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Irena Martinkute-Smetonene: „Es war das Erwachen des Menschen aus seiner geistigen Letargie, und es geschah vor meinen Augen“

Aus einem Brief an A.B. Makarowa

Ìàðòèíêóòå Èðåíà. 1955 ã.In jener Märznacht des Jahres 1953 arbeitete ich unweit des Wärmekraftwerks neben schwarzen, hohen Rohren; durch die Ablaufrinnen floss rotglühende Lava. Aus der Brigade mit verschärftem Regime hatte man mich erneut in eine gewöhnliche versetzt. Wir hatten Erdklumpen aus dem ewigen Frostboden herausgerissen und in zehn Metern Tiefe eine quadratisch geformte Baugrube ausgehoben. Hier sollten Betonfundamente für Wohnhäuser gelegt werden. Es wurde eifrig gebaut, Norilsk veränderte sich vor aller Augen. Die Häuser aus Betonblöcken schossen wie Pilze aus dem Dauerfrostboden. Die Wohnzonen des Lagers vermischten sich mit breiten Straßen europäischer Art, Vierteln mit Produktions- und Werkshallen und vermeintlichen zukünftigen Grünanlagen. Im Sommer ähnelten sie einem mit Müll vollgestopften Tundra-Areal, im Winter verwandelten sie sich in Berge aus Schnee und Eis.

Erfahrene Lagerinsassinnen brachten uns bei, wie man arbeitete, ohne seine Kräfte allzu sehr zu verausgaben. Über den Bretter-Belag, die schwere, wackelige Schubkarre vor mir her schiebend, transportierte ich Erdbrocken bis zum Ende des Abladeplatzes. Wenn ich zurückkam, blieb ich eine Zeit lang stehen, um zu warten, bis die Karre wieder beladen war, und dann ging es wieder los – und immer weiter, ohne Ende. Wir arbeiteten in Schichten, ohne Pausen, Tag und Nacht. Wohin du auch schaust, überall graue Wattejacken mit Nummern auf dem Rücken – ein grauer Ameisenhaufen und sonst nichts, und eine Nacht ohne jegliche Hoffnung, aber mit zehn Stunden Arbeit … Ich hatte genug davon, mich mit den Führerinnen der Brigaden mit verschärftem Regime zu streiten, mich von den Chefs beschimpfen zu lassen, und während ich meine Schubkarre vor mir her stieß, kam ich zu der Überzeugung, dass ich im Frühjahr fliehen würde. Natürlich wusste ich, dass man sich von der Halbinsel Taimyr, durch die sumpfige Tundra, nicht allzu weit entfernen kann – die Soldaten würden einen mit ihren Hunden schnell einholen, aber die Hoffnung zu haben – das war ein angenehmes Gefühl. Diese Hoffnung machte die 25-jährige Haftstrafe irgendwie erträglicher.

m Morgen schleppten wir uns, wie immer, zu den Baracken. Meine Leidensgenossinnen bereiteten sich aufs Ausruhen vor, als plötzlich jemand schrie: „Der Generalissimus ist kaputt!“ Einige umklammerten eine vergilbte Zeitung, andere standen ungläubig herum, und ich meinte nur: „Na also, das heißt er ist tot, wie es bei allen Lebendigen geschieht – und Schluss! Was werden sie jetzt für Denkmäler aufstellen, von denen wir sowieso schon mehr als genug auf den hohen, in Fels gehauenen Sockeln haben? Die allerhöchsten Götter; ob denn nicht bald die Zeit kommt, dass man sie zerstört?“

Was in der Welt geschah, welche Neuigkeiten es in Moskau gab – in unserer Polarzone war das alles nicht bekannt. Vieles wurde der Union als Sieger gestattet, aber wenn Erhabenheit sich ins Lächerliche wendet, dann ist es nicht mehr möglich, die ganze Sache noch weiter zum Absurden zu führen. „Och, da müssen sie ja einen Sündenbock suchen und anfangen „das Gesicht zu ändern“ und sich um den Thron zu zanken“, politisierten wir, wobei wir unsere Bewacher und die Diensthabenden, die fassungslos und mit blutunterlaufenen Augen herumliefen mit sarkastischen Blicken verfolgten, während diese uns boshaft von der Seite ansahen. Manche von uns träumten von einer Amnestie, hofften auf Freilassung, aber die Mehrheit war der Meinung: „Wir haben doch den § 58. Sie entlassen die Diebe, aber nicht uns. Wann werden sie die Achtundfünfziger amnestieren?!“ Und das war die Wahrheit.

Ìàðòèíêóòå-Ñìåòîíåíå Èðåíà. Âèëüíþñ, 2004 ã.Merkwürdige Gerüchte beunruhigten uns: woher hatten sie die Häftlingsetappe mit den Berufsverbrechern gebracht, die hier nicht mit einer verschärften Haftordnung rechneten, denn sie tragen Messer in ihren Stiefelschäften, trinken und machen auch die Wachen betrunken. „Sie verlangen nach Weibern, und außerdem dürfen sie auch in die Frauenlagerzone eindringen“, - erschreckten sich unsere Frauen gegenseitig. Klar war nur eines: die Haftordnung geriet aus allen Fugen, mit dem Tod des Tyrannen tauchten andere Thronanwärter auf, und in diesem Gerangel fiel auch für uns etwas ab.

Es hieß, dass eine Etappe aus den aufständischen karagandinsker Lagern eingetroffen sei. Bei einer derart schwarzen Hoffnungslosigkeit und Ungewissheit wirkten die Gerüchte über einen Aufstand wie Balsam für die Seele. Und tatsächlich, in der die Männer-(Zwangsarbeiter-) Zone, die sich einige Kilometer entfernt befand, aber dank der sauberen Mai-Luft dennoch zu sehen war, ging augenscheinlich etwas merkwürdiges vor sich. Jemand teilte mit, dass sie dort bereits nicht mehr zur Arbeit gingen, aber was wollten sie erreichen und was war dort genau los? Und dort geschah wirklich etwas, denn man hörte sogar Maschinengewehrsalven …

- Wir müssen uns solidarisieren! – sagte ich. – Wenn die Jungs einen Aufstand gemacht haben, dann wissen sie, was sie tun!

- Aber wie kann man denn hier mit unseren armen Geschöpfen, die schon durch ein Jahrzehnt voller Qualen gegangen sind, einen Streik anzetteln, - erwiderte meine Freundin traurig.

Und während dieser Zeit rannten unsere praktisch Verlangten, die zudem ein wenig Geld besaßen, zum Lagerkiosk, kauften Brot und legten es in der Baracke auf die Pritschen; dabei flüsterten sie: „Wer weiß dort, wie es sein wird, aber wenn man Brot hat, dann geht man nicht zugrunde“.

„Eine merkwürdige Stimmung, aber der richtige Schritt wurde getan“, - scherzten wir, die Neulinge, die mit der letzten Etappe des Jahres 1952 angekommen waren. Wir wurden immer noch als Neulinge bezeichnet, obwohl wir bereits den langen Winter in der schrecklichen Norilsker Sklaverei überstanden hatten. Untereinander waren wir uns einig, und nachdem wir zusammen in der Baracke mit verschärftem Regime gesessen hatten, waren wir wie eine Familie geworden. Wir machten Scherze, obwohl wir kein Geld zum Brotkaufen hatten, aber wir bemerkten, dass die mustergültigen Arbeiter des Lagers anfingen uns zu grüßen und uns zu fragen, was wir zu tun gedächten. Sie wandten sich nicht an die Obrigkeit, ihre Wärter oder die operativen Bevollmächtigten, sondern an uns! Hielten sie uns etwa für ein Aktiv? Ich wunderte mich: wie spontan entsteht eine Organisation aus dem Nichts, wenn das Unglück Menschen miteinander vereint, wie schnell reift der Geist heran. Die Mustergültigen (welche die Arbeitsnorm erfüllten und übererfüllten), und am Kiosk das gesamte Brot aufkauften, bereiteten sich als erste auf den Aufstand vor. Einige fingen an sich Sorgen zu machen: wollen wir das wirklich tun? Was wird dann geschehen? „Selbstverständlich streiken wir“, - bekräftigte ich immer wieder.

