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W.A. Makogon . Das NorilLag

Guten Tag, Ida Petrowna!

Heute, am 24. März habe ich ihren Brief erhalten und danke Ihnen für Ihre Aufrichtigkeit. Den Brief, den ich Ihnen geschickt habe, habe ich auch an die Kreisverwaltung gesandt.

Wahrhaftig, die meisten glauben nicht, daß ich ihn geschrieben habe, aber im allgemeinen hat er ihnen gefallen. Nur hat sich irgendwie in ihnen vor Angst alles zusammengekrampft. Einen

Brief habe ich an die Stadt Minsk geschickt. Ida Petrowna, Sie haben meinen Brief ein Poem genannt. Sie irren sich; vielleicht habe ich anfangs auch so gedacht, aber als ich dann noch einmal richtig überlegt habe, da begriff ich, daß es kein Gedicht war. Es ist vielmehr ein Gebet, geschrieben im Straflager-Jargon, für die strafgefangenen Männer und Frauen, die ich in jene Welt begleitet habe – damals, vor 35 Jahren.. Ida Petrowna, ich sehe in meinen Briefen kein Geheimnis.

Ein wenig später werde ich versuchen, unsere grausamen Abenteuer mitten unter den bytoviki (nichtpolitische Kriminelle; Anmerkung der Übersetzerin) zu beschreiben. Über die Kriminellen zu schreiben, ist sehr schwierig. Meine Hand würde noch nicht einmal zittern, wenn ich dreißig Prozent von denen aus der Verbrecherwelt erschießen müßte. Ich selbst bin niemals ein Verbrecher gewesen, habe aber mehr als dreizehn Jahre mit ihnen zusammen verbracht. Für die Regierung kamen diese Arbeiten sehr gelegen. In unserem Land läuft die Politik der Perestroika (Umgestaltung; Anmerkung der Übersetzerin). Die Mistkäfer verstecken sich, und die Misthaufen? Aber die Mehrheit der Kommunisten schaut hinter der Ecke hervor und sieht, welche Seite gewinnt, die Partei Gorbatschows oder die Partei der Bürokraten. Gorbatschow – wer ist er? Ein Doktor, dem das Schicksal zuteil wurde, eine ansteckende, unheilbare Parteikrankheit behandeln zu müssen. Und Gorbatschow erfüllt würdig seine Pflicht. Ida Petrowna, vergessen Sie nicht, mir zu schreiben.

31.03.1989

gez. Makagon

 

Ich habe Ihre Zeitung von 1988 erhalten. Ich erinnere mich nicht, in welcher Ausgabe das war, ab da gab es einen Artikel, daß in Norilsk, im Stadtteil Kupjez, ein geologischer Komplex gebaut wurde. Ich möchte sehr gern wissen, ob die Bauarbeiter zusammenzählen, wieviele verscharrte Frauen- und Männerschädel dort liegen, die nach dem Tode Stalins erschossen wurden. Sollen die Erbauer doch erfahren, daß sie das Fundament auf den Knochen von Volksfeinden errichten werden. In der Zeitung „Iswestija“ („Nachrichten", Zeitung; Anmerkung der Übersetzerin) vom 9. September 1988 gibt es einen Artikel zum Gedenken an die Häftlinge des NorilLag. Ich möchte gern wissen, an welcher Stelle man einen Gedenkstein aufstellen wird.

13.01.1989

gez. Makagon

 

Eine Kopie dieses Schreibens habe ich an die Redaktion des „Krasnojarskij Rabotschij" („Krasnojarsker Arbeiter“, Zeitung; Anmerkung der Übersetzerin) geschickt, in die für Bau-Angelegenheiten zuständige Abteilung.

Ich kenne die Anschrift des Allrussischen Radiosenders nicht. Sie baten darum zu schreiben, wenn man etwas über die Begräbnisplätze der Norilsker Strafgefangenen weiß. Mir ist nur einer bekannt – der Stadtteil Kupjez. Dort gab es eine Unmenge leerer Baugruben. Dort war ein Schweinestall und zwei Baracken, in denen die Menschen erschossen wurden. Für diese Aktionen hatte man oben aus der Decke kleine Löcher ausgeschnitten. Zwei Tage lang wur-den Männer nach Kupjez geführt, am dritten Tag jagten sie Frauen dorthin. Ich sah ihnen sehr aufmerksam in die Augen. Und sie blickten mich an. Ihre Augen waren böse. Ich wußte nicht, daß ich sie in jene Welt hinüber begleitete. Frauen. Mit blutigen Fingern schrieben sie Abschiedsworte an die Wände. Die meisten von ihnen waren Lettinnen. Einige Tage später wurden die Baracken von uns abgerissen.

