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Robert Maier. Das Schicksal eines Russland-Deutschen

Teil III
Verbannung

Kapitel 17. Der letzte Monat vor dem Wiedersehen

Der Zug nahm an Geschwindigkeit zu. Sich gelblich verfärbende Weizenfelder, Birkenwälder mit ihren dünnen Zweigen, Schranken und in die Steppe führende Straßen zogen vorbei. Bilder, die mir seit meiner Kindheit vertraut waren. Einst hatten sie von den angesammelten Sorgen abgelenkt und Seelenfrieden gebracht. Doch an diesem Tag trat er nicht ein. Wechselnde, widersprüchliche Gefühle überkamen mich. Mal war es die Trauer um die Trennung von Lalja, mal die Freude über den errungenen intellektuellen Sieg oder das Bedauern über die nicht zustande gekommene Begegnung mit Rita. Besonders quälte mich der Gedanke an Sascha, ich hätte ihr von Anfang an die ganze Wahrheit sagen sollen, aber ich hatte es nicht getan und sie mit meinem Schweigen betrogen. Und jetzt auch noch dieser Umschlag mit dem Geld. Ich musste ihn unverzüglich bei meiner Ankunft in Moskau zurückschicken. Aber wie sollte ich das erklären? Dazu war ich nicht bereit. Zudem hätte ich ohne diese finanzielle Unterstützung kaum bis zu Nina gelangen können.

Nina! Auch vor ihr bin ich schuldig, schuldig wegen meiner Gedanken an Rita, wegen des Abends, den ich mit Sascha verbracht habe, wegen der Bootstouren auf dem Zna. Seit meiner Kindheit hatten mir meine Eltern eine Abneigung gegen Täuschung, gegen Lügen, eingeimpft, und ich hatte mich bemüht, ihren Anweisungen so gut es ging zu folgen. Selbst bei der Gerichtsverhandlung hatte ich mich nicht eingeschmeichelt oder versucht, mich aus der Affäre herauszureden. Die Tatsache, dass ich mich diesmal in eine Lüge verstrickt hatte, war für mich entmutigend. Schließlich liebte ich Nina, und dieses Gefühl war tief und aufrichtig. Außerdem war sie für mich mehr als nur eine begehrenswerte Frau. Sie war mit einem großen und emotional intensiven Abschnitt meines Lebens verbunden, einem Komplex von Erinnerungen, glücklichen und traurigen, oft mit Herzschmerz und Leid gefüllt. Obwohl sich diese Gefühle in meiner Seele auf seltsame Weise mit Gedanken an Rita und Sasha verbanden, habe ich mich nie zu Vergleichen herabgelassen. Sie war wie eine Mutter für mich - die einzige und unersetzliche.

Die bevorstehende Begegnung mit Nina war sowohl erfreulich als auch beängstigend. Wie verhält man sich ihr gegenüber, wie stellt man Augenkontakt her? Vielleicht wäre es besser, die Wahrheit zu sagen, zumal ich mit Sasha noch nie körperlich intim gewesen war. Obwohl ich wusste, was es mich kostet! Gefühle, Gedanken und Worte waren in solchen Fällen wichtig. Würde Nina verstehen und verzeihen? Wäre sie dazu in der Lage?

Ich zwinge mich, an etwas anderes zu denken. Morgen früh, Moskau. Bahnhofsgetümmel. Fahrkartenschalter. Und in fünf Tagen die mir unbekannte Region Krasnojarsk. Werde ich mich dort weiterhin frei bewegen können, und was werde ich tun, wenn Nina Turuchansk nicht verlassen darf? Werde ich eine Stelle in meinem Beruf finden? Was ist, wenn ich in ein anderes Gebiet geschickt werde, zum Beispiel in den Taymir? Dorthin, so erzählte mir Faber, wurden mehrere Männer aus ihrem Kanton hingeschickt, von denen fast alle starben. Und welche Dokumente könnte ich als Begründung für unsere Verbindung vorlegen? Es sei denn, es handelt sich um das Zertifikat von Feuerstein. Aber es steht nichts über Nina und Valerik drin.

Je mehr ich über die Zukunft nachdachte, desto ängstlicher wurde ich. War es richtig, dass ich das Angebot, in Kuschmangort zu bleiben, abgelehnt hatte? Ich hätte dort einen guten Job, Autorität und einen Hauch von Freiheit gehabt, aber schlechte Aussichten, mit Nina und Valerik in Kontakt zu kommen. Aber das war für mich das Wichtigste. Die Freiheit, die sich plötzlich auftat, war so verlockend, dass ich nicht anders konnte, als sie zu nutzen. Ich habe nicht bereut, was ich getan habe. Bis jetzt lief alles gut: Ich hatte mir den Traum meiner Mutter erfüllt, und auch meinen eigenen: Ich hatte eine höhere Ausbildung erhalten. Außerdem habe ich Ljalja gesehen. Wenn ich jetzt noch Ernotschka sehen könnte, könnte ich bis ans Ende der Welt reisen! Aber was erwartet mich dort? Würde ich dafür nicht zu hoch bezahlen müssen?

Der Gedanke, zu Ernotschka zu fahren, hatte mich schon lange gequält, aber ich schämte mich und war zu feige, ihn in den Tiefen meines Gewissens zu verbergen. Jetzt brach er durch und verlangte nach einer sofortigen Lösung. Der Wunsch, Ernotschka zu sehen, war groß. Und die daraus resultierende Verzögerung schien unbedeutend zu sein. Auf jeden Fall würde ich es rechtzeitig bis zum Ende der Reise schaffen. Mit diesen Gedanken schlief ich ein. Am Morgen, als der Schaffner die Passagiere auf dem Weg nach Moskau weckte, hatte ich keine Zweifel mehr: ich fuhr zu Ernochka in Sdwinsk.

Noch in Tambow hatte ich mit Hilfe eines alten geografischen Atlas herausgefunden, dass Sdwinsk eines der Bezirkszentren des Gebiets Nowosibirsk ist und im südlichen Teil der Barabinsker Steppe liegt, etwa 90 Kilometer südlich des Barabinsker Bahnhofs. Barabinsker Steppe. Ein scharfes Kontinentalklima mit langen, kalten und trockenen Wintern und kurzen, sonnigen Sommern. Zahlreiche Sümpfe und Seen mit vielen kleinen Flüssen, die in sie münden. Im Sommer trocknen sie aus und verwandeln sich in überwucherte Tümpel, kleine Salzseen und trockene Mulden.

Viele deutsche Familien wurden im Herbst 1941 hierhin vertrieben. Darunter waren auch Petjas Vater und seine Töchter. Sie wurden in dem kleinen Dorf Sarabalyk im Bezirk Sdwinsk angesiedelt. Petjas Vater war bereits in einem Alter, in dem es unmöglich war, wieder einen Bauernhof aufzubauen. Außerdem konnten weder er noch seine Töchter, wie die meisten der vertriebenen Deutschen, Russisch, was die Feindseligkeit der einheimischen Bevölkerung ihnen gegenüber noch verstärkte. Sie wurden als Faschisten beschimpft, die Fenster ihres Hauses wurden eingeschlagen und ihre Wäscheleinen durchgeschnitten. Petja, der zu dieser Zeit in der Armee war, bestand darauf, dass Ernotschka und die Kinder nach Sarabalyk gehen sollten. Dies war kaum eine vernünftige Entscheidung. In Tambow, oder besser gesagt in Tschakino, wo Ernotschka als Lehrerin an der örtlichen landwirtschaftlichen Fachschule arbeitete, wären sie und die Kinder viel sicherer, dachte ich.