Die Sirene ertönte, und über der Männerzone der Zwangsarbeiter wehte die schwarze Flagge; auch auf der anderen Seite, in der 5. Lagerzone und in Richtung auf die Stadt, in der 4. Lagerzone wurden Fahnen gehisst. Über allen Lagern flatterten schwarze Flaggen mit einem schrägen, von Ecke zu Ecke verlaufenden roten Streifen.

- Was bedeutet das? – fragten einige. Die Aktivistinnen ließen sich nicht in Verwirrung bringen, und wenngleich eine Nachrichtenverbindung zu den verbrüderten Zonen fehlte, antworteten sie:

-Der rote Streifen – das ist der Kampf, das Blut für die Freiheit! Freiheit oder Tod!

- Das ist unsere Losung!

- Weg mit den Lagern! Es ist Zeit nach Hause zu fahren!

- Unterstützen wir die Jungs!

- Stalin ist tot – es lebe die Freiheit!

- Ich werde nicht zur Arbeit gehen!

- Ich auch nicht!

- Ich auch nicht! … Und wozu die Nummern auf den Rückseiten unserer Jacken, Mützen, Hemden und Hosen?

Äåðèíãåíå Îíà, Êóðòèíàéòåíå ÒàìàðàDie Eine oder Andere reißt bereits jemandem den Flicken mit der Nummer herunter, beglückwünscht sie, küsst sie und schreit: „Hurra!“ Und schon fliegen die schwarzen Vögel der Sklaverei über den Stacheldrahtzaun, bleiben im Draht hängen, flattern daran herum, während andere Stoffstückchen weiterfliegen, sich in den Straßen von Norilsk verteilen. Tausende Fetzen der Unfreiheit und der Schmach! Zerstampft sie mit euren Füßen! Einer weint, ein andrer lacht … Es gibt auch Zweifelnde, die sich in den dunkelsten Ecken der Baracken verkriechen und von all dem gar nichts wissen wollen.

In die Zone werden immer mehr neue Brigaden getrieben, die von der Arbeit zurückkehren. Das ist ein Fehler: man hätte sie auseinandertreiben und nicht in die Zone führen sollen. Offensichtlich sind die Behörden erschrocken und verwirrt. Wir nehmen jede Brigade in Empfang, und dann fliegen auch ihre Nummernabzeichen zum Teufel!

Wer sonst, wenn nicht ich, hat wohl jemals erfreulichere Minuten erlebt. Ich begriff, dass es sich lohnt am Leben zu bleiben. Es war nicht schade um meinen jungen Kopf, der zu 25 Jahren verurteilt worden war, nichts ist schade … Genau so dachte auch Lida Karlowna Dauge, eine alte Linguistin, die bereits zehn Jahre im Lager verbüßt hatte und deren Haftzeit sich schon dem Ende näherte. Auch sie blieb in der aufständischen Zone.

Mitten im Zentrum der Zone wurde auch unsere schwarze Flagge gehisst. Die Lagerleitung war nirgends zu sehen. Es hieß, dass die Norilsker Obrigkeit auf das Festland gefahren wäre – der Eine mit irgendeinem durchtriebenen Bericht, der andere – mit einem Infarkt. Die Arbeit in den Schachtanlagen, auf den Baustellen, Kränen, in den Fabriken und Werken von Norilsk stand still. Wir wussten nicht, dass man zu der Zeit nicht nur in Norilsk, sondern auch in Moskau Stalins „rechte Hand“ abhacken wollte – die Lenker der berijaschen und abakumowschen Staatssicherheit. Im Land ging etwas vor sich, was es noch nie zuvor gegeben hatte und sich so bald auch nicht ereignen würde (die Erinnerungen wurden 1972 und später geschrieben. – A.B.). Allein in Norilsk streikten, nach unseren groben Gefängnis-Berechnungen, 39000 Arbeitskräfte.


Freundinnen im Leid: Gene Kostirene, Wanda Bruschaite,
Aldona Armonaite . Norilsk, August 1954

Unsere Zone ruhte sich aus. Die Frauen wuschen sich, kämmten und ondulierten ihre Haare, putzten sich heraus. Wir zogen aus dem Beutelchen irgendein Stücken sauberen Stoffs und fingen an zu nähen. Es kamen die weißen Polarnächte. Lieder lebten wieder auf. An einem Ende sangen stimmgewaltige Ukrainerinnen: „Es brüllt und stöhnt der breite Dnjepr“ – und am anderen ertönte: „Ach du, Nächtlein, dunkles Nächtchen“ … Noch war ein litauisches Lied noch nicht ganz verhallt, da erscholl auch schon ein lettisches: „Weh nur, Windchen, trag den Kahn davon“, und dann kam von irgendwoher auch noch estländischer Gesang.

Die Flagge über unseren Köpfen ist schwarz, und der blutrote Streifen teilt sie diagonal. Von den Wachtürmen über dem Lagerzaun ragen die Mündungen der Geschosse, zu Seiten der Tundra liegen Soldaten in Deckung.

Das Megaphon ertönt: „Pflichtbewusste Arbeiter ! Fallt nicht der Agitation der Provokateure anheim! Verlasst die Zone! Geht zur Arbeit! Wichtige Objekte stehen still, und jeder Tag bringt dem Land dadurch Verluste! (Wir beantworten die Rede mit einem lauten „Ha! Ha! Ha!“). Das ist Sabotage! Ihr werdet für alles die Verantwortung tragen! Die Abrechnung wird grausam sein! Pflichtbewusste Frauen, geht hinaus – und wir werden euch die Freiheit geben!“

- Wie lange kann man heulen und an unseren Nerven zerren? – Pasja Pawljuk macht einen Sprung zur Barackendecke und reißt die Radiokabel mit dem gesamten Innenleben herunter. Wir gehen durch alle Baracken und „stopfen den Schreihälsen und Schwätzern den Mund“.


Im Lagerkrankenhaus nach der Blinddarm-Operation.
In der Mitte der oberen Reihe – Irena Martinkute, 1955.

Unser Lagerkontingent – das sind Frauen, die zu 10 Jahren verurteilt sind und von denen die meisten bereits 8-9 Jahre verbüßt haben. Sie waren mustergültige Arbeiterinnen, ruhig, bereit, auch noch die restlichen Jahre der Zwangsarbeit hinter sich zu bringen. Jetzt wehrten sie sich gegen diesen Aufstand, von dem man nicht wusste, wie er ausgehen würde. Das Pathos der ersten Tage und die Freude über die Vernichtung der Häftlingsnummern verblassten. Vor ihnen lag die Ungewissheit. Sie sahen, wie diejenigen, welche die Arbeit verweigerten, mit Hunden gehetzt und zu Tode geprügelt wurden. Jetzt hielt die Angst die Frauen zurück, und sie mussten beweisen, dass sie nichts dafür konnten, dass es Organisatorinnen waren, die sie dazu aufriefen, sich nicht den Behörden zu unterwerfen. Notwendig waren auch „Diplomaten“ und „Juristen“, welche in der Lage waren, die möglichen Folgen vorherzusehen und den Behörden die Forderungen vorzulegen, die Verhandlungen mit der Leitung zu führen und, was das Wichtigste war – für all das die Verantwortung zu übernehmen, ihren Kopf hinzuhalten.