03.01.1989

gez. W.A. Makagon

 

Eine Kopie von diesem meinem Brief habe ich an die Redaktion der „Iswestija“ geschickt.

Im Jahre 1953 erging der Erlaß über eine Amnestie. Makagon befand sich zu dieser Zeit in der Stadt Norilsk, im 17. Lagerstützpunkt, einer Kupferschmelzerei. Die Amnestie gong an mir vorüber. Zu dieser Zeit brach in den politischen Lagern ein Streik aus; von der Lager-verwaltung wurden wir darüber unterrichtet. Das heißt von den im freien Arbeitsverhältnis stehenden Aufsehern. Bei einem Spaziergang inerhalb der Zone hob ich ein Blatt Papier vom Boden auf. Als ich es umdrehte und den Inhalt durchlas, begriff ich, daß es sich um ein Flugblatt von politischen Gefangenen handelte, das auf einer Schreibmaschine geschrieben worden war. Sie fragten uns, die bytoviki, ob wir die Streikenden unterstützen würden. Ich begriff, was ich zu tun hatte und ging in die Baracke zurück. Dort trat ich an meine Kame-raden heran und gab ihnen das Flugblatt zum Lesen. Sie lasen es durch, gaben es mir zurück, schwiegen. Ich ging, ohne ein Wort zu sagen, weiter und zeigte es den anderen, den Männern. Aber niemand sagte auch nur ein einziges Wort zu mir. Nach ein paar Stunden trat ein unbekannter Bursche auf mich zu, der etwa fünf Jahre älter war als ich. Er fragte mich, ob ich ein Flugblatt hätte; ich bestätigte das und der Mann sagte mir, ich solle es schnell vernichten: sonst vernichten sie dich mitsamt dem Flugblatt. Er drehte sich um und ging. Ich nahm das Flugblatt aus der Tasche, zerriß es in kleine Schnipsel und warf es fort. In diesem Augenblick empfand ich eine gewisse Angst, aber sie verflog schnell wieder. Die Streikenden forderten von der Regierung, daß ihr Fall noch einmal zu überprüft wurde und verlangten aus Moskau Woroschilow. Sie besaßen eine eiserne Disziplin.

Ohne dem Zureden nachzugeben wurde ein Kommando aus jeweils fünf Leuten zusammen-gestellt; sie öffneten das Tor und die erste Fünfergruppe marschierte aus dem Tor, wo sie sofort erschossen wurden, insgesamt mehrere Fünfergruppen. So begann die Erschießung von Polit-Häftlingen. Täglich öffneten sie das Tor, erschossen einige Fünfer-Einheiten vor den Augen der übrigen Gefangenen, schlossen das Tor wieder und gingen auseinander. In dieser Zeit gingen meine Lagerfreunde unter Einzelbewachung nach Kupjez. Hier im Stadteil Kupjez befand sich eine Nebenwirtschaft des NorilLag. Zwei Baracken und ein Schweine-stall. Meine Freunde riefen mich dorthin, damit ich mich um die Zuchtsauen kümmerte, aber ich lehnte ein solches Vergnügen ab. Ich persönlich war zu dieser Zeit sehr niedergedrückt.

Die Verbrecher gingen hinaus in die Freiheit. Meine Freunde ließen ebenfalls den Kopf hängen, die Liebe zu den Zuchtsauen wurde jäh unterbrochen. Es gingen Gerüchte um, daß Kruglow nach Norilsk gekommen sei. Unsere Baracke befand sich neben der verbotenen Zone, das Wetter war scheußlich. Ich befand mich auf der Straße und bemerkte in der Ferne, daß an unserem Wachhäuschen eine Männeretappe vorbeiging. Es war vier Uhr. Die Etappe näherte sich von der Stadtseite her. Der Weg, auf dem die Etappe entlang geführt wurde, lief dicht an der verbotenen Zone vorbei. Nach einigen zig Metern lenkten die Männer ihre Auf-merksamkeit auf mich, und je näher sie in meine Richtung kamen, desto deutlicher sah ich ihre Gesichter und ihre Augen. Auf dieser Etappe befanden sich nicht weniger als hundert Mann, und als ob ich dreimal verflucht war, blickten sie alle auf mich. Sie gingen mit schnel-len Schritten.