Im November 1942 gab Ernotschka dem Verlangen Petjas nach und begab sich mit Lisa und den Jungen auf die für die damalige Zeit riskante Reise. Sie war damals 36 Jahre alt, Lisa - 57, Holdi - 11, Adjuscha - 10. Sie reisten in einem Waggon voller Menschen, Kisten und Bündel. Unterwegs wurden sie bestohlen, so dass sie ohne warme Kleidung in Barabinsk ankamen. Und es war doch bereits Winteranfang. Nach Sarabalyk gelangten sie mit Pferden. Dort nahm man ihnen ihre Ausweise ab und registrierte sie als Sondersiedler. Sie wurden in einer engen, baufälligen Hütte untergebracht, deren Besitzerin, eine alte, blinde Deutsche aus Balzer, erst kurz vor ihrer Ankunft an Hunger gestorben war. Die größte Sehenswürdigkeit in der Hütte war ein riesiger russischer Ofen. Sie beheizten ihn mit Kuhfladen, die mehr Qualm als Wärme verursachten. Mitunter brachten die Kinder Reisig mit. Brennholz war Gold wert. Petjas Vater lebte am anderen Ende des Dorfes. In der ersten Zeit fürchteten wir uns davor zu ihm zu gehen. Die ortsansässigen Kinder, die alle deutschen Neuankömmlinge für Faschisten hielten, hetzten sie mit Hunden und warfen Steine nach ihnen. Elektrizität gab es im Dorf nicht, deswegen verbrachten wir die langen dunklen Abende am Ofen, dem einzigen warmen Platz in der Hütte, durch die der Wind pfiff. Dort erzählte Ernotschka Aljuscha und Holdi den Inhalt der Bücher, die sie früher einmal gelesen hatte. Viele Jahre hindurch erinnerte sie sich mit warmer Traurigkeit an die geistige Nähe, die zwischen ihre und den Jungen in jener Zeit des Hungers und der Kälte entstand.

Anfangs arbeiteten Ernotschka, Lisa und die Kinder auf der Darre, aber bereits zum neuen Jahr hin wurde sie offiziell Lehrerin der Grundschulklassen und der deutschen Sprache, und nach zwei Jahren versetzte man sie als Lehrerin für Musik und Gesang nach Sdwinsk. 1947 kehrte Petja aus der Trudarmee zurück und fand Arbeit in der Buchhaltung des örtlichen Industriekombinats. Bald darauf, nach Beendigung der zehnten Klasse, fingen zuerst Holdi, und danach Adja, an, in der Tischlerwerkstatt zu arbeiten. Das Leben wurde allmählich besser. Sie bauten ein kleines Häuschen – legten einen Gemüsegarten an, erwarben eine Kuh. Die Kinder arbeiteten genauso wie die Erwachsenen vom frühen Morgen bis zum späten Abend. 1948 wurde Ernotschka auf Anordnung der Gebietsabteilung für Volksbildung ihrer Lehrtätigkeit enthoben. Das war für sie ein harter Schlag, denn neben der Verschlechterung ihrer materiellen Lage entzog man ihr die Möglichkeit, weiter ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzugehen. Eine Zeit lang leitete sie noch den Schulchor nach allgemeinen Grundlagen, doch dann wurde ihr auch das untersagt.

Und nun brachte mich der Zug, Kilometer für Kilometer, dem Wiedersehen mit meiner geliebten Schwester entgegen. Sie war siebzehn Jahre älter als ich und um ein ganzes Leben weiser. Und ihre Weisheit bestand nicht in der Logik, sondern in der Fähigkeit, in die Seele ihres Gesprächspartners vorzudringen, seine Probleme zu verstehen, sich auf die Resonanz seiner Gedanken und Gefühle einzustellen. Sie konnte, wie kein anderer der mir nahestehenden Menschen, mitleiden und verzeihen. Und es lag in dieser Vergebung keinerlei Hochmut und Scheinheiligkeit. Es hatte stets den Anschien, als würde sie von den gleichen Fehlern und Sünden betroffen. Ich hegte die Hoffnung, dass sie mir auch dieses Mal dabei helfen würde, mich in den dunklen Sackgassen meiner Seele zurechtzufinden.

Barabinsk begrüßte mich mit leichtem Nieselregen, was für diese Gegenden im August recht ungewöhnlich war. Das einstöckige, vorrevolutionäre Bahnhofsgebäude erinnerte mich an einen Ort mit vielen Bettlern und billigem, sättigendem Mittagessen. Der durchbrochene Viadukt, der sich über das Flechtwerk der Eisenbahngleise schwang, verwinkelte, schmutzige Straßen, die eingeschossigen, verdreckten Häuser. Mit Mühe machte ich ganz am Ende, an der Ausfahrt zum Sdwinsker Trakt, ein zufällig vorbeikommendes Fahrzeug ausfindig, dessen Besitzer bereit war, mich gegen ein maßvolles Entgelt bis nach Sdwinsk mitzunehmen. Und da stehe ich nun, wie damals in Kuschmangort, im Regen auf dem Wagenkasten des Anderthalbtonners, der sich, mal rutschend, mal sich drehend, langsam seinen Weg über den von Fahrzeugen zerstörten Trakt bahnt. Um mich herum endlose Steppe, durchwuchert von einer leuchtend grünen Pflanzenwelt, mit darauf verstreuten Arealen eines Birkenwäldchens. Vor uns 90 km Wegstrecke, der Himmel ist von dunklen Wolken verhangen, aber den Platz in der Fahrerkabine, auf den ich so gehofft hatte, nahm ein irgendwoher stammendes, im letzten Moment aufgegabeltes junges Mädchen ein. Trotzdem hatte ich noch Glück. Ungefähr nach einer Stunde hielt das Fahrzeug an einem niedrigen Gebäude ohne Dach, und das Mädchen verschwand im Regenschleier ebenso unerwartet, wie es aufgetaucht war. Bis aufs Hemd durchnässt, aber glücklich, dass ich nun endlich die Möglichkeit gefunden hatte, mich vor dem Regen zu schützen, setzte ich mich auf ihren Platz.

Der Fahrer schwieg, hielt konzentriert das Lenkrad, und das war mir auch vollkommen recht. Mir war nicht nach Unterhaltung zumute. Die durchnässte Kleidung klebte an meinem Körper, durch die schlecht schließende Tür zog die Luft herein, und meine rechte Seite wurde durch den Wind eiskalt. Zum Glück verließ das Fahrzeug schon bald und völlig überraschend die tiefhängende Wolkendecke und fuhr nun auf einer absolut trockenen, staubigen Straße weiter. Sofort wurde es wärmer, mir wurde fröhlicher ums Herz und ich verspürte Lust zum Reden. Der Chauffeur, der entweder unter dem Einfluss ähnlicher Gefühle stand oder meine veränderte Stimmung bemerkte, wollte nun wissen, zu wem in Sdwinsk ich fahren wollte. Nachdem er es erfahren hatte, teilte er mir mit, dass er in der Nachbarschaft wohne, und er fing an Adjuscha und Holdi wegen ihres Fleißes, ihren Respekt gegenüber den älteren Menschen, dafür zu loben, dass sie weder tranken noch rauchten. Von ihm erfuhr ich auch, dass sie das Technikum in einer kleinen, 10 km nördlich von Barabinsk gelegenen Stadt besuchten, sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch in Sdwinsk in Ferien befanden. Aufgrund unserer Unterhaltung verlief die restliche Fahrt unbemerkt wie im Fluge.