Und wer anders konnte das schon machen, wenn nicht wir, die wir zu 25 Jahren verurteilt waren, die Neuen, die die Grausamkeit der verschärften Regime-Baracke bereits kennengelernt hatten? Na ja, und außerdem noch solche wie Dauge, Lesja Selenskaja oder Olga Sosjuk, obwohl die ihre Strafe auch schon so gut wie verbüßt hatten, aber ihre Herzen und Augen mit dem Feuer der Selbstaufopferung. Das vereinte uns – die Neuen und die Alteingesessenen. Wir, der Kreis der „Diplomaten-Juristen-Agitatoren-Provokateure“ beschlossen, uns in Baracke 14 zu versammeln. Die Ukraine wurde, soweit ich mich erinnern kann, durch Lesja Selenskaja, Maria Gunko, Anna Masepa, Julia Wowk, Maria Nitsch, Olja Sosjuk, Koste Pospolita vertreten, Weißrussland durch Julia Safranowitsch, die sehr verständnisvoll war und die Lagerbehörden gut kannte, denn sie war lange Zeit Brigadeführerin gewesen, gab aber jetzt (merkwürdigerweise!) ihr ganzes Herz für den Aufstand, Estland – durch Asta Tofri, die magerste und größte von allen, die sich in unserer Mitte nicht nur durch ihre Größe abhob, sondern auch durch ihre hohe Stirn; sie zitierte fortgesetzt Anna Achmatowa und Sewerjanin; Lettland schließlich wurde durch die bereits weiter oben erwähnte Dauge vertreten und Litauen von mir, Irena Martinkute, die zu der Zeit aus irgendeinem Grund Janikaja genannt wurde (aus irgendeinem Film). Jemand setzte das Gerücht in Umlauf, dass man mich aus der juristischen Fakultät entfernt hätte und ich mich deswegen mit Rechten und Gesetzen auskennen müsste. Ich erklärte, dass dies nicht richtig, dass ich im Gymnasium verhaftet und aus der zehnten Klasse genommen worden sei, aber die etwas Älteren und Erfahreneren entgegneten: „Na und, macht nichts, dass du keine Jura-Studentin gewesen bist, aber heute wärst du es. Wenn du über genügend Mut verfügst, kannst du Litauen auch vertreten“. Um die Wahrheit zu sagen, hier waren alle solche „Juristinnen“ – ehemalige Schülerinnen, Krankenschwestern, Lehrerinnen und überhaupt ganz einfache Frauen, und eine höhere Ausbildung hatte lediglich Dauge.


Ukrainische Teilnehmerinnen am Norilsker Aufstand 1953

In Baracke 14 führten wir lange, hitzige Streitgespräche. Wir fassten den Beschluss, unseren Streik – egal mit welchem Ausgang –fortzusetzen, alles zu tun, um der Mehrheit unserer Leidensgenossinnen die Angst vor dieser Fortsetzung auszureden, uns nicht irgendwelchen Überredungskünsten und Agitationsversuchen seitens der Brigadeführerinnen zu unterwerfen, nicht zur Arbeit zu gehen und weder auf die durch die Lagerzone torkelnden operativen Bevollmächtigten noch die Drohungen der Diensthabenden oder irgendwelche Gerüchte zu hören. Wir beschlossen eine Kommission aus Moskau anzufordern. Wir schrieben eine Vielzahl von Forderungen an unsere zuständigen Behörden. Am wichtigsten von allem aber war uns die Revision unserer Fälle und dass man uns nach Hause entließ, denn die Liebe zur Heimat ist kein Verbrechen, sondern eine Ehre; alle anderen Bedingungen, die wir stellten, waren ganz alltäglicher Natur: Erleichterungen innerhalb der Lagerordnung, Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Des Weiteren wurde darauf hingewiesen, dass zuerst die Kranken und Invaliden entlassen werden müssten. Wir erhoben gegen die örtliche Leitung Anklage wegen verübter Grausamkeiten, Diebstahl, unmoralischen Verhaltens usw. Später stellte sich heraus. dass sich die Forderungen der Männerlager mit den unseren sehr ähnelten, obwohl es zwischen uns keinerlei Verbindung gab.

Es wurde entschieden in der Lagerzone in den Hungerstreik zu treten. Es hieß, dass man das überall in der Welt so handhaben würde, dass man durch Hunger, vor allem wenn 4000 Menschen stürben, am schnellsten bis zu den Moskauer Göttern vordringen würde. Ich kann mich noch daran erinnern, dass nur Asta Tofri und ich uns dem widersetzten. Wir waren der Meinung, dass die Lagerobrigkeit demoralisiert wäre, Gesetze und Menschlichkeit überall verletzt und ignoriert würden und kein Mensch unserem Hungerstreik Aufmerksamkeit schenken würde. Hunger bricht den Willen der Menschen. „Wir wissen nicht, wie lange sie uns überhaupt noch irgendeinen Fraß geben; also freut euch, das man euch noch etwas bringt“, - sagten Asta und ich. „Nein, - meinten die anderen, - die Frauen, die kein Essen holen und auch nicht zur Arbeit gehen, werden wissen, dass sie kein Verbrechen und keine Sabotage begehen. Sie arbeiten nicht – also essen sie auch nicht. Ein Hungernder besitzt das Recht zu liegen – so werden die Frauen keine Angst haben zu streiken. Wir mussten zustimmen. Und wenngleich wir mehr Vertrauen zum Rebellengeist unserer Schwestern hatten, kannten die Ukrainerinnen ihre Landsmänninnen offenbar besser. Von uns waren im Lager etwa 200-300 Frauen, aber sie zählten ungefähr 1000 und machten somit die Mehrheit aus.

Später stellte sich heraus, dass wir recht behalten sollten. Und es gab noch mehr Fehler. So erlaubten wir beispielsweise den operativen Bevollmächtigten und Diensthabenden frei in der Lagerzone herum zu schlendern, aber sie spionierten uns aus, belogen uns, hetzten die Unseren gegeneinander auf. Man hätte sie gar nicht erst in die Zone hinein lassen sollen, aber das Aktiv meinte, dass sie uns wohl Nachrichten aus Norilsk mitbringen würden, und dadurch hätten wir dann wenigstens irgendetwas an Informationen. Aus dem Lager hätten alle ehemaligen Brigadeführerinnen und Geliebten der Lagerleitung am ersten Tag verjagt werden sollen. Später besannen wir uns darauf und beschlossen, alle aus dem inneren Lagerbereich hinaus zu lassen, die das wünschten. Wir gaben den Invaliden, Müttern, Schwangeren und jenen den Rat dies zu tun, deren Haftstrafe sich dem Ende zuneigte. Es waren nur wenige, und für den Streik war dies ohne Bedeutung. Streiken oder die Zone verlassen – da darf schließlich jeder selber so entscheiden, wie es ihm das Gewissen eingibt. Man musste sich bemühen den Leuten zu erklären, dass der Aufstand gar keine so hoffnungslos Angelegenheit war und sein Ziel – Freiheit und Unabhängigkeit. Und wenn die Zweifelnden und die Ängstlichen sich entfernten, dann wäre die Lagerzone sauberer und wir wären härter, stärker.

Wir gaben all unsere Beschlüsse bekannt und verkündeten auch den Hungerstreik. Es gab nicht viele, die uns verlassen und sich aus der Zone hinaus begeben wollten. Diejenigen gingen und wurden „Sommerfrischlerinnen“ (so wurden sie von unseren Frauen ironisch genannt), die innerhalb des Lagers immer ein warmes Plätzchen innegehabt hatten und die Geliebten der Machthaber und Schleimer waren.

