifeln. Am nächsten Tag ging ich zu ihr nach Hause und lief etwa eine Stunde lang auf der gegenüberliegenden Straßenseite herum, in der Hoffnung, sie noch einmal zu sehen. Aber schon bald begriff ich, dass ich mich ihr sowieso nicht nähern könnte, und wozu auch? Eine derartige Begegnung hätte keinerlei Perspektiven. Auf mich warten Nina, Valerik, ich liebe sie. Rita hat ihren – Jakowlew. Und das Alte wieder aufwühlen – wozu das? Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging nach Hause, um mich auf das nächste Examen vorzubereiten.

Ende Mai waren nur noch die letzten «Ausläufer» nach: die Geschichte der Pädagogik für den dritten Kurs und politische Ökonomie für den vierten. Ich wusste nicht, wie ich in die Prüfungen eintreten sollte. Wären es nicht die letzten beiden, sondern reguläre Examina gewesen, zum Beispiel für den fünften Kurs, dann hätte ich sie abgeschlossen und wäre nach Krasnojarsk gefahren.

Zu allem Überfluss verschlechterten sich auch noch die Beziehungen zu den Hauswirtsleuten, besonders nachdem Sascha, die mich aus den Augen verloren hatte, meine Adresse bei den Kljukwins herausgefunden und die alten Leute aufgesucht hatte. Es stellte sich heraus, dass sie für mich noch einen Schüler gefunden hatte. Sie saß mit mir über eine Stunde zusammen, in deren Verlauf Klawdia Iwanowna im benachbarten Wohnzimmer heftig auf die umgestellten Möbel schlug. Offenbar hielt sie mein Verhalten für Verrat in Bezug auf Nina.

Seitdem sprach sie mit mir stets mit zusammengebissenen Zähnen, schimpfte über jede Kleinigkeit, vor allem über die hohen Stromkosten: “Man muss den Unterricht tagsüber abhalten und nicht stattdessen irgendwohin rennen”, - machte sie ihrem Ärger Luft.

All meine Erklärungsversuche führten zu nichts. Und das empfand ich als sehr kränkend, umso mehr als meine Beziehungen zu Sascha, so schien es mir zumindest, rein sachlicher Natur waren. Außerdem war ich schlichtweg zu erschöpft vom Hin- und Herlaufen zu den Schülern, der Vorbereitung auf die Prüfungen und den alltäglichen Problemen. Meine Oberhemden waren abgetragen, von den Socken sah man nur noch Löcher. Viele Probleme gab es mit dem Wäschewaschen. Ich versuchte dies im Badehaus zu erledigen, aber dafür musste man eine Nummer ziehen, und das kostete sieben Rubel. Frei verfügbares Geld, außer den Beträgen, die ich für die Fahrkarte nach Krasnojarsk und zum Überweisen an Nina zurückgelegt hatte, besaß ich nicht. Ich wusch zu Hause im Handwaschbecken. Ganz schlimm war es ums Essen bestellt. Nach meinem Streitgespräch mit der Wirtin versuchte ich, so selten wie möglich zum Mittagessen nach Hause zu kommen. Verpflegt wurde ich von den Eltern meiner Schüler und von Sascha. Oft legte ich mich schlafen, ohne zu Mittag und zu Abend gegessen zu haben. Die Vorbereitung auf die Examina wurde durch die Nachhilfestunden erschwert. Den gesamten April und Mai beschäftigte ich mit drei Schülern, zu denen ich aus Mangel an eigener Heizkohle fahren musste, wobei ich wertvolle Zeit verlor. Auch meine entsetzliche Abgespanntheit machte sich bemerkbar. Und dennoch bereitete ich den ersten Teil in politischer Ökonomie (Kapitalismus) sehr gewissenhaft und in insgesamt vierzehn Tagen vor. Zum soundsovielten Mal sah ich den ersten Band des «Kapitals» und jede Menge anderer Literatur durch. Ich fühlte, dass ich das Material im Vergleich zu den anderen Studenten kannte. Umso mehr, als ich mich mit Gajdenko und Jerschow ausgiebig damit befasste. Aber trotzdem gab mir der Lehrer lediglich eine Zwei. Das war kränkend. Wenn ich mich irgendwo geirrt oder er mich korrigiert hätte – aber er tat es einfach deswegen, weil ich Fernstudent war und er es nicht gewohnt war, Fernstudenten eine Eins zu erteilen. Zudem, wie er dem Dekan sagte, hatte ich selbst zugegeben, dass mir erst jetzt die Konturen eines so großartigen Werkes wie dem “Kapital” klar geworden waren. Noch weniger Chancen hatte ich in der Ökonomie des Sozialismus sowie der Geschichte der Pädagogik hervorragende Noten zu bekommen.