Und schon stehe ich am Vorgarten, hinter dem das kleine Haus mit den drei Fenstern in der Fassade liegt. Ich öffne die Pforte, begebe mich zur aus Holzbrettern zurechtgezimmerten Außentür und klopfe. Die Tür ist unverschlossen. Ich trete in den dunklen Vorraum, ertaste den mit Folz überzogenen inneren Türgriff und ziehe die Tür auf. Alle sitzen bei Tisch, essen zu Abend. Petja, Adja und Holdi sitzen mir mit dem Gesicht zugewandt. Ihre fragenden Gesichter werden von einer Lampe erhellt. Vermutlich haben sie mich nicht erkannt, es waren immerhin zehn Jahre vergangen. Außerdem stehe ich im Schatten. Und Petja sieht nichts, er trägt keine Brille und blinzelt. Einer der Frauen, die mit dem Rücken zu mir sitzt, dreht sich um, springt auf und wirft sich in meine Arme. Ernotschka! Freilich hat sie sich verändert, aber nicht so stark wie Lalja. Und Lisa ist sehr alt geworden, aber immer noch so bodenständig wie eh und je. Die dritte erkannte ich nicht; es stellte sich heraus, dass es Tante Mathilde war, Papas kleine Schwester. Das letzte Mal, dass ich sie gesehen hatte, war noch in Saratow gewesen, vor unserer Abfahrt nach Tambow. Die Kinder waren sehr erwachsen geworden, hatten breite Schultern bekommen. Ihre braungebrannten, wettergehärteten Gesichter strahlten Ruhe aus und eine gewisse bäuerliche Weisheit. Am wenigsten hatte Petja sich verändert. Auf seinem Gesicht gab es keine einzige Falte.

Nach einem Moment der Verwirrung begannen die üblichen Umarmungen, Ausrufe und Tränen. Der Abend und auch der gesamte folgende Tag vergingen mit Unterhaltungen: man erinnerte sich an die Vergangenheit, diskutierte die Gegenwart. Petja, der sich die Liquidierung der Deutschen Republik besonders zu Herzen genommen hatte, erzählte mir eine Menge über das traurige Los der Russland-Deutschen. Dadurch, dass man sie verstreut, in kleinen Gruppen, in den hintersten Ecken Sibiriens und Mittel-Asiens angesiedelt hatte, waren sie zur völligen Assimilierung verurteilt. Die Hoffnung darauf, dass die von der Regierung durchgeführte Aktion nur vorübergehend wäre, dass man ihnen nach Kriegsende erlauben würde, wieder an die untere Wolga zurückzukehren, wurde zerschlagen, nachdem die Krim-Tataren, Tschetschenen, Inguschen, Kalmücken, Karatschaier, Balkaren wegen “Zusammenarbeit mit den Besatzern” deportiert worden waren. Es wurde klar, dass in der Sowjetunion für die Fehler der Eltern nicht nur deren Kinder verantwortlich gemacht wurden, die dies bereits gewohnt waren, sondern auch alle anderen Stammesangehörigen, vom Säugling bis hin zum sterbenden Greis. Nur eines war nicht klar – wofür man die Russland-Deutschen bestrafte. Ganz offensichtlich für Handlungen ihrer Stammesgenossen in Europa.

Die logische Vollendung der Repressionspolitik gegen die deportierten Völker stellte der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 26. November 1948 dar, in dem erklärt wurde, dass die Aussiedlung der “schuldigen Völker” für immer erfolgt sei, ohne das Recht auf Rückkehr an die vorherigen Wohnorte. Unglaublich schwer waren die ersten Jahre an den neuen Wohnorten für die Verfolgten. Es gab praktisch keine arbeitsfähigen Männer und Frauen unter ihnen. Sie waren bereits vorher in die Trud-Armee mobilisiert worden. Alte Menschen, Halbwüchsige und Frauen mit minderjährigen Kindern, die im Winter ohne jegliche Existenzmittel zurückgeblieben waren, starben aufgrund von Hunger, Kälte und den unhygienischen Bedingungen.

Der Wirbelsturm der Ereignisse jener Tage riss auch viele meiner Verwandten mit sich fort. Sie wurden alle in die entlegensten Orte der Region Nowosibirsk geschickt. Onkel Karluscha (Karl Fjodorowitsch Maier) wurde im Alter von 79 Jahren von seiner einzigen Tochter getrennt (sie wurde nicht ausgesiedelt, da sie mit einem Russen verheiratet war), aus seinem Haus in Saratow ausgesiedelt und nach Sibirien geschickt. Angesiedelt wurde er in der Ortschaft Gladen im Oljaschinsker Bezirk, Region Nowosibirsk. Auch zwei seiner Schwestern wurden dorthin gebracht: Tante Amalie, 68 Jahre, und Tante Mathilde, 60 Jahre. Sie lebten in großem Elend, ohne jegliche Existenzmittel und sahen einem langsamen Hungertod eintgegen: Amalie verstarb 1943, Karl – 1944. Tante Mathilde dand nach Karluschas Tod Unterschlupf bei Ernotschka in der Ortschaft Sdwinskoje, Gebiet Nowosibirsk, die dort mit Lisa, Petjas Vater und den Kindern angesiedelt worden war. Onkel Fedja, der jüngste Bruder meines Vaters, wurde, im Alter von 63 Jahren, ebenfalls von seiner Tochter fortgerissen und in die Ortschaft Narym, welche sich in der Taiga, im nordöstlichen Teil der Region Nowosibirsk befand, zum gewerblichen Fischfang geschickt. Dort starb er 1945. Mit Tante Mathildes Tod 1966 in Sdwinsk endete die vierte Generation der Maiers, die auf russischem Boden geboren worden war. Ein wenig besser verlief das Schicksal meines Paten Karl Iwanowitsch Staub. Nach mehrjährigem Leidensweg gelang es ihm und seiner Familie sich in Tomsk niederzulassen, wo er als Professor am Lehrstuhl der Universität Tomsk tätig war.

Gegen Abend des zweiten Tages bekam ich Schüttelfrost. Das Fieber stieg, die rechte Seite schmerzte. Ernotschka, der ich von meiner Fahrt im Regen berichtete, war beunruhigt: “Wann wirst du eigentlich erwachsen werden und an deine Gesundheit denken? Davon hängt doch in vielerlei Hinsicht auch das Wohlergehen Ninas und Valeriks ab”.

Wie in den Kindheitsjahren rannte sie bei mir hin und her, zwang mich irgendeine Medizin und heiße Milch mit Honig zu trinken, der Lisa versuchte einen Löffel Butter hinzuzugeben. Ich erduldete alles, denn ich hatte wirklich Angst, dass ich bis zum Ende der schiffbaren Zeit nicht mehr hier fortkäme. Erst am fünften Tag begann das Fieber zu sinken und ich stand aus dem Bett auf.

Die Krankheitstage verliefen für Ernotschka und mich nicht umsonst, wir konnten über vieles reden. Sie berichtete von den ersten Jahren ihres Lebens in Sibirien, von Petja und den Kindern, und ich – über das Lager, Nina, die Tage, die ich bei Lalja verbracht hatte, mein Studium. Ich machte mir die Tatsache zunutze, dass wir praktisch ganz allein im Zimmer waren, um ihr alles zu erzählen, was in Tambow geschehen war und was nicht aufhörte mich zu quälen. Genau wie ich es erwartet hatte, verhielt sie sich ruhig gegenüber meinen Problemen. Sie beschämte mich nicht, versuchte mich nicht zu überzeugen oder mir Lehren zu erteilen. Sie erzählte mir einfach von einer ähnlichen Episode in ihrem eigenen Leben.