Der Beginn des Hungerstreiks beruhigte die Frauen, selbst die Furchtsamsten freuten sich darüber, dass man sie nun nicht der Sabotage beschuldigen konnte. Wieder ließen sich alle auf ihren Pritschen nieder, richteten sich dort ein, fingen an , ihre Kissenbezüge zu besticken, sich mit Patchwork-Arbeiten und der Herstellung von Servietten zu beschäftigen – mit einem Wort: sie bereiteten sich allmählich auf das Leben in Freiheit vor. In der Kantine wurden herrlich duftende, in Fett gebratene Pfannkuchen aufgetischt, es wurde besser gekocht, aber alles wurde von uns zurückgewiesen und in eine unweit der Kantine ausgehobene Grube geworfen. Niemand von uns warf einen Blick auf die Lagerküche, auch nicht am zweiten und dritten Tag. Die durch den Lager-Innenbereich laufenden operativen Bevollmächtigten stellten sich als besorgte Wohltäter dar, aber ich denke nicht, dass sie irgendeine der höher gestellten Personen über unsere Forderungen informierten. Eine vom Hunger geschwächte, streikende Lagerzone schien ihm nicht so gefährlich zu sein, und unsere arbeitenden Näherinnen und Stickerinnen legten sich am vierten-fünften Tag auf ihren Pritschen nieder. Ich fand es schrecklich: sie stöhnten, verloren das Bewusstsein und hatten Wahnvorstellungen. Und aus Moskau sah und hörte man nichts und niemanden. Ich selber konnte mich auch kaum noch vorwärts, aber irgend eine innere Kraft, irgend ein Zorn halfen mir auf die Füße und gaben mir Stärke.

Ich bat die Reinmachefrau der Baracke, Tante Marusja, den für den Fall einer Flucht bereits im Herbst zurückgelegten Speck ( 4 kg) aus dem Versteck zu holen, schnitt ihn in kleine Stückchen und teilte ihn unter den zweihundert Bewohnerinnen unserer Baracke auf. Leider lässt sich das Wunder Christi nicht wiederholen…

Am sechsten Tag des Hungerstreiks fingen die Diensthabenden der Baracke an, sich mit Eimern voller Brei in aller Heimlichkeit zu der Grube durchzuschlagen und den Hungernden löffelweise davon zu geben: von ihren Pritschen konnten sie sich schon längst nicht mehr erheben. Es kam zu Uneinigkeiten wegen des Hungerstreiks: sie gingen in die Kantine und stießen die Befürworterinnen der Idee vom Hungerstreik von dem überdachten Eingangsbereich fort.

Am siebten Tag, als wir uns im Stab versammelt hatten, beschlossen wir, dass es an der Zeit war, mit dieser Komödie aufzuhören: die mustergültigen Arbeiterinnen werden wir durch Hungern vor der Angst vor Sabotage nicht bewahren und auch sonst nichts Gutes erreichen.

Die Brigadeführerinnen formierten ihre Brigaden, brachten sie in die Kantine und anschließend zur Arbeit. Auf der Lager-Hauptstraße nahmen die Arbeitskolonnen Aufstellung. Die geschwächten, seelisch zerbrochenen, grimmigen Frauen bewegten sich langsam zur zentralen Wache.

Wir verbargen unter unseren Wattejacken die Tagesnorm an Brot und gingen, jeweils zu fünft eingehakt, mit torkelnden Schritten zur Arbeit. Die Tore waren geöffnet, die Soldaten stampften ungeduldig mit den Füssen auf, und die Brigadiere mit ihren weißen Binden an den Ärmeln sprangen zwischen ihren Arbeitskräften hin und her.

Und über ganz Norilsk flattern unruhig schwarze Fahnen, aber die Rückseiten der Kleidung sind bereits ohne Häftlingsnummern, und an ihrer Stelle befinden sich nur schwarze Dreiecke. „Haben wir etwa nur das erreicht?“ Ich stehe am Straßenrand, beobachte die Menge und frage mich leise: „Nur das?“ Ich sehe, dass die Zahl der Brigaden weniger wird. Nicht alle Musterarbeiterinnen begeben sich zu ihrem Arbeitsplatz. Die Einen konnten wohl auch tatsächlich nicht aufstehen, andere wollten nicht arbeiten.

- Na, Mädels, wir zeigen es denen; ob die mit uns so einfach fertig werden, - meinte jemand vom Streikkomitee.

Manch eine nahm einen Stock in die Hand, eine andere eine Handvoll Asche, eine dritte ein Stück Kabel – und dann marschierten sie auf die Tore los! Hier war ich angenehm überrascht:
unter den aus mehreren Dutzend Mann bestehenden „bewaffneten“ Kämpfern sah ich auch eine aus meinen Landsmänninnen formierte imposante Truppe, von denen leider bis jetzt nicht alle aktiv gewesen waren. Schnell nahmen wir unsere Plätze an den Toren zwischen der Obrigkeit und der sich vorwärts schiebenden Menschenmasse ein. Hier waren Stase Lankutite, Werute, Filjute Karaljute, Stase Saulemaite, Lewa Jukelite, Prima Monkewitschjute, Danute Baukite und Werute Misjunaite – mit einem Wort, die meisten von uns aus der neuen Etappe, noch aus der Zeit, als wir in Klaipeda im Gefängnis saßen.

Mit hysterischen Stimmen schrien wir:

- Wir werden es nicht zulassen, dass diese Frauen die Zone verlassen!

- Was denn! Seht ihr denn nicht, wie geschwächt sie sind? Sie gehören ins Krankenhaus, und ihr könnt sie nicht einfach zur Arbeit treiben!

- Wir werden so lange streiken, bis wir durchgesetzt haben, dass eine Kommission aus Moskau hierher kommt!

- Wir werden sie zwingen auch mit zu streiken, sie sollten auf uns hören!

Wir müssen wohl äußerst furchterregend ausgesehen haben, denn die Lagerleiter traten beiseite. Zum Teufel mit ihnen! Nach siebentägigem Hungerstreik vernimmst du deine eigene Stimme nicht mehr, vor den Augen flimmert es, die Ohren rauschen und im Kopf dreht sich alles …. Wir umzingelten jeden der Soldatenmäntel mit Sternen auf den Schulterstücken. Alles, was wir sagten, hörten die Schwestern mit den Brotrationen unter dem Arm. Die mit den Schulterstücken glaubten, dass uns die aus mehreren Dutzend Frauen bestehende wild gewordene Menge, die zu den Toren drängte, schon vom Platz fegen würde. Aber die Masse blieb stehen, erstarrte und … wartete.

- Entweder erschießt ihr uns oder ihr lasst eine Kommission ins Lager! Wir haben Familien, die auf uns warten. Wir haben für euch schon mitten in der Tundra Norilsk errichtet! Soll doch die Komsomolzen-Organisation die Stadt zu Ende bauen, die angeblich, euren Lügen zufolge, Norilsk aus dem Boden gestampft haben! Wir haben genug von dem Betrug! Wir fordern menschliche Bedingungen! Freiheit!

Die kleine Ukrainerin Njusja Skorewitsch zerreißt ihre Bluse über der Brust und weist schreiend und mit Tränen überströmtem Gesicht auf die Striemen, die sie bei den Folterungen in der Untersuchungszelle davongetragen hat. Sie steht vor der Lagerleitung, entblößt ihre Brust und schreit:

- Bestien seid ihr, Bestien!