Vom 11. Bis 16.Mai durchlief ich die pädagogische Praxis in der neunten Klasse der vertrauten Schule unter der Leitung meiner alten und geliebten Mathematik-Lehrerin Galina Aleksandrowna Aninskaja.

Am 27. Mai absolvierte ich dann endlich die Prüfung in der politischen Ökonomie des Sozialismus. Ich erhielt eine Zwei. Für eine Eins hatte meine Kraft nicht mehr gereicht, zudem gab es keinerlei Lehrbücher, alles musste aus fremden Konspekten und Mitschriften der Vorlesungen erarbeitet werden.

Bis zum Beginn der Staatsexamina blieb noch ein Monat Zeit. Dabei lagen noch drei nicht absolvierte Prüfungen vor mir: in der Geschichte der Pädagogik, in Astronomie, in der Theorie der Funktionen der Real-Variablen sowie ein Bericht über Schulhygiene. Und dann musste ich mich auch noch auf das erste Staatsexamen vorbereiten. Dafür reichte eindeutig die Zeit nicht. Es blieb nur eine Möglichkeit – die Staatsexamina zusammen mit den Fernstudenten zu absolvieren, aber die sollten laut Zeitplan vom 25. Juni bis 25. Juli stattfinden. Zweifel quälten mich. Sollte ich den Zeitpunkt meiner Abreise erneut verschieben – nun bis zum ersten August? Das war schlichtweg schrecklich. Für Außenstehende war es sehr einfach zu urteilen und sich über meine leichtfertige Entscheidung zu wundern, die Staatsprüfungen nicht zu absolvieren. Sie sagten: «Er hat solche Berge versetzt; nun bleiben nur noch Kleinigkeiten und plötzlich wirft er alles hin». Konnten sie den verstehen, dass ich erschöpft war, dass ich keine physischen noch geistigen Kräfte mehr besaß, um diese Hetze fortzusetzen. Ich leas zum zehnten Mal dasselbe, aber der Kopf nahm nichts mehr auf. Ich wollte alles hinschmeißen und mich mit etwas anderem beschäftigen. Der Organismus leistete Widerstand gegen meine allerletzten Bemühungen. Wenn ich doch wenigstens für einen Monat pausieren, nach Turuchansk fahren, Kopf und Seele ausruhen könnte, würde ich all das scherzhaft beenden, aber so ...

Und trotzdem fing ich am 27. Mai damit an, mich auf die Geschichte der Pädagogik vorzubereiten. Ein für mich schwieriges Fach. Im Lehrbuch mehr als vierhundert Seiten, von denen alle neuen sechs Seiten einem anderen Pädagogen gewidmet waren. Und alle ähneln einander so sehr, und jeder von ihnen hat irgendetwas gemacht, geschrieben, und niemand schert sich um sie, mit Ausnahme der Studenten und Prüfer. Ein wahres Sammelsurium. Ich las und las, konnte aber nichts behalten. Verzweiflung erfasste mich. Schließlich war das Ende des dritten Kurses, und ich musste die Prüfung unter allen Umständen ablegen. Und so beschloss ich am nächsten Morgen zur Prüfung zu gehen und sie mit einem “Hurra” zu bestehen. Wenn ich es schaffe – mein Glück, wenn nicht – dann werde ich sie nicht noch einmal machen, sondern den Marathon beenden und abreisen.