Es kam das Jahr 1938, das dritte Jahr von Petjas Aufenthalt im Lager. Bei ihrer endlosen Suche nach Arbeit lernte Ernotschka durch Igorek den Inspektor der tambowsker städtischen Abteilung für Volksbildung und pensionierten Diplomaten Tkatschenko kennen und fühlte sich zu ihm hingezogen. Groß gewachsen, stattlich, mit breitgefächerter Bildung, sprach er hervorragend Deutsch, kannte sich gut in Literatur und Musik aus. Er saß stundenlang bei uns zu Hause und lauschte ihrem Klavierspiel. Er verhielt sich uns allen gegenüber sehr aufmerksam, besonders gegenüber den Kindern. Freilich wusste Ernotschka, dass das, was sie tat, falsch war, aber sie konnte sich nicht zurückhalten. Die Eskalation der Gefühle wurde von Mama unterbrochen. Obwohl sie sich immer über Petjas Grobheiten und sein rücksichtsloses Verhalten geärgert hatte, wehrte sie sich entschieden gegen eine derartige Entwicklung der Ereignisse.

Als Petja zurückkehrte erzählte Ernotschka, die ihr Gewissen zu beruhigen suchte, ihm alles und machte damit ihm und sich selbst das Leben zur Qual. Seine beharrliche Forderung, sie solle nach Sarabalyk zu ihren Eltern fahren, hing in vielerlei Hinsicht mit diesen Geschehnissen zusammen.

Ich begriff: ich durfte niemals Nina von meinen Abenteuern und Tambow, und schon gar nicht von Sascha, erzählen.

Nachdem das Fieber gesunken war, nahm mich Ernotschka mit Erlaubnis des Schulleiters mit in die Schule und spielte mir auf dem Klavier einige Werke von Chopin, Schubert, Liszt und Beethoven vor, die ich längst vergessen hatte. Wir erinnerten uns der Jahre in Saratow und weinten.

Es war ein trauriger Abschied. Es gab wenig Hoffnung, dass wir uns irgendwann noch einmal wiedersehen würden. Alle waren überzeugt, dass man mich als Deutschen in der Region Krasnojarsk ebenfalls für immer festsetzen würde. Vor meiner Abreise schrieb Petja einen Brief an einen seiner guten Bekannten in Krasnojarsk, in dem er darum bat, mir für ein paar Tage, bis zum Ablegen des Schiffes, Unterkunft zu gewähren. Der Chauffeur, mit dem ich von Barabinsk nach Sdwinsk gefahren war, brachte mich fort.

Und da sitze ich wieder im Zug und setze meine Reise gen Osten fort. Die Tage in Swdinsk sind wie im Fluge vergangen. In meiner Seele herrschen Verwirrung und ein Gefühl der Resignation. Der Glaube an die eigenen Fähigkeiten ist erschüttert und die Zukunft wird in den düstersten Farben dargestellt. Selbst mein Diplom, das noch vor kurzem mein Herz erwärmt und mir Zuversicht gegeben hatte, erscheint mir jetzt wie ein unbedeutendes Stück Papier. Visionen aus der jüngsten Vergangenheit häufen sich und verdecken die Realität um mich herum: die Wachtürme, der Stacheldraht, die roten Mützen, die selbstgefälligen Gesichter der Wächter und Ninas Weinen. Wie konnte ich so schwächlich werden, vergessen, in was für einer Zeit ich lebe. Ich wusste ja, dass nach dem Krieg die Repressionswellen stark zugenommen hatten. Die Lager wurden mit neuen Kategorien von Häftlingen gefüllt: ehemalige Kriegsgefangene, "fremde Elemente" aus Regionen, die erst kürzlich in die UdSSR eingegliedert worden waren; Kollaborateure der Besatzer, Vertreter spezieller Umsiedler und schließlich Personen, die eine zehnjährige Haftstrafe aufgrund politischer Artikel verbüßt hatten und auf der Grundlage von Verwaltungsentscheidungen zu neuen Strafen verurteilt wurden. Das Ausmaß der Strafen war schockierend: 15-25 Jahre waren üblich. Es war erstaunlich, wie viele ehemalige Militärangehörige auch in Zivil zu sehen waren, die man an ihrer Entschlossenheit und ihrem Zusammenhalt erkennen konnte. Mit ihrer Ankunft wurden sogar die Kriminellen, die normalerweise die Zivilbevölkerung des Lagers terrorisierten, beruhigt. Damals, als sich alle über den historischen Sieg und die enormen Schwierigkeiten beim Wiederaufbau der zerstörten Wirtschaft freuten, war es schwer zu verstehen, dass der Staat mit solchen Mitteln gegen die Gedankenfreiheit vorging, die die Gesellschaft zersetzte.

Der Zug näherte sich langsam Krasnojarsk. Die Gleise waren voll mit Güterwagen, Bahnsteigen und Zisternen. Auf der linken Seite, von den Gleisen mit Stacheldraht und niedrigen, umgestürzten Buckelzäunen abgegrenzt, befanden sich Metallkonstruktionen, Betonstahl, Spulen mit aufgewickelten Kabeln, Kisten mit Maschinenteilen. Viele Türme, Soldaten auf ihnen, aber keine gefangenen Menschen in Sicht. Die Lager befanden sich in der Regel abseits der Bahnlinie. Dann, näher am Bahnhof, kamen die gedrungenen Backsteingebäude mit abblätterndem Putz - das berühmte Lokomotivdepot, der Sitz des revolutionären Kampfes der Arbeiterklasse in Krasnojarsk.

Der Bahnhofsplatz ist von Notunterkünften und ungeschliffenen Bretterzäunen umgeben. Der Wind weht Papierfetzen und Zeitungen heran. Die Zäune sind mit Losungen, Plakaten, Karikaturen aus der Kriegszeit und Ankündigungen beklebt. Miliz, Militärpatrouillen. Ich vermeide möglichst eine Begegnung mit ihnen.

Nach ein paar Blocks erreiche ich das Stadtzentrum. Stalinstraße. Wie der Rest der Stadt sind die Häuser meist aus Holz. Die Ziegelsteinhäuser, die die sowjetischen Behörden von der vorrevolutionären Kaufmannsklasse geerbt haben, sind nur noch wenige und werden zumeist von Regierungs- und Parteieinrichtungen genutzt. Die Bürgersteige sind meist aus Holz, der Fahrdamm gepflastert. Es gibt nicht viel Grün und auch nur wenige Geschäfte. In den Schaufenstern stehen Wurst-, Schinken-, Käse-Atrappen sowie mit Slogans ausgestattete Dosen, Streichholz- und Zigarettenschachteln. Warteschlangen, besorgte Gesichter, Einkaufsnetze.

Mich interessierte in erster Linie der Flussbahnhof. Ich musste so schnell wie möglich eine Fahrkarte für das Schiff kaufen und mich auf diese Weise vor Überraschungen schützen. Sie würden mich kaum zurückhalten, wenn sie erfuhren, dass ich freiwillig nach Turuchansk wollte – den traditionellen Ort für die Ansiedlung politisch Verbannter.

Ich folge den Hinweisen entgegenkommender Fußgänger und erreiche schließlich das Ufer des Jenisseis. Der mächtige sibirische Fluss beeindruckt mich durch seine Weite und in gewisser Weise bedrohliche Größe. Das bleierne und schwere Wasser spült die Ufer aus, die damals noch nicht von Granit begrenzt waren. Der Horizont ist von niedrigen, bewaldeten Bergen eingerahmt. Entlang des Ufers Barken, Kutter, Anlegestellen. In der Ferne, zur Rechten, eine durchbrochene Eisenbahnbrücke, die noch zu Zarenzeiten gebaut wurde. Zur Linken das Gebäude des soeben erbauten, aber noch nicht in Betrieb genommenen Flussbahnhofs mit Säulen sowie einem fünfzackigen Stern an der Spitze. Sein Aussehen steht in starkem Kontrast zu der unbebauten Böschung. Stromabwärts befindet sich eine zweistöckige Anlegestelle, von der aus vorerst die Motorboote zum unteren Jenissei fahren. Hölzerne, mit Ölfarbe gestrichene Schalter, halbrunde Fenster an den Kassen, hölzerne, Diwan-Sitzbänke, ein Blechtopf für Trinkwasser mit einem zerbeulten Aluminiumbecher, der daran gekettet ist. An einer der Wände ist eine Karte des Jenisseis mit als spärliche Kreise markierten bewohnten Orten angebracht.