Die Lagerleiter suchen mit verunsicherten Blicken nach den Brigadeführerinnen, aber die treiben inzwischen ihre Arbeitskräfte schon viel weniger eifrig vorwärts. Noch sind die Kolonnen stumm. Aber sie sehen schrecklich aus. Einzelne, teilweise auch mehrere Frauen, schließen sich uns an. Die breiten Tore verengen sich immer mehr und sind schließlich geschlossen. Der stellvertretende politische Leiter kann sich nicht beherrschen und stürzt auf Stase Lankutite los. Diese kräftig gebaute Tochter aus Zemaitejee (historische Landschaft in Litauen; Anm. d. Übers.) hob sich aus der Gruppe hervor, wenngleich sie ein wenig abseits stand. Der Oberst stieß sie zum Tor, aber sie klammerte sich so heftig an seinen Gürtel, dass dieser zerriss. Der Vertreter der Lagerobrigkeit und die Gefangene kämpfen in der schmalen Gosse am Hauptweg der Lagerzone miteinander, und die grauen Wattejacken kichern und drängen sich entlang der Wand.

-„Was leuchtet denn da so rot?“ – Das ist der Kopf von Asta Tofri, die hoch aufgerichtet dasteht, mit einer roten Binde um den Kopf (unter der ihre vollständig auf Papierstreifen aufgedrehten Haare hervorragen). Stolz und gemessen schreitet sie einher, denn sie weiß, was sie zu sagen hat. Asta, stolz und intelligent, spricht akzentfrei Russisch (merkwürdig, denn Esten fällt das für gewöhnlich schwer). Aber lustig sieht es schon aus: man sieht, wie sie sich frisiert, wie sie sich in Ordnung gebracht hat – und so ist sie auch hier her gekommen. Sie hat ohne Panik und Furcht gestreikt, hat im nötigen Augenblick zum Aktiv gehalten und ihm mit ihrer Sorglosigkeit und ihrer schauspielerischen Veranlagung sehr geholfen. Und nun schritt sie stolz durch die Menge, die ihr den Weg freigab, in Richtung Tor, ihre dünnen Beine in schweinsledernen Halbstiefeln steckend, eingehüllt in eine weite, knopflose Wattejacke, unter der die von Zuhause geschickte Hose hervorschaute, mit vor der Brust gekreuzten Händen, und nahm geradewegs Kurs auf die Machthaber.

„Warum hat sie sich kein langes Festtagskleid angezogen? Hast sie das nicht geschafft? Ich mache einen Scherz“. Die Lippen waren grell geschminkt, die Augenbrauen gezupft, nur ihre Wimpern waren nicht vollständig an getuscht. Lustig sah sie aus, aber niemand lachte. Asta steht vor denen, die das Sagen haben, und mit der Stimme eines Direktors stößt sie unvermittelt hervor:

- He, ihr Pygmäen! Ihr zittert ja vor all euren Lügen und Betrügereien, aber ihr verkörpert eine niedliche Kommission.! – Sie wendet sich zu den Frauen um (ich sehe, sie ist besorgt), und ihre Stimme klingt stark, stolz und schön: - Frauen, wir werden siegen, wir sind im Recht! So lange die Behörden unsere dummen Strafakten nicht revidiert haben – setzen wir keinen Fuß aus der Zone! Marsch in die Baracken! Und sie sollen uns besseres Essen geben!

- Hurra! – ertönte es von allen Brigaden, und man zog sich in die Baracken zurück.

Asta wandte sich noch einmal an die Lagerleitung:

- Sie irren sich – hier streiken Menschen, keine Provokateure. Sie sind für und mit uns!

Die Lagerleiter , wäre es nach ihrem Willen gegangen, hätten Asta und mich liebend gern auf die Pfosten des Stacheldrahtzauns gesetzt, aber leider waren wir zu viele, und außerdem hatten wir Stöcke in der Hand. Offensichtlich hatte man noch nicht den Befehl erteilt auf uns zu schießen, wie es in der Männerzone der Fall war.

Nach dem siebten Tag des Hungerstreiks und des Versuchs zur Arbeit zu gehen, wurde der Aufstand im Frauenlager, ebenso wie in den anderen Norilsker Lagern, zur Normalität.

Wir warteten auf die Kommission aus Moskau. Was das Essen anging, so verlangten wir die volle Norm, aber sie gaben uns keinen fettigen Brei und brachten auch keine Pfannkuchen mehr mit. Es herrschte keine Angst wegen Sabotage angeklagt zu werden. „Wo war sie abgeblieben? Hatte der Rebellengeist die Sklavenseelchen besiegt?“ – fragte ich die Ukrainerinnen. Sie lächelten und erwiderten, dass sie die Seele ihres Volkes nicht hinreichend gut kennen würden. Der Hungerstreik war nicht nötig gewesen.

Es war Tag und Nacht hell. Die ausgehungerten Frauen kamen langsam wieder zu sich, das Essen wurde mehr oder weniger normal zubereitet, die Stimmung verbesserte sich. Man hörte auch wieder den Gesang von Liedern.

Es kam sogar zu ein paar amüsanten Episoden. Irgendwie stehen wir da so in einer großen Gruppe vor der Invaliden-Baracke – wir stehen da also und beatschlagen. Da kommt der operative Bevollmächtigte Poljuschkin angelaufen (ein unter den russischen Gefangenen bekannter Schürzenjäger). Er hatte ein paar Fesseln dabei. Hinter ihm liefen einige Diensthabende, die sich kampfeslustig in unserer Mitte aufstellten. Poljuschkin, der auf mich zeigte, grölte mit krähender Hahnenstimme: „Die da – festnehmen!“ Wir erstarrten. Wir waren viele, und alle waren durch den Hunger zornig. Ich hegte schon die größten Befürchtungen, dass meine Freundinnen Hackfleisch aus ihm machen würden. In dem Moment geht Filjute Karaljute mit einem leeren Eimer vorbei. Wir konnten gar nicht so schnell erfassen, was da vor sich ging. Wir schauen: da sitzt Poljuschkin bereits unter dem Eimer, und wir brechen in Lachen aus. Während der operative Bevollmächtigte sich den Eimer vom Kopf zieht, sammelt er die heruntergefallenen Fesseln wieder ein und stammelt dabei: „Mit dieser Nummer kommt ihr nicht durch!“ - Und dann rennt er im Laufschritt in Richtung seines Stabes. Wir pfeifen ihm hinterher. Filjute hat mich vor den Handschellen bewahrt. Bis heute muss ich lachen, wenn ich daran zurückdenke. Und vielleicht geriet sie gerade wegen dieser Nummer nach der Niederschlagung des Aufstandes in unseren „sumpfigen“, aus 40 Leuten bestehenden Arbeitstrupp und später auch ins Gefängnis. Wie dem auch sei, jetzt lebt sie gesund und munter in Vilnius.

Schließlich fassten wir den Beschluss, alle Abtrünnigen aus der Baracke auszuräuchern. Der Stab – das war das Haus mit dem hohen Vorbau und den weißen Fensterchen. Dort, in diesem Haus, be4fand sich der Aufenthaltsort unseres Lager-„Gevatters“, des Bevollmächtigten Krasjuk, und anderer Vertreter der Obrigkeit. Dort versammelten sich unsere „Schönheiten“ und „Sahnestückchen“ (die „Intelligenten“, ehemalige Liebchen von Ausländern, Bräute, Schreibmaschinen-Personal von Diplomaten). Wir sahen, wie aus den Amtszimmern der operativen Bevollmächtigten und des stellvertretenden politischen Leiters (häufig durch die halb zugezogenen Gardinen) deren glühenden Gesichter herausschauten. Wir begriffen, was dort vor sich ging. Außerdem erfuhren wir, dass die „Liebchen“ eine Liste der aktivsten Mitglieder des Streikkomitees anfertigten. Wenn sie irgendeine von uns vorbeigehen sahen, riefen sie sich den Familiennamen ins Gedächtnis zurück und trugen ihn sogleich in die schwarze Liste als Aktivistin und Nationalistin ein.