Es kam der Morgen des Siebten. Im Kopfe ging alles durcheinander: Locke, Kamenskij, Pestalozzi, Rousseau usw. Insgesamt 68 Pädagogen. Ich war überzeugt, dass ich es nicht schaffen würde. Als ich mir den Schein holte, war alles plötzlich ganz einfach und klar. Alles Unnütze fiel von mir ab. Ich bekam eine Zwei. Was da für eine Last von meinen Schultern fiel. Schließlich hatte ich diese Prüfung seit Januar immer wieder hinausgezögert. Sie wurde mehrfach angenommen und verschoben.

Am neunten Juni machte ich die Astronomie-Prüfung mit einem „Sehr gut“, am zehnten – schrieb ich den Test in Schulhygiene und am sechzehnten schaffte ich, ebenfalls mit „Sehr gut“ das Examen in der Theorie Funktionen einer reellen Variablen. Das letzte Examen bereitete ich mit Vergnügen vor: reine Mathematik, eindeutig und logisch.

Bis zum ersten Staatsexamen in der Fernstudien-Abteilung blieben noch zwei Wochen Zeit. Die Fernstudenten hatten sich bereits eingefunden und begannen mit der Vorbereitung. Ich half ihnen aktiv, sie verpflegten mich dafür. Der letztgenannte Umstand war von äußerster Bedeutung, denn all meine Privatstunden hatten mit dem Unterrichtsende an der Schule aufgehört, und ich saß ohne einen einzigen Groschen da. Und in diesem kritischen Augenblick traf Ninas Überweisung ein. Eine Überweisung über 200 Rubel. Das haute mich vollkommen um. Sie kam doch finanziell selbst nur mit Müh und Not zurecht. Wie hatte sie es erraten. Schließlich hatte ich ihr nichts von meinen Schwierigkeiten in finanzieller Hinsicht geschrieben. Selbstverständlich half mir das Geld ungemein.

Am Morgen des neunzehnten ging ich los, um den Zugang zu den staatlichen Prüfungen zu erwirken, und da stellte sich heraus, dass man zuvor noch einen Test über die “Theorie der komplexen Variablenfunktionen” ablegen musste. Und obwohl es sich um einen mathematischen Kursus handelte, musste ich für dieses Studium und das Ablegen der Prüfung fünf Tage verschwenden, so dass für die Vorbereitung zur ersten Staatsprüfung lediglich eine Woche Zeit blieb. Nur gut, dass das erste Staatsexamen in mathematischer Analyse stattfand. Alle verbleibenden Tage zur Vorbereitung des Tests in der Theorie der komplexen Variablenfunktionen vereinte ich mit der Vorbereitung auf das Staatsexamen. Letzteres garantierte mir gute Verpflegung bei den Fernstudenten.

Den Test in der Theorie der komplexen Variablenfunktion absolvierte ich am 23. Juni. Und am 27., drei Tage vor dem Staatsexamen, erhielt ich ein Telegramm von Nina: “Telegrafiere frühestes Datum der Abreise liege mit Valerij im Krankenhaus schwere Kolitis, machst du das Examen du schweigst so lange = Kuss Nina”.

Am 1. Juli absolvierte ich das Staatsexamen in mathematischer Analyse mit „Sehr gut“. Am 10. Das Staatsexamen in Physik – ebenfalls mit „Sehr gut“. Die Examina bereitete ich zusammen mit den Fernsudenten vor. Sie fütterten mich weiterhin durch. Das waren gute Tage. Herrliches Wetter: warm und sonnig. Zwei oder drei Mal unternahmen Sascha und ich in Eldorado eine Fahrt mit dem Boot, das wir von den Orlows liehen. Allerdings begannen danach schwere Tage für mich.