Und in diesem Innenraum wimmelt es von Menschen mit Sperrholzkoffern, Umhängetaschen und Bündeln. Aufgereiht an den Wänden in Richtung der Kassenfenster, auf den Bänken sitzend oder einfach auf dem Holzboden liegend, füllen sie den gesamten leeren Raum der Kassenhalle. Ich mische mich unter die Menge, mit einem Gefühl von Unsicherheit und vager Angst.

Mit Mühe finde ich heraus, dass die nächsten Schiffe alle ausverkauft sind. Die einzigen verbleibenden Fahrkarten sind für das Schiff "Joseph Stalin", das am 19. September abfahren soll. Außerdem ist eine Fahrt des Schiffes "Maria Uljanova" geplant, welches laut Fahrplan einen Tag früher abfahren soll. Es werden jedoch keine Tickets verkauft, da nicht klar ist, ob die Reise überhaupt stattfinden wird.

Ich begebe mich zu dem Schalter, den ich benötige. Es gibt eine lange Warteschlange. Ein Soldat mit einem Abzeichen auf der Brust versucht, eine Kabine der ersten Klasse zu bekommen, und die Kassiererin schickt ihn zum Regionskomitee der Partei, das, wie sie sagt, alle Plätze der ersten und teilweise der zweiten Klasse reserviert hat. Die anderen regen sich auf: seine Sorgen möchten wir haben, aber die Warteschlange kommt nicht voran. Eine alte Dame, die neben mir steht, ist beunruhigt: "Sie sagen, sie verkaufen keine Decktickets auf der Stalin, nicht einmal nach Jartzewo, und für eine Kabine reicht mein Geld nicht".

Als ich endlich an der Reihe war, gab es nur noch Fahrkarten für die vierte Klasse. Aber sie sind teuer. Nachdem ich ein Ticket erworben hatte, blieben mir nur noch dreißig Rubel. Und davon musste ich unterwegs fast drei Wochen lang leben. Das Einzige, was ich zur Verfügung hatte und verkaufen konnte, waren nagelneue Walzdrähte. Peinlich berührt, wie meine Mutter es einst mit den Blumen gewesen war, fand ich einen Käufer. Ein großer Mann mit Bartstoppeln und langen ungewaschenen und ungekämmten Haaren kaufte sie mir für dreihundert Rubel ab.

Nachdem ich meinen Koffer in der Gepäckaufbewahrung abgegeben habe, begebe ich mich zum Telegrafenschalter. Ich fülle ein Formular aus: “beglückwünsche valerij lege ab mit stalin ab am neunzehnten kuss = Ro” und gebe es am Schalter ab. Die alte Frau, die das Telegramm entgegennimmt, sah mich, nachdem sie den Text gelesen hatte, missbilligend an und rief:

- Was haben Sie hier geschrieben?

- Wie – was habe ich geschrieben? Ich gratuliere meinem Sohn zum Geburtstag und gebe die Information, dass ich mit Dampfer “Josef Stalin” am neunzehnten ablege.

- Dann schreiben Sie es auch so, sonst klingt es wie „ich fresse Stalin”, - und in ihrer Stimme schwingt große Empörung mit.

- Aber ich habe kein Geld für lange Telegramme, - versuche ich mich zu rechtfertigen.

- Wie Sie wollen, aber so ein Telegramm nehme ich nicht an, - verkündete sie entschieden und gab mir, durch ihre Brille funkelnd, das Formular zurück. Die Situation wurde gefährlich, und ich gab Klein bei.

Die Stimmung ist dahin. Genau wie im Jahr einundvierzig bei der Anwerbestelle in Tambow, fühle ich mich einsam und schutzlos. Und das nach zehn Jahren Lager. Eine Schande. Es ist an der Zeit, zur Sache zu kommen und vor allem über Übernachtungsmöglichkeiten nachzudenken. Wiederholte Versuche, von Passanten herauszufinden, wo sich die von Petja angegebene Straße befand, blieben erfolglos. Ich musste nach dem Kiosk des Stadtinformationsbüros suchen. Dort gab man mir zur Antwort, dass sie die auf dem Briefumschlag ausgewiesene Straße am rechten Ufer des Jenisseis befände und dass man am bequemsten mit dem Boot dorthin käme, obwohl man aber auch die Pontonbrücke benutzen könnte.

In jenen Jahren war das gesamte rechte Ufer eine geschlossene Baustelle. In den ersten Kriegsmonaten war eine große Anzahl von Rüstungsfabriken aus dem Westen hierher verlegt worden, die anfangs teilweise unter freiem Himmel in Betrieb gingen. Das verwaltungs- und technische Personal sowie die Arbeiter waren zunächst in eilig errichteten Baracken, beheizten Güterwaggons und Unterständen untergebracht worden. Jetzt, am Ende des Krieges, wurde alles wieder in Ordnung gebracht. Es wurden Fabrikgebäude errichtet, die äußerlich schwer und trist aussahen, aber im Inneren wurden gut ausgestattete Häuser gebaut, Kommunikationsnetze und Straßen angelegt. Die Hauptstraße, die sich wie ein Rückgrat durch das gesamte rechte Ufer zieht, wird später nach der Zeitung Krasnojarskij Rabotschi benannt werden.

Als ich 1951 abends aus dem Boot gestiegen war und die Straße suchte, in die ich wollte, geriet ich immer wieder in irgendwelche Gräben, stolperte über unordentlich herumliegende Baumstämme, Kisten und Drahtrollen. In der aufkommenden Dämmerung konnten wir Lagerhäuser, Zäune und Türme sehen. Mehrmals stieß ich auf einen in der Dunkelheit unsichtbaren Stacheldrahtzaun, der seit den Lagerjahren ein Gefühl des Grauens und der Abscheu hervorgerufen hatte. Und es war keine Menschenseele dort. Nur die Rufe der Wachen waren irgendwo in der Ferne zu hören.

Nachdem ich mehr als eine Stunde umhergeirrt war, stieß ich schließlich auf eine Hütte, aber der alte Mann, an dessen Tür ich klopfte, konnte mir nicht helfen:

- Es ist ein schrecklicher Ort, um sich tagsüber aufzuhalten, ganz zu schweigen von der Nacht", sagte er mir mit flüsternder Stimme.

- Komm wieder, wenn es dämmert, Kumpel, denn neulich wurde ein Mann wie du fast von Hunden zu Tode gebissen. Heutzutage werden sie ziemlich gewalttätig.

Die Aussicht, Hunden zu begegnen, passte mir keineswegs, und das letzte Boot legte, wie man mich bereits vorgewarnt hatte, um elf Uhr ab. Stolpernd und strauchelnd kämpfte ich mich zu dem schwer einsehbaren Steg vor und war nach einer halben Stunde am linken Ufer.

Wohin sollte ich gehen? Auf dem Bahnhof war es gefährlich. Dort kam es häufig zu Überfällen und ich wollte, obwohl ich eine Fahrkarte nach Turuchansk besaß, auf keinen Fall in die Hände der Miliz geraten. Ruhiger war es an der Anlegestelle, hier gab es weniger Milizionäre, denn der Jenissei ist nicht der wichtigste Weg, um aus dem Exilgebiet zu entkommen. Zudem hatte ich gute Chancen, dass jemand den nächsten Flug nicht antreten würde und ich das Ticket umbuchen und zumindest ein paar Tage früher nach Turukhansk fahren konnte. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als zusammen mit Nina und Valerik der feindlichen Welt zu entkommen, die mich von allen Seiten umgab. Wie habe ich die Engländer beneidet, für die "my home is my fortress". In dieser Nacht hatte ich Glück: Ich fand einen freien Platz auf einer Bank und wurde in der Nacht von niemandem gestört.