Wir konnten uns nicht einmal umschauen, da hatte unsere viele Tausend Leute zählende Menge auch schon das Stabsgebäude umstellt. Als erster kam Poljuschkin in den Vorbau hinausgekrochen. Und obwohl dieser Gockel unterm Eimer gesessen hatte, hob er nun, nach einem guten Gläschen Schnaps, den Kopf und krähte lautstark:

- Was wollt ihr?

- Der Vernünftigste und Älteste von euch soll mal rauskommen, - verlangten wir

Es erschien ein anderer, uns nicht bekannter Mann, während Poljuschkin, völlig gekränkt, aus seiner Hosentasche einen Nagan-Revolver zog und schrie:

- Die finden kein Ende mit ihren Unverschämtheiten! Alle erschießen!

- Ha! Ha! Ha! – kichern alle viertausend Frauen. Der Unbekannte stößt Poljuschkin in die Stabsbaracke zurück und schlägt die Tür hinter ihm zu.

- Ruhe! Es reicht! – rief Lesja Selenskaja laut und scharf- - Mit Pistolen kannst du uns nicht erschrecken; und das, was ihr hier euren Stab nennt, werden wir Brett für Brett auseinandernehmen, wenn ihr euch nicht augenblicklich mit all euren „Liebchen“ aus der Lagerzone fortschert. Möglicherweise wird die Garnison morgen euer Lager dem Erdboden gleich machen, und das wollt ihr doch sicher nicht riskieren. So ein „patriotisches“ Opfer möchten wir von euch doch gar nicht annehmen. Und nun alle ohne langes Gerede schön durch unser Menschenspalier raus zum Ausgang. Bitteschön!

Ich wunderte mich über Lesjas ruhige Rede, obwohl ihre Stimme zeitweise zitterte. Ich wunderte mich auch über die Ernsthaftigkeit und Friedfertigkeit unserer Menge. Innerhalb von Minuten bildete sich von der Stabsbaracke bis zum Lager-Tor ein Korridor aus Menschen. „Schönheiten“ und Stabsmitglieder traten ins Freie. Einige der Unseren, die sich nicht zusammennehmen konnten, spuckten auf sie, einige ließen unzensierte Worte fallen – wiederum andere riefen sie zur Ordnung auf. Das vollständige Schweigen der Verachtung wirkt schlimmer, obwohl es nicht verwunderlich war, dass einige das nicht durchhielten. Jemand schrie:

- Mädchen, seht mal, die ganze Bande auf der anderen Seite. Da kriechen sie aus dem Fenster und hauen ab in Richtung Badehaus.

Und tatsächlich läuft da irgendein Offizier vorneweg, und hinter ihm sechs Spitzel-„Schönheiten“ – und sie kriechen durch ein Loch im Stacheldrahtzaun. Sie sind so in Eile, dass sie hängenbleiben, ihre dicken Hinterteile verfangen sich im Draht. Nun kichert nicht nur unsere tausende Leute zählende Menge, sondern lautes Lachen wurde auch von den Wachtürmen an unsere Ohren herangetragen. Die Soldaten schießen nicht, wie sie es eigentlich tun sollten, sondern lassen die Flüchtenden aus der Zone. Und da verfängt sich auch noch eine Uniform im Stacheldraht, weil die Soldaten nicht schießen, sondern nur lachen.

Es herrschte ein warmer Juni-Monat. Die Sonne, die kaum den Rand des Horizonts berührt hatte, stieg erneut auf, als ob sie den Wunsch hätte, uns mit einem Vorschuss gut zu stimmen, denn wenig später setzte die Polarnacht ein – die Nacht der Einsamen und der Baracken mit verschärftem Regime. Die Tage und Wochen gingen dahin. In den Männerzonen, die wir sehen konnten, flatterten Fahnen. Die angeforderte Kommission hätte sich zeigen sollen. Es ging das Gerücht, dass sie von d3en Männern bereits erwartet wurde.

An einem jener Tage hieß es, dass die Kommission sich bereits in unserem Lager aufhalte. Mitten im Lagerbereich, vor der Kantine, stellten wir einen Tisch auf und legten einen roten Streifen darüber: schließlich warteten wir ja nicht auf irgend so eine amerikanische Gesandtschaft, sondern unsere – aus Moskau. Wir legten den Lagerleitern unsere Forderungen vor. Nachdem sie sie gelesen hatten, schauten sie finster drein, denn ein Großteil der Beschwerden war an ihrer Adresse gerichtet. Endlich zeigte sich auch die Kommission. Die Menge umringte den Tisch, aber die Kommission verlangte, dass nur einzelne Vertreter an den Tisch herantraten, und so wich die Menge zurück. Nun gut, sie entfernten sich als, und dann setzten sich direkt vor der Kommission Lesja Selenskaja, Asta Tofri, scheinbar auch Dauge oder sonst noch irgendeine der Unseren an den Tisch. Sie setzten sich und wussten, dass nach dem Aufstand, nach dem Streik die ganze Verantwortung auf ihnen liegen würde.

Die Kommission erklärte sich mit allen Forderungen einverstanden. Die Beschwerden hörte sie sich an. Sie versprach mit der Zeit in allen Dingen Ordnung zu schaffen: die Alltagsbedingungen zu verbessern, die Frauen nicht zu schweren körperlichen Zwangsarbeiten zu treiben. Kranke zu behandeln, sie nicht durch Hunger zu quälen, die Einzelzellen in der Baracke mit verschärftem Regime abzuschaffen, die Leute nicht in verschärfter Lagerhaft zu halten, nicht mehr als acht Stunden täglich zu arbeiten … Aber das Wichtigste war – dass sie unverzüglich an die Überprüfung der Fälle machten und alle Kranken, Invaliden, Minderjährige und alten Menschen freiließen. „Das wird schon alles, wir werden alles tun, aber geht wieder zur Arbeit“, - baten und versprachen sie.

Am nächsten Tag gingen die Brigaden missgelaunt zur Arbeit. Und einen Tag darauf besannen sie sich: weder die 4. noch die 5. (Zwangsarbeiter)-Zone ging zur Arbeit aus; sie setzten ihren Streik fort. „War das auch wirklich eine echte Kommission gewesen? Hatte vielleicht der örtliche Staatsanwalt von Norilsk vor uns eine Komödie gespielt? Würden wir dafür etwa unser Leben riskieren? Warum fangen sie nicht endlich mit der Durchsicht und Überprüfung unserer Fälle an?“ – überschütteten unsere Leidensgenossinnen uns mit ihren Fragen, die wir mit Stöcken aus dem Tor hinausgejagt hatten. Aber wir, das Komitee, können ihnen darauf keine Antwort geben. Es gibt nur eine Antwort- sich erneut in der Lagerzone zurückzuziehen und den Streik weiterführen, und zwar so lange, bis sie uns entweder freilassen oder vernichten. Alle schrien einstimmig: „Freiheit oder Tod!“ – Ich wurde aus den Frauen einfach nicht schlau: schließlich war es noch gar nicht lange her, dass sie Angst gehabt hatten, man könnte ihnen den Vorwurf der Sabotage „annähen“. Das ganze Lager war fröstelnd wieder ruhig geworden.