Auf die Examina über die Grundlagen des Marxismus-Leninismus und vor allem die Prüfung in Pädagogik bereiteten sich die Fernstudenten, die in ihrer Mehrheit Lehrkräfte waren, selbständig vor, und sie benötigten meine Hilfe auch nicht mehr. Ich war ohne jegliche materielle Unterstützung und hatte schlichtweg Hunger. Lalja lag im Krankenhaus, Igorek trank, zur Vermieterin hatte ich so gut wie keinen Kontakt, für Besuche bei Bekannten mangelte es mir an Zeit. Als ich mich auf dem Weg zum Examen in Pädagogik befand, näherte sich mir einer der Fernstudenten, an dessen Nachnamen ich mich nicht mehr erinnern kann, mit den Worten: “Warum blickst du so gequält drein?” Ich erklärte ihm, dass ich bereits zwei Tage und Nächte nichts gegessen hatte. Er brachte mir eine Tafel Schokolade und zwang mich, sie sofort vollständig aufzuessen. Das Blut stieg mit zu Kopf. Die Empfindung war so, als hätte ich ein Glas Wodka getrunken. Das Examen verlief wie im Nebel. Wie Artjomenko mir später erzählte, fing ich bei der Beantwortung einer Frage über die Willensbildung an, Beispiele aus dem Gefängnis- und Lagerleben anzuführen, wodurch ich die Vertreter des Lehrstuhls für Pädagogik schockierte. Allerdings gab man mir auf Drängen der in die Kommission einbezogenen Mathematiker auch in diesem Fach ein „Sehr gut“. Das war’s gewesen! Das verrückte Rennen war vorbei. Innerhalb von acht Monaten, von Ende November 1951 bis Juli 1952, hatte ich insgesamt 36 Examina, davon vier staatliche, abgelegt, von denen ich 7 mit Gut (Deutsch, zwei in politischer Ökonomie, Psychologie, Pädagogik, Geschichte der Pädagogik, Methodik des Unterrichtens der Physik) bestanden, die übrigen mit „Sehr gut“, und man hatte mir ein Diplom mit der Note „Sehr gut“ ausgehändigt. Eine Zuweisung für die Arbeit an einer Schule, mit der ich gerechnet hatte, bekam ich nicht. Und so blieb meine berufliche Zukunft unklar. Professor Kudrjazew, Experte in der Geschichte der Physik, der am pädagogischen Institut in Tambow tätig war, schlug mir vor, bei ihm meine Aspirantur zu durchlaufen, aber ich lehnte ab.

Nachdem ich das Diplom entgegengenommen hatte, fuhr ich für einige Tage nach Jablonewka. Es war ein trauriger Abschied. Die Abreise am Fünften missglückte. Auf Igoreks Bestellung hatte man mir schöne, weiche Filzstiefel gewalkt. Doch es stellte sich heraus, dass sie mir zu klein waren. Ich musste warten, bis man sie auseinandergenommen und erneut getrocknet hatte.

Am elften August fuhr ich ab. Lalja und Igorek begleiteten mich. Etwas abseits stand Sascha. Im allerletzten Augenblick, als ich schon den Waggon bestieg, drückte sie mir einen Umschlag in die Hand. Darin befanden sich 200 Rubel und eine kurze Notiz mit der Bitte zu schreiben und der Zusicherung ihrer Bereitschaft, in jeden beliebigen Winkel des Landes zu reisen.

Doch das las ich erst später, aber jetzt, nahm ich, am Fenster stehend, Abschied von mir vertrauten, nahestehenden und bekannten Menschen. Ich verabschiedete mich, wie ich glaubte, für immer. Ich war überzeugt davon, dass man mich in Turuchansk für immer und ewig an die dortige Ansiedlung binden würde.

 

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