Es waren unglaublich viele Fünfergruppen. Als sie ihre Blicke in mich hineinbohrten, krampfte sich alles in mir zusammen. So gingen sie an mir vorbei, ohne ihre durchdringenden Blicke von mir abzuwenden. Dann zwang der Weg sie, mich aus den Augen zu lassen. Erst da richtete sich meine Aufmerksamkeit auf die Begleitwache. Ich werde ihn nicht beschreiben, diesen Hunderzwinger, diese Menschen und die Hunde. Ich begriff, daß man eine Etappe zum Leben so nicht durchführt. Als ich den Kopf drehte, sah ich im Umkreis meines Blickfeldes nicht eine einzige lebende Menschenseele auf der Straße. Aber in der Zone waren fünftausend Leute. Da ich keinen Gesprächspartner ausfindig machen konnte, schleppte ich mich in die Baracke, trat an die Männer heran und erzählte ihnen, daß eine Etappe nach Kupjez gejagt wurde. Volksfeinde. Einige sagten mir, daß sie sie vielleicht auch nach Alykel (so heißt heute der Norilsker Flughafen; Anmerkung der Übersetzerin) trieben, und damit war die Unterhal-tung beendet. Am folgenden Tag, zur selben Zeit, trieb mich eine unergründliche Macht erneut auf die Straße. Und wieder begegnete ich einer Etappe, und begleitete diese zweite – die gleiche Anzahl Menschen, mit derselben Wachbegleitung wie gestern. Aber ich zuckte nicht mehr so heftig zusammen. Und ich habe sie so in der Erinnerung, als ob sie damals nicht ganz bei sich gewesen wären. Nachdem ich in der Baracke angekommen war, erzählte ich den Jungs erneut, daß sie schon wieder eine Etappe mit Bauern nach Kupjez getrieben hatten. Um auch den dritten Tag meiner Beobachtungen zu beschreiben, muß ich auf die Fresse unserer Partei der Bolschewiken spucken. Denn da ich körperlich ziemlich schwach bin, möge meine Spucke auf dem Papier kleben bleiben. Ich weiß nicht, welcher Krankheitserreger mich am dritten Tag befallen hatte – jedenfalls fand ich mich am selben Platz, zur selben Zeit wieder ein. Eine Etappe wurde in meine Richtung gejagt.

Aber diesmal waren es keine Männer, sondern Frauen. Ich blickte auf die Frauen; sie sahen mich nicht. Sie gingen ruhig und bemerkten mich nicht; aber ich wollte, daß sie mich ansahen. Ich war damals 22 Jahre alt. Es blieben nur noch ein paar Schritte, als die Frauen-formation gleichzeitig einen blitzschnellen Blick zu mir herüber warf und sich mit der gleichen Energie wieder abwandte, indem sie alle ihre Köpfe ein wenig nach unten neigten. Sie gingen weiter. Aber ich blickte ihnen weiter hinterher und überlegte, weshalb sie mich so plötzlich und nur ganz kurz angesehen hatten, aus welchem Grunde sie nicht einmal einen Sekundenbruchteil dafür verschwendet hatten, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. So einen Blick gibt es auf den Etappen des Lebens nicht. Zahlenmäßig war die Frauenetappe etwas kleiner, die Wachbegleitung etwas schwächer. Ich stellte eigene Vermutungen an und redete mir ein, daß man die Frauen nach Kupjez trieb, um die Leichen wegzuräumen. Auch beim dritten Mal bemerkte ich keine einzige Menschenseele auf der Straße. Und wieder schleppte ich mich in die Baracke und erstattete meinen Freunden Bericht, und ich erzählte den Jungs, daß man Frauen nach Kupjez trieb, welche die die Leichen beseitigen sollten.

Zwei Tage darauf gingen drei von meinen Freunden unter Einzel-Bewachung nach Kupjez.

Bis zum Abend lief ich in der Zone auf und ab und ging dann in meine Baracke. Ich trat an meine Kameraden heran und fragte: na, wie geht es euch Schweinehirten. Sie sahen mich haßerfüllt an und wandten sich dann ab. Einer von ihnen drehte den Kopf in meine Richtung und erwiderte, daß dort Leute erschossen worden seien. Ich verlangte, daß sie mir Näheres erzählten.

Die erste Frage lautete: wo sind die Leichen? Sie schüttelten ihre Köpfe. Was habt ihr denn da gemacht. Sie hatten sich die Baracke genau angesehen, in der die Erschießungen stattgefun-den hatten. Und der Schweinestall, die Zuchtsauen? Die Antwort war, daß es dort überhaupt keine Schweine gab, und den Stall hatte irgendjemand auseinandergenommen und beseitigt.