Ich fing wieder an, mich der Bücher von Dostojewskij und Belinskij zu erfreuen. Vor dem Hintergrund des Aufstand warf mich Herzens freier, stolzer Ton gänzlich aus der Bahn. Ich konnte ohne Unterbrechung skandieren: „Freiheit oder Tod!“ Wir verstanden immer deutlicher, dass wir ohne Lärm und Opfer nichts erreichen würden.

Die Obrigkeit hütete sich davor zu uns in die Lagerzone zu kriechen. Poljuschkin zeigte sich dort nach seiner schmachvollen Vertreibung überhaupt nicht mehr. Ein wenig menschlichere Diensthabende schlenderten durch das Lager, andere liefen in leichtem Trab zu den Toren. Die Frauen glaubten die von ihnen in Umlauf gebrachten Gerüchte schon längst nicht mehr, sondern lächelten nur traurig, wenn von weitreichenden und positiven Veränderungen phantasiert wurde. Niemand von uns wusste, was konkret an interessanten Dingen in unserem Lande oder in Moskau passierte, denn es gab keine Zeitungen. Auch hatten wir keinerlei Verbindungen zum Männerlager. Das Einzige, was wir sahen, waren ihre Fahnen. Auch das Radionetz schwieg. Die Obrigkeit bereitet sich offensichtlich auf irgendetwas vor. Der Sturm der Streikenden begann in den Männerlagern. Eines Nachts hörten wir Schüsse, Lärm, Schreie und Stöhnen. In der Tundra sahen wir Gruppen von Häftlingen. Sie wurden die ganze Nacht sortiert. Die Fahnen der 4. und 5. Lagerabteilungen wurden eingeholt. Wir fühlten, dass die Obrigkeit plangemäß agierte und von ihrem Tun überzeugt war. Wir warteten darauf, dass wir an die Reihe kamen. Jeden Tag blickten wir aufs Neue stolz auf unsere Fahnen – sie blieben weiterhin einsam und verlassen in Norilsk sichtbar.

Eines Abends hörten wir von der Straße her ein merkwürdiges Klopfen. Dort gab es einen hohen Bretterzaun. Ich stieg auf das Dach der nächstgelegenen Baracke und - ein wahrer Steinhagel schoss mir entgegen: hinter dem Zaun befanden sich Soldaten. Mit verletztem Bein und aufgeschlagenem Kopf stieg ich vom Dach. Hinter dem Zaun spielte eine Harmonika, man hätte meinen können, dass die Soldaten nur fröhlich beisammen waren und sich dort überhaupt nichts Ernstes ereignet. Aber kurz darauf vernahmen wir das Kreischen einer Säge. Uns wurde klar, dass sie die Zaunpfosten durchsägten. Aus der Richtung der Tundra war die Lagerzone von Soldaten mit Geschützen umstellt. Die Frauen versammelten sich an den Baracken, auf denen die schwarzen Flaggen wehten. 4000 an der Zahl. In d3en Baracken blieben nur die Kranken und Alten. Wir fassten einander bei den Händen. Über dem Tor ertönte ein Megafon: „Agitatorinnen und Provokateure (sie nannte4n sie beim Nehmen: Tofri, Dauge, Martinkute, Selenskaja), führt die Leute aus der Lagerzone. Aufrechte Arbeiterinnen, versammelt euch an den Toren und verlasst den Lagerbereich. So wird es keine Opfer geben!“ – Wir sagten:

- Geht nur, ihr Lieben; wer Angst hat soll gehen, denn hier sollen nur diejenigen bleiben, die auf alles gefasst sind. Verabschieden wir uns, und dann geht.

Es fand sich niemand, der bereit gewesen wäre, das Lager zu verlassen. Es gewinnt immer derjenige, der mit allen vereint ist. Weder die ukrainischen Bandera-Anhänger, noch die litauischen „Faschisten und Nationalisten“, die lettischen Ulmanisten oder die Estinnen mit ihren Etiketten, welche die Sowjetmacht ihnen angeheftet hatte verließen die Zone und gerieten somit auch nicht in die Umarmung der Lager-„Väter“. Wir hielten einander ganz fest an den Händen, drängten unsere Schultern zusammen und schoben unsere Oberkörper langsam den Waffenmündungen entgegen. Wir waren etwas wärmer gekleidet, hatten alles übereinander angezogen, was wir besaßen, unsere Füße steckten in Halbstiefel aus dem Lagervorrat – und dann warteten wir auf unser weiteres Schicksal. Der Feind wartete ebenfalls ab und schoss nicht. Es begann zu regnen. Wir skandierten:

- Frei-heit oder Tod! Schi-ießt doch!

Einige von uns wurden müde und heiser, andere schrien weiter. Und so ging es eine ganze Stunde lang – und noch eine und noch eine dritte. Auf den Hausdächern des freien Norilsk hingen die Leute wie Trauben, um zu beobachten, was da in unserem Lager vor sich ging – und wir schrien weiter. Gegen Morgen verloren einige unserer Frauen das Bewusstsein.

Plötzlich stürzte der Zaun um, und in die Lagerzone drangen mit heulenden Sirenen Feuerwehr-Fahrzeuge vor, an denen sich Soldaten festklammerten, die mit Spaten und Äxten bewaffnet waren. Schnell rollten sie den Wasserschlauch ab, umfass5ten ihn – und sogleich flog uns ein mit Sand vermischter Wasserstrahl entgegen. Es war schwierig sich auf den Beinen zu halten. Wir begannen die Matratzen aus den Baracken herauszuzerren, stellten sie vor uns auf und konnten uns damit e8in wenig schützen. Die Soldaten schlugen mit den Äxten auf alles ein, was ihnen in die Quere kam: sie zielten auf Arme, Schultern und Oberkörper. Wir hielten uns tapfer und riefen:

- Schießt doch! Frei-heit! Tod!

Stöhnen und Flüche vermischten sich miteinander.

- Hinlegen! Die, die liegen, werden nicht geschlagen! – kommandierte jemand.

- Sollen sie doch alle bis auf den Letzten totprügeln; aus dem Lager werden wir nicht weichen! – schrien wir.

Schließlich stürzte auch ich. Ich fühlte, dass mich jemand fortzog. Es war ein junges Soldaten-Bürschchen, das mich als Agitatorin und Provokateurin auf Anweisung seines Befehlshabers wegzerrte. Sie wollten mich lebend verurteilen. Nachdem der Soldat mir die Hand umgeknickt hatte, zog er mich aus dem Lagerbereich zum Tor. Ich sah, wie die Teilnehmerinnen des Aufstandes in Gruppen zersplittert wurden; sie wurden verprügelt und dann in die Tundra hineingetrieben. Als der Soldat mich ein paar Meter weit mitgeschleift hatte, ließ er mich zu Boden fallen und flüsterte:

- Steh auf und lauf aus der Zone!

- - Ich kann nicht, und ich werde das Lager nicht verlassen! – antwortete ich, denn ich hatte mir geschworen, dass ich auf keinen Fall auf eigenen Füßen den Lagerbereich verlassen würde.

Ich blieb also liegen. Da fing er an mich zu schlagen, zog mich hinter die verbotene Zone und ließ mich bei einer Kolonne fallen, die jeweils zu fünft Aufstellung genommen hatte. Ich stellte mich dazu. Ich sah blutüberströmte Gesichter, abgehackte Hände, jemand schleppte sich mit einem zerschmetterten Bein herum und kroch durch das nasse Gras.