Am nächsten Morgen erwachte ich früh. Über dem Jenissei liegt dichter, undurchdringlicher Nebel. Die blutrote Morgendämmerung verleiht ihm einen bedrohlichen Anstrich. Wie viel Leid, wie viele Tränen hat dieser Fluss gesehen. Wie viele unschuldige Opfer in den Laderäumen von Leichtern und Kähnen wurden von den reißenden Fluten in die letzten Runden der Eishölle mitgerissen. Ich stehe auf dem Unterdeck der Anlegestelle und blicke in den Abgrund des unersättlichen Flusses. In der Nähe ist ein Fischer über seine Angelruten gebeugt. Er wartet auf sein Glück. Ich auch. Wird es mich auf meiner bevorstehenden Reise auf diesem mächtigen und gefährlichen Fluss begleiten?

Die düstere Stimmung in jenen Jahren, oder besser gesagt in jenem Alter, hielt bei mir nie lange an. Und da war ich nun und ging die Stalin-Allee entlang in Richtung Bahnhof. Der Arbeitstag hatte noch nicht begonnen, und ich hatte es nicht eilig, zumal die „Joseph Stalin“ noch einen halben Monat entfernt lag.

Die Sonne ging schnell am Himmel auf. Es wurde merklich wärmer. Die Eingänge zu den Häusern wurden von immer mehr Fußgängern frequentiert. Die ersten Busse tauchten auf. Der Duft von frischem Brot war verlockend. In einer der Bäckereien kaufte ich ein halbes Pfund Graubrot und aß es in einer Ecke stehend. Die Stimmung verbesserte sich, das Selbstvertrauen stieg. Ich ging weiter und studierte die Schilder der Behörden und die Schaufenster.

Plötzlich wurde meine Aufmerksamkeit auf ein altes, rotes Backsteingebäude auf der Rückseite der Straße gelenkt. Davor mehrere Pappelbäume und junge Menschen. “Staatliches Pädagogisches Institut Krasnojarsk” – las ich auf der Blechtafel. Und sofort begann mein Herz süß zu schlagen. Dorthin hatte ich mich von Tambow aus versetzen lassen wollen. "Ich frage mich, ob es hier einen Aufbaustudiengang in Mathematik gäbe, und wenn ja, in welchem Fachbereich", dachte ich. Ich überlegte und verwarf den Gedanken sofort wieder. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für eine Graduiertenschule. Es ist notwendig, eine Arbeit und zumindest eine Unterkunft zu suchen. Als es fast neun Uhr war, machte ich mich auf den Weg zur regionalen Behörde für öffentliche Bildung.

So wie ich mich jetzt erinnere: die Personalabteilung, eine junge, blonde Frau, die gemächlich telefoniert und meine Anwesenheit nicht zur Notiz nimmt. Ich stehe vor ihrem Schreibtisch, wippe von einem Fuß auf den anderen und zögere, mich auf einen Stuhl in der Nähe zu setzen. Ich trage eine zerknitterte Hose, ein nicht mehr ganz so frisches Hemd und unsaubere Schuhe. Es ist gut, dass wir allein im Büro sind und niemand meine Demütigung sieht. Warum bin ich hierhergekommen, was habe ich mir erhofft? Schließlich fragte die Blondine, nachdem sie das Gespräch beendet hatte und mich mit einem abschätzenden Blick angesehen hatte:

- In welcher Angelegenheit kommen Sie? – Ihre Stimme klingt förmlich und trocken.

- Ich möchte gern eine Stelle als Mathematiklehrer bekommen, - begann ich zaghaft.

- Welche Hochschule haben Sie absolviert, wo wohnen Sie? – setzte sie ihre Fragerei fort, ohne mir eine Sitzgelegenheit anzubieten.

Da ich befürchtete, dass sie es nicht hören wollte, erklärte ich ihr eilig, dass ich Mathematik und Kinder liebe, dass ich das Pädagogische Institut in Tambow mit Auszeichnung abgeschlossen, aber noch keinen festen Wohnsitz hätte.

- Was soll das heißen, Sie haben keinen? Zeigen Sie Ihren Ausweis!

Als sie ihn aufschlug, erstarrte sie und machte ein Gesicht wie ein Cockerspaniel, der vor einem Stück Wild steht.

- Sie sind also Deutscher? Und wie sind sie nach Krasnojarsk geraten, und warum sind sie nicht gemeldet?

- Ich hatte bisher keine Zeit, Ihnen zu sagen, dass ich einmal in Tambow verhaftet wurde, von wo die Deutschen nicht ausgesiedelt wurden und daher nicht der festen Anbindung an den Ort unterlagen. Jedenfalls wurde mir das bei meiner Entlassung gesagt.

- Dann haben Sie also auch noch eine Haftstrafe verbüßt? Nach welchem Paragrafen? Weswegen?

Ich begann zu erklären, dass ich wegen unvorsichtig daher gesagter Worte verhaftet worden war, dass ich niemals die Absicht gehabt hätte, dem Staat zu schaden, dass ich zehn Jahre in Arbeitslagern gesessen hätte und infolgedessen geläutert wäre und dass ich schließlich meine Prüfungen in Parteigeschichte und Philosophie mit Bravour bestanden und bewiesen hätte, dass ich die Ideologie und die Politik der Partei und des Staates verstand und teilte.

- Ich glaube schon, dass Sie sich darin gut auskennen, aber dass Sie der gleichen Meinung sind, bezweifle ich, - meinte sie mit leichtem Lachen, während sie mein Diplom betrachtete.

- Und wie ist das zu verstehen: 1951 haben Sie angefangen zu studieren und das Studium 1952 abgeschlossen? – fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

- So wie es dort steht, ist es auch gemeint. Ich habe das Institut tatsächlich innerhalb von acht Monaten absolviert.

- Aber Praktika sind seit dem letzten Jahr verboten, sagte sie halb zaghaft, halb fragend.

- Aber das war kein Praktikum, sondern ein Fernstudium. Ich habe alle im Lehrplan geforderten Tests, Kursarbeiten und Praktika absolviert, Präsentationen in Seminaren gehalten, die geforderte Anzahl von Unterrichtsstunden in der Schule erteilt und alle Tests und Prüfungen bestanden, und zwar fast alle mit Auszeichnung", platzte ich mit Eifer und unverhohlenem Stolz heraus.

Sie schaute mich mit unverhohlener Neugierde an, als wäre ich eine Art Kuriosität, und fragte sich, wie das alles zusammenpasste, wenn sie einen Mann vor sich hatte, den nicht einmal ein Bahnhofspenner um sein Aussehen beneidet hätte.

Aber als sie sich vorstellte, dass ich rasiert wäre und einen anständigen Anzug und eine Krawatte trüge - eine Verwandlung, die sie schon einmal gesehen hatte -, stellte sie eine Frage, die sie quälte:

- Weshalb sind Sie hierhergekommen? Hier werden Sie doch als Deutscher registriert.

- In Turuchansk warten Frau und Sohn auf mich, - erklärte ich lakonisch, ohne den Wunsch, dieses Thema weiter auszubreiten.

Wieder eine Pause, nach der sie mit nun schon etwas weniger offiziellem Ton die Frage stellte:

- Ist Sie – eine Verbannte?

- Da haben Sie Recht, sie ist eine Verbannte, aber wir sind nicht gemeldet, und das bringt viele Probleme mit sich.