Brüder, erzählt alles, was ihr dort gesehen habt und was euch im Gedächtnis geblieben ist.

In die Decken waren Löcher hineingeschnitten, die ganzen Wände waren mit Blut vollge-schrieben. Könnt ihr euch denn wenigstens an eine Aufschrift erinnern? An viele erinnern wir uns. Ich zeigte mit dem Finger auf einen meiner Freunde: sag, was du weißt. Er lächelt und sagte: tschüß, werter Adolf. Ich, Makagon, schrie die ganze Abteilung an. Und die Hunde haben Hitler vor dem Tod auch „wert“ genannt. Allgemeines Gelächter, nicht weniger als fünfzig Leute, darunter auch ich. Nachdem das Lachen abgeklungen war, fragte ich den zweiten: woran kannst du dich erinnern? Er zuckte mit den Schultern und sagte: die Männer, aber gepinkelt haben sie wie Frauen. Da wandte ich mich an den dritten Freund; er sah mich an und sagte: ich begreife nicht, warum sie so gepinkelt haben. Ich fragte, welche Nationali-täten: Letten, Ukrainer, Polen, Deutsche – viele Nationalitäten. Ich verstand nun, daß sie die besten Agitatoren des Streikes erschossen hatten. In der letzten Baracke wurden Frauen erschossen. Das kam mir erst fünfunddreißig Jahre später zu Ohren. Und in jenen Jahren haben die Kolchos-Bullen das nicht begriffen. Die Leichen befinden sich dort; ich war 1952 in Kupjez. Dort gab es eine große Anzahl leerer Baugruben. Und damit endet meine Existenz in Kupjez.

 

Mein Brief ist nicht für die Lebenden bestimmt.
Ich verachte die Macht der Sowjets.
Ich verachte die Partei der Bolschewiken.
Dafür, daß sie mein Leben verdorben haben.
Dafür, daß sie mich barfuß durch Norilks gehetzt haben.
Dafür, daß ihr heimlich Menschen erschossen habt.
Und uns haben sie losgejagt, um die Spuren zu verwischen.
Dafür, daß ihr verabscheuungswürdige Schakale seid.
Kein Erbarmen mit den grauen Haaren der Frauen.
Als ihr sie in Norilsk-Kupjez zu den Erschießungen geführt habt,
da hab ich gesehen, wie eure Augen in der Vorahnung des blutigen Gelages glänzten.
Mit welcher Grausamkeit euch das zur Gewohnheit wurde.
Ihr habt nicht daran gedacht ,daß das Leben eich zwingen wird,
sich an das Gewesene zu erinnern.
Mutig haben sie uns ins Gefängnis geworfen,
ohne unseren Fall näher zu ergründen.
Und die Foltern von oben waren faschistische Erfindungen.
Damit wir niemals erfahren sollten, was Menschenliebe ist.
Mein Brief ist nicht für die Lebenden, mein Brief ist für die Toten bestimmt.
Damals haben sie wahrscheinlich genauso gedacht,
wie ich heute denke.
Sie haben mich zur Erschießung getrieben,
und dann haben sie mich nicht erschossen.
Der Henker opferte seine Rubel, bloß weil er über uns nachgedacht hatte.
Und er führte uns in ein stilles Haus,
wo nicht ein einziger sein Leben aushauchte.
Nachdem ich all die Foltern durchgemacht hatte,
blieb ich in jenem Haus erneut am Leben.
Jener Offizierskreis, wo uns die Praxis nahegebracht wurde,
jene kersovye Stiefel aus Lederabfällen haften fest in meinem Gedächtnis.
(Der Henker) sagte: Und wieviele Male bin ich euch begegnet,
ich kann sie alle schon gar nicht mehr zählen,
ich habe selbst den Zehnrubelschein mit meinem Blut verdient.
Jetzt quäle ich mich mit euch.
Für euch soll man keinen Groschen verschwenden,
und er zeigte mit der Gewehrmündung auf uns.
Wir wußten , daß die Sowjetmacht nicht dumm war,
und kein Geld für die Lebenden bezahlte.
In jenen Jahren wurde von der Regierung eine Sonderbetrag ausgegeben,
für jede Leiche 50 Rubel.
Das ZK zeichnete sie aus. Und trotzdem bin ich ihm dafür dankbar,
daß er die Gewehrkugel nicht verschwendet hat,
dafür, daß mein rechter Arm gerettet wurde, als ich an Ketten gefesselt war.
1953 war ich auf der Flucht. NorilLag.
Und aus irgendeinem Grunde erinnere ich mich daran.

06.03.1989
gez. W.A. Makogon


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