Der Regen ließ nach. In der Tundra wurden mit roten Tüchern bedeckte Tischchen aufgestellt.
Dahinter stand erhaben die Lagerobrigkeit, und wiederum hinter ihnen, mit spöttischem Grinsen, die „Sommerfrischlerinnen“ und Brigadierinnen sowie die während des Aufstandes aus der Lagerzone vertriebenen „Schönheiten“ (Sagarskaja, Kusnezowa, Kulnewa, Reschetnikowa und andere). Neben den Tischchen standen die Diensthabenden mit Metallstangen von irgendwelchen Armaturen sowie aus Leitungen geflochtenen kurzen Peitschen. Sie trieben uns, die wir zu Fünfergruppen formiert waren, langsam vor diese Tischchen, ließ uns haltmachen und durchbohrte uns mit stechenden Blicken. Auf Vorsagen der „Sommerfrischlerinnen“ oder „Schönen“ befahlen die Lagerleiter: „Nach rechts!“ – „Nach links!“ – „In den Sumpf!“. Nach rechts trieben sie diejenigen, deren Schuld für minimal befunden worden war, das heißt die Passiven, die sich durch die Agitation hatten beeinflussen lassen; nach links kamen die etwas Aktivieren, und in den Sumpf – uns, diejenigen, die die größten Aktivitäten gezeigt hatten und deren Namen auf der schwarzen Liste standen. Auf der linken Seite kamen einige hundert Personen zusammen. Später stellte man aus ihnen eine Brigade mit verschärfter Haftordnung zusammen und brachte sie in Lager 7 unter, wo früher Kriminelle gehalten worden waren. Die „Rechten“ kamen in Lager 6, wohin auch alle nichtstreikenden „Sommerfrischlerinnen“ zurückgebracht wurden. Sie wurden wieder zu Brigade-Leiterinnen, Arbeitsverteilerinnen, Herrinnen und Schmarotzerinnen des Lagers.

Uns brachten sie geradewegs in den sumpfigen Teil des Tundra-Areals und verboten uns auch nur die geringste Bewegung. Wir waren an allen Seiten von bewaffneten Soldaten umstellt, die auf uns einschlugen. Nachdem die Soldaten uns dann irgendwann in Ruhe ließen, fielen die Mückenschwärme über uns her. Nach jedem Biss spritzte das Blut, und im Gesicht blieb eine Wunde zurück. In diesem Sumpfgebiet befanden wir uns mit ungefähr 40 Personen. Wie lange sie uns darin festhielten – daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Arme und Beine wurden ganz gefühllos, und den Fußtritten der Soldaten schenkte schon niemand mehr Beachtung.

Schließlich ging der Alptraum zu Ende – man hieß uns aufstehen und trieb uns in die Baracke mit verschärftem Regime der 6. Lagerzone. Wir wurden alle in ein und dieselbe Zelle hineingestopft – wie Sardinen in der Büchse. Dann kam die boshafte Aufseherin Walka mit einem blauen Fleck unter dem Auge herbeigerannt. Sie rief die Ukrainerin Masepa heraus und brachte sie in eine andere Zelle. Dort wurde sie geschlagen und getreten, so lange ihre Peiniger Spaß daran hatten. Jemand hatte einen Ziegelstein auf Walka geschleudert, als sie die Aufständischen aus der Zone trieb, aber weshalb sie sich ausgerechnet an dieser Gefangenen rächte, ist nicht bekannt. Masepa lag danach mehrere Tage, denn sie war außerstande aufzustehen. Wir trösteten sie so gut wir konnten und legten ihr feuchte Taschentücher auf die blauen Flecken. Ein paar Tage später fingen wir an den operativen Bevollmächtigten zu rufen, der mit Nachnamen Fried hieß (Oberst). Ein paar Leute brachte er ins Lager N° 7, in den Bereich mit verschärftem Regime; andere führte er woanders hin, möglicherweise ins Gefängnis. In der Baracke mit verschärftem Regime blieben wir zu zehnt zurück. Soweit ich mich erinnern kann, waren das Lesja Selenskaja, Asta Tofri, Julia Safranowitsch, Maria Nitsch, Dauge, Masepa, Olga Sosjuk, Maria Gunko, Koste Pospolita. Nach einem Monat wurden sie fast alle ebenfalls fortgebracht; wie ich später erfuhr, kamen sie ins Wladimirsker Gefängnis. Olga Sosjuk und ich blieben in der Baracke mit verschärftem Regime.

Nach einem halben Jahr wurde Olga Sosjuk mit offener Tuberkulose in die stationäre Krankenabteilung eingeliefert. Und mir wurde nach ständigen, beharrlichen Forderungen die Anordnung des Staatsanwalts von Norilsk vorgelesen, mit der ich zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden war. Als ein Jahr vergangen war, ließen sie mich wieder zurück in die Lagerzone, aber nach ein paar Tagen kam ich wieder ins Gefängnis – angeblich wegen meiner Absicht, erneut einen Aufstand zu organisieren, und, genauer gesagt, wegen meiner Weigerung irgendwelche Dokumente zu unterschreiben, die der operative Bevollmächtigte Laschenkow von Zeit zu Zeit unter meiner Zellentür hindurch zu schieben pflegte. Ich hatte die Unterschriften jedes Mal verweigert, und er knallte wütend die Tür zu und brüllte: „Na schön, dann verfaulst du hier eben!“

So ging der Aufstand in unserer 6. Lagerzone zu Ende. Es hieß, dass es unter uns keine Opfer gegeben hätte. Vielleicht auch deswegen, weil man auf uns nicht geschossen, sondern lediglich mit Äxten nach uns geschlagen hatte. Meiner mir sehr nahe stehenden Freundin Prima Monkewitschjute wurde der Kopf verwundet und die Schulter durchgeschlagen. Und so war es mit vielen der Fall! …

Von den positiven Seiten des Aufstands zeugen folgende Fakten: die Haftordnung wurde erleichtert, ein Arbeitstag dauerte nur noch acht Stunden, die Häftlingsnummern verschwanden von unseren Kleidungsstücken. Und das Wichtigste – es verging nicht einmal ein Jahr, dass sich von den viertausend Häftlingen im Lager nur noch ein paar hundert befanden. Und es war schon sehr merkwürdig, dass sie aus dem Lager am schnellsten diejenigen entließen, die besonders aktiv gewesen waren. Vielleicht deswegen, weil die Mitarbeiterinnen, die für Zucht und Ordnung, für die Einhaltung der Regeln innerhalb der Lagerzone, sorgten, mit aller Entschlossenheit alles verlangen konnten, was ihnen zustand, und Speichellecker als Helfershelfer brauchte die Lagerleitung noch lange Zeit.

Die größten Aktivisten wurden ein Jahr im Gefängnis festgehalten, nachdem man sie teilweise für schuldig befunden hatte; aber auch die Lagerleiter wurden wegen mangelnde Humanität angeklagt. Am meisten litten diejenigen, die in der Baracke mit verschärftem Regime einsaßen: sie waren der Macht der grausamen Lagerleitung ausgesetzt. Der örtliche Staatsanwalt erteilte, in Abhängigkeit von der jeweiligen Laune der Lagergötter, Sanktionen, wann immer er es für notwendig hielt.

Aber auch wir hielten durch. Egal, wie der Aufstand auch gewesen sein mag – aber ich empfand ihn als eine positive Angelegenheit. Es war das Erwachen des Menschen aus seiner seelischen Lethargie, und das geschah vor aller Leute Augen.

Vilnius,
1972-2004


Kongress der „Heldinnen von Norilsk“. Telschai, 1991


Litauerinnen – Teilnehmerinnen des Norilsker Aufstands im Jahre 1953 auf
dem Kongress der Gesellschaft „Die Heldinnen von Norilsk“.
Telschai, 1991

 


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