- Sie sind nicht gemeldet und fahren trotzdem nach Turuchansk, obwohl Sie wissen, dass Sie dort vermutlich Ihre Freiheit verlieren? – In ihrer Stimme klangen Verwunderung und Mitleid.

Ich war erstaunt über die Veränderung. Vor mir saß eine hübsche, vergleichsweise junge Frau. Die Sonnenstrahlen schimmerten golden in ihrem Haar, und ein zierlicher Fuß, bekleidet mit einem Hackenschuh lugte hinter ihrem Schreibtisch hervor. Das Wichtigste waren ihre Augen. Sie strahlten vor Freundlichkeit und Teilnahme.

Zwei Jahrzehnte später kreuzten sich unsere Wege erneut. Sie arbeitete als Lehrerin für russische Sprache und Literatur an der Schule, an der meine Schüler ein Praktikum absolvierten. Sie erinnerte sich an diese Episode und gestand:

- Ich weiß nicht, was damals mit mir passiert ist. Es war nicht so sehr, dass man in acht Monaten seinen Abschluss machte, sondern dass man an einen der schrecklichsten Orte des Exils ging, wie es mir schien. Sie waren nicht gezwungen, dorthin zu gehen, sondern nur aus Pflichtgefühl und Emotionen heraus. Immerhin hatte mich mein Mann kurz zuvor verlassen und mich mit zwei Kindern allein gelassen. Trotzdem war mein Gespräch mit Ihnen ein schwerer Fehler. Aber ich habe mich schnell zusammengerissen.

Ja, ich erinnerte mich. In einem Augenblick war alles wieder anders. Die goldenen Strähnchen in ihrem Haar, das zierliche Bein waren verschwunden, und vor allem ihre Augen. Vor mir saß eine klerikale Ratte und fragte mit trockener Stimme:

- Was wollen Sie eigentlich von uns?

- Ich möchte in einer Schule arbeiten, um Mathematik zu unterrichten.

- Verstehen Sie nicht, das kommt nicht in Frage. Erstens sind Sie Deutscher und zweitens haben Sie unter einem politischen Artikel gesessen. Jeder dieser Gründe reicht aus, um Sie von der Schule fernzuhalten. Sehen Sie", ihre Stimme wurde für einen Moment wieder leiser, "ich habe Ihnen schon zu viel erzählt.

- Und was ist mit der Dorfschule, dem Holzschuppen?", versuchte ich es ein letztes Mal.

- Nein, nein! In einem abgelegenen Dorf wird man Ihnen das Gleiche sagen, selbst wenn sie seit Jahren keine Mathematik mehr unterrichtet haben. Sie sollten über einen anderen Beruf nachdenken, der nichts mit Kindern zu tun hat.

Ich hatte einen solchen Beruf, und aus den Anzeigen in der Stadt wusste ich, dass es in der Region ein Holzunternehmen, das Kombinat "Krasdrev", gab. Also ging ich zu der in der Anzeige angegebenen Adresse. Es war ein zweistöckiges, barockes Gebäude aus Holz. Die Personalabteilung befindet sich in der ersten Etage. Es war mitten am Tag. Eine Menge Leute. Ein Personalinspektor in der Uniform eines Försters. Vor seinem Schreibtisch saß ein Mann mittleren Alters in der gleichen zerknitterten, halb verstaubten Kleidung wie ich. Er hat die Bartstoppeln von drei Tagen im Gesicht. Er bewirbt sich als Buchhalter bei einem Holzunternehmen. Der Inspektor prüft schweigend sein Arbeitsbuch, seinen Reisepass und einige abgenutzte Zeugnisse. Ohne den Besucher anzusehen, wirft er ein:

- Werden Sie sich zum Holzlager Partisanskij begeben?

- Als was? Wie hoch ist das Gehalt?

- Das werden Sie nach der Probezeit vor Ort herausfinden.

- Also gut, schreiben Sie es auf!

Nach einer kurzen Prozedur bezüglich seiner Zuweisung bin ich an der Reihe.

- Beschäftigungsgeschichte, Reisepass!

Ich gebe ihm meinen Reisepass und Fajerstejns Bescheinigung.

- Das Arbeitsbuch! - fordert der Inspektor mit ruhiger, farbloser Stimme.

- Ich habe noch keins, bisher habe ich studiert, - teile ich dem Inspektor mit und reiche ihm mein Diplom in der Hoffnung, dass seine rote Farbe den Leiter besänftigt. Doch nichts dergleichen geschieht. Nachdem der Inspektor hineingeschaut hat, fragt er mit der gleichen unscheinbaren Stimme:

- Und welchen Bezug hat ihr Diplom zu r Arbeit in der Forstindustrie?

- Ich möchte damit bestätigen, dass ich studiert habe.

Der Inspektor nach kurzem Schweigen:

- Wollen Sie in die Partisansker Waldwirtschaft?

- Wo ist das?

- Im Partisansker Bezirk. Ortschaft Skotoprogonnoje.

Ich war erstaunt über den einprägsamen Namen und traute mich nicht, weitere Fragen zu stellen, die für mich von Bedeutung gewesen wären, aber ich stimmte zu. Nachdem ich mich nach dem Weg erkundigt hatte und auf den Korridor hinausgegangen war, fand ich meinen möglichen Begleiter bis zum mysteriösen Skotoprogonnoje. Er unterhielt sich angeregt mit zwei Männern, die ihm ähnlich sahen. Die Gruppe verströmte einen würzigen Geruch von Schweiß, Tabak und Weinrausch. Ich wartete bis das Gespräch beendet war und schlug meinem möglichen Kollegen vor, gemeinsam nach Skotoprogonnoje zu fahren. Nach einigem Zögern willigte er schließlich ein, warnte mich aber, dass er erst zwei Tage später reisefertig sein würde. Es machte mir nichts aus, zumal ich ohnehin bis zum neunzehnten warten musste. Wir einigten uns auf einen Treffpunkt. Im Laufe des Gesprächs stellte sich heraus, dass er auch Strafgefangener gewesen war, zehn Jahre im Lager gesessen hatte, aber nicht im Usollag, sondern im Kraslag und nicht nach dem Paragrafen achtundfünfzigsten, wie ich, sondern nach gemäß den Paragrafen sieben und acht. Die letzten Jahre hatte er als Buchhalter der Lebensmitteltheke gearbeitet. Seine Frau, die irgendwo in der Ukraine lebte, hatte in den Jahren seiner Gefangenschaft geheiratet, und sein größter Wunsch war es nun, "zu dritt zu trinken". Meine kategorische Ablehnung überschattete ein wenig die "Freude des Kennenlernens".

Die Reise nach Skotoprogonnoje fand erst am 6. September statt. Er war die ganzen Tage zuvor nicht zu sehen gewesen und tauchte erst am Abend stark betrunken am Kai auf. Und wieder der Bahnhof, ein Zug in Richtung Osten, nach Kamarchaga, von wo aus es, zum zweiten Mal, auf der Ladefläche eines vorbeifahrenden Lastwagens weiterging. Mein Reisegefährte, der älter und unternehmungslustiger war als ich, saß in der Fahrerkabine. Die Fahrt, vor allem auf dem letzten Stück, war wie eine Zirkusattraktion. Um eine Abkürzung zu nehmen, fuhr der Fahrer über ein altes, baufälliges Gleis: zwei Gleise aus dicken, breiten Bohlen, die auf halb verrotteten Querbalken - Schwellen - lagen. Unter dem Gewicht des Lastwagens brachen die verrotteten Bretter immer wieder, und es war ein Wunder, dass das Auto nicht gegen die nahegelegenen Kiefern geschleudert wurde. Die Erschütterungen waren unglaublich und konnten nur im Stehen mit gebeugten Knien abgefangen werden. Aber dann gab es noch eine andere Gefahr: niedrige, durchhängende Drähte, die die Strecke öfter kreuzten, als mir lieb war. "Wenn du zögerst, wird dir der Kopf weggeblasen, also verbeuge dich öfter", warnte mich der Fahrer. Ich musste mich oft verbeugen, vor den realen und imaginären Drähten und noch öfter vor den Ästen der Bäume. Obwohl die Sonne warm vom Himmel schien, war meine Seele von einer eisigen Kälte gefesselt.

Gegen Mittag trafen wir in Skotoporgonnoje ein. Ein richtiges Dorf, welches sich durch seine Fülle an Vieh von anderen nicht unterschied. Aber die Nähe der Abholzungsstellen war spürbar. Viele der Hütten waren aus Baumstämmen und Holz gebaut. Hier und da standen Holzfällerfahrzeuge und spezielle Traktoren zum Abschleppen der Stämme. Unser Fahrer brachte uns direkt zum Büro der Holzfirma. Hier ergriff mein Mitreisender wieder einmal die Initiative. Er suchte den Hauptbuchhalter auf, zeigte ihm seine Unterlagen und begann zu erklären, welche verantwortungsvolle Arbeit er in seinem früheren Beruf geleistet hätte.

Sein aus Expertensicht nicht sehr verständliches Gerede wurde durch eine aus meiner Sicht absolut natürliche Frage unterbrochen:

- Trinken Sie viel?

Der Bewerber, der seine ausdrucksstarke Nase mit der Hand abdeckte und versuchte, nicht zu atmen, sagte bescheiden:

- Ganz und gar nicht! Es sei denn, es ist ein Feiertag.

Seine Worte standen in so starkem Kontrast zu seiner gesamten Erscheinung, dass der Hauptbuchhalter laut auflachte.

- Nun, schauen wir mal. Sie werden einen Monat lang hier vor mir arbeiten, und dann werden wir weitersehen.

Dann komme ich an die Reihe. Ich überlege krampfhaft, welche taktische Linie ich einschlagen soll, um auch in der zentralen Buchhaltung zu bleiben. Aber die Zeit drängt, und der Hauptbuchhalter auch. Ich übergebe ihm schweigend das vom Personalinspektor ausgestellte Empfehlungsschreiben, meinen Ausweis, mein Diplom und die Bescheinigung von Fajerstejn. In der sicheren Annahme, dass dies in positiver Weise meine Eigenschaft als Arbeitnehmer charakterisiert, füge ich noch hinzu:

- Ich trinke und rauche nicht!

- Du trinkst also nicht?

- Ich trinke nicht!

- Überhaupt nicht?

- Ganz und gar nicht.

- Und in den Ferien?

- Und an Feiertagen.

Der Hauptbuchhalter schaut mich neugierig an und sagt dann: "Das ist nicht wahr:

- Es ist schwer zu glauben, aber wenn es so ist, beneide ich Sie nicht!

- Wieso das? – wundere ich mich.

- Ein langweiliges Leben, das sie da führen, und wahrscheinlich haben Sie auch keine Freunde?

- Trinkkumpane, - korrigiere ich ihn.

Nach einer bedeutungsvollen Pause wirft der Hauptbuchhalter einen Blick auf meinen Pass und lässt ihn mit einem Hauch von Missbilligung in seiner Stimme fallen:

- Also deutsch?

- Deutsch!

- Trinken Sie deswegen nicht?

- Warum "deswegen"? Ich trinke eben nicht.

Ich merke, dass ich mit meiner Einstellung zum Schnaps sowohl Misstrauen als auch Ablehnung erwecke. Nach einem Moment des Schweigens, in dem er sich offenbar mit dem Gedanken abfindet, dass es in der Gesellschaft einige Männer gibt, die nicht trinken, meint der Hauptbuchhalter:

- Na gut, dann schicke ich Sie als Hauptbuchhalter in den Holzschuppen, denn alle, die ich dorthin schicke, trinken zu viel.

Ich sagte nichts, denn das konnte mich nicht einschüchtern. Ich fragte ihn bezüglich meiner Familie und meiner Arbeit im Lager, und er versprach mir eine Zweizimmerwohnung, ein gutes Gehalt und bot mir sogar an, mir einen Vorschuss zuzuschreiben, wenn ich einen Job finden und meinen Pass als Sicherheit hinterlassen würde. Ich konnte das nicht tun, obwohl ich das Geld dringend gebraucht hätte.

Nachdem er begriffen hatte, dass meine Ankunft nur eine Erkundung war und ich nach meinem Besuch in Turuchansk vielleicht nicht wiederkommen würde, begann der Hauptbuchhalter, das örtliche Klima, die Natur und die Menschen zu preisen. Er sagte, dass alle Angestellten schöne Gärten hätten, und am Ende des Gesprächs rief er eine Frau an und bat darum, uns in die Kantine zu geleiten und uns für die Nacht unterzubringen.

Am nächsten Tag, als ich mich auf die Rückreise vorbereitete, stellte ich dem Hauptbuchhalter eine Frage, mit der ich unser gestriges Gespräch hätte beginnen sollen oder sie vielleicht noch in Krasnojarsk dem Personalinspektor von Krasdrev hätte stellen sollen.

- Leben bei Ihnen in der Siedlung oder in der Nähe Verbannte?

Seine Antwort war für mich wenig tröstlich:

- Nein, sie wurden alle nördlich der Bahnmagistrale untergebracht. Aber warum fragen Sie? Sie haben doch gesagt, dass sie keiner festen Anbindung unterlägen.

- Na ja, ich habe nur so gefragt.

Es stellt sich also heraus, dass ich dumm gewesen bin und mein Geld verschwendet habe. Ich frage mich, wohin der Inspektor mich geschickt hätte und wie mein Schicksal verlaufen wäre, wenn ich ihm gesagt hätte, dass meine Frau in der Verbannung lebt.

Am achten September kehrte ich nach Krasnojarsk zurück. Geld hatte ich bestenfalls noch für die nächsten fünf – sechs Tage, aber durchhalten musste ich bis zum zweiundzwanzigsten, wenn laut Fahrplan die “Josef Stalin” an der Anlegestelle Turuchansk festmachen sollte. Zum Verkaufen besaß ich nichts. In meinem Koffer befanden sich außer der Steppjacke und Wäsche lediglich Bücher, und die waren über Mathematik, und demzufolge konnte niemand sie gebrauchen. Um irgendwo zu arbeiten, z. B. beim Be- oder Entladen von Lastkähnen, musste man seinen Ausweis mit einem obligatorischen Registrierungsstempel vorlegen. Schließlich war Krasnojarsk eine Stadt mit Sperrgebiet, voll mit NKWD-Offizieren, Milizionären und Militärs. Es blieb nur ein Mittel – die Fahrkarte von der “Josef Stalin” auf die “Maria Uljanowa” umzubuchen, auf der es weitaus billiger war und die, wie man mir erklärte, auch schon fast voll ausgebucht war, und die Fahrt mit Sicherheit antreten würde. Dass die “Maria Uljanowa” erst einen Tag später als die “Josef Stalin” in Turuchansk ankommt, erfuhr ich unterwegs, als lezterer die “Maria Uljanow” überholte und tmit einem Abschiedstuten der Sirene hinter einer Flussbiegung verschwand. Um Geld zu sparen und nicht Hungern zu müssen nahm ich eine Fahrkarte für die „Maria Uljanowa“ ohne festen Sitzplatz.

So kam es, dass ich am 18. September, nachdem ich mit einigen armen Passagieren wie mir auf dem Unterdeck der „Maria Uljanowa“, zwischen Kisten, Ketten, Draht und anderem Takelwerk, untergebracht worden war, endlich das letzte Hindernis auf dem Weg ins Eheleben überwinden sollte. Irgendwie würde es für

 

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