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Sinaida Wassiljewna Medwedewa. Erinnerungen

Mein Vater, Wassilij Gawrilowitsch Medwedew, geb. 1893, wurde am 28. April 1937 in Krasnojarsk als Volksfeind verhaftet. Zu jener Zeit wohnte unsere Familie in der Straße der Diktatur des Proletariats, Haus Nr. 38. Jetzt ist das die Nr. 40. Damals befanden sich unter der Nr. 38 insgesamt vier Häuser: zwei zeigten zur Straßenseite, und zwei lagen im Hof; drei von ihnen bestanden aus nur einem Stockwerk, aber wir wohnten in dem zweigeschossigen Teil. Die Hausbesitzer wohnten in der ersten Etage und unsere Familie – in der zweiten.

In dieser Nacht wurden alle Männer in unserem Hof verhaftet. Unser Hauswirt Jakow Grizenko, ein Altersgenosse meines Vaters, und sein Schwiegersohn Fjodor Plaksin – Student

am IV. Studiengang des Forsttechnischen Instituts. Der Ingenieur Boris Wladimirowitsch Guldenbalk – und viele andere. Mein Vater hatte als Spediteur bei der Getreidebeschaffung

gearbeitet. Er war ein sehr aufrichtiger und umsichtiger Mensch. Nicht nur einmal hatte man ihn für seine geleistete Arbeit ausgezeichnet. So erhielt er im Jahre 1935 ein Grammophon, und bis zu diesem Zeitpunkt hatte er einen Reisescheck für einen Aufenthalt in einem Kras-nojarsker Erholungsheim bekommen. 1936 bekam er einen Reisegutschein für die Feier-lichkeiten zum 1. Mai in Moskau und Leningrad; er erhielt auch noch weitere anspornende Belohnungen.

Am 28. April 1937 fand bei uns in der Eisenbahnerschule Nr. 28 ein Abend anläßlich des 1. Mai statt. Ich konnte dort überhaupt keinen Platz finden – eine heftige Unruhe strömte über mir zusammen. Auf diese Weise wurde das Elend auf mich übertragen. Ich rannte nach Hause durch die Lenin-Straße (das Schulgebäude Ecke Lenin- und Robespierre-Straße).

Ich kam zuhause an, und da sehe ich, daß bei uns einige Männer in NKWD-Uniform eine Haussuchung vornehmen. Ich begriff sofort, worum es da ging. Kreideweiß und so wie es ihm gar nicht ähnlich sieht sagt Papa irgendetwas zu ihnen; Mama mischt sich ein, mit lautem Wehklagen ... In der Wohnung ist alles durchgewühlt, durcheinandergeworfen. Wir hatten einen russischen Ofen, und die NKWD-Mitarbeiter kratzten alles mit dem Feuerhaken und der Ofengabel heraus, besudelten die ganzen Sachen, trampelten mit den Füßen darauf herum, zerrissen und zerschlugen sie.

Damals ging ich in die 7. Klasse und mein Bruder Boris in die 4. Unsere Mutter, Anna Iwanowna Medwedewa, geb. 1893, war Hausfrau; sie konnte weder lesen noch schreiben.

Sie brachten den Vater fort und erlaubten ihm noch nicht einmal, sich auf menschliche Weise zu verabschieden (und der Bruder war mit seinem Freund ins Badehaus gegangen – so konnte er auch nicht vom Vater Abschied nehmen; der Vater wartete lange auf ihn und bedauerte sehr, daß er nicht bis zu dessen Rückkehr auf ihn warten konnte. Kein einziges Dokument ließ man uns zurück, nicht einmal eine Kopie des Durchsuchungsprotokolls. Am nächsten Tag kamen zwei Männer in NKWD-Uniform und sagten Mama, daß sie die Stadt Krasnojarsk innerhalb von 24 Stunden verlassen sollte; unsere Sachen warfen sie auf die Straße, und dann jagten sie meinen Bruder und mich aus der Wohnung. Ich war 13 Jahre alt, mein Bruder 10. Mama wurde von einer Bekannten aufgenommen, die eine Wohnung in dem Dorf Jaschnino hatte, mich nahm die mehrköpfige Familie (mit 6 Kindern) eines Klassenkameraden auf und der Bruder kam ebenfalls bei einem Schulkameraden unter.

Nach zwei Jahren gab irgend jemand meinem Bruder und mir den Rat, sich ans NKWD zu wenden und dort darum zu bitten uns die Erlaubnis zu erteilen, in die Stadt, in der unsere Mutter lebte, zurückzukehren. Unsere zahllosen Laufereien nahmen schließlich ein glückliches Ende.

Es blieb ein Problem: wo sollten wir wohnen? Viele Leute fürchteten sich sogar davor sich mit uns zu unterhalten, uns zu grüßen. Wir übernachteten dort, wo die Nacht gerade über uns hereinbrach. Nach zwei Jahren ließen uns gute Menschen in ihre Wohnung - ein Zimmer von 13 Quadratmetern in einem Haus mit vielen Fluren, ohne Bequemlichkeiten, mit Ofenhei-zung, für 7 Hausfrauen gedacht und ohne Gemeinschaftsküche. (Die Freunde lachten, daß die Wohnung mit allem Komfort ausgerüstet sei, nur ohne Zwischenwände). All das konnte man ertragen, wenn uns nur nicht so viele Kränkungen und Beleidigungen zuteil geworden wären. Um uns herum gab es eine große Anzahl von Menschen, die sich sehr grobschlächtig, unmenschlich und gemein benahmen, die uns bei jeder Gelegenheit als Volksfeinde beschimpften und alle aufforderten, uns das Gesicht mit Erde abzureiben. Egal was geschah, immer wälzten sie alles auf uns ab und gaben uns an allem die Schuld. Uns flogen Steine hinterher, wir wurden mit Spülwasser übergossen, und einmal, im Winter, riß der Hausver-walter nachts die Tür aus den Angeln und fing an uns aus dem Zimmer zu jagen, packte uns am Schlafittchen und warf unsere Sachen auf die Straße. Bei niemandem konnten wir uns darüber beschweren, und es wäre auch sinnlos gewesen - und so weinten und schwiegen wir.

Im Juni 1941 beendete ich die 10. Klasse und begann mit dem Studium an der forstwirtschaft-lichen Fakultät des Forsttechnischen (heute Technologischen) Instituts, das ich 1946 abschloß. In all diesen Jahren habe ich weder in der Schule noch am Institut auch nur einer einzigen Menschenseele erzählt, daß ich die Tochter eines Volksfeindes war, und es fragte mich auch niemand. Mein Bruder beendete die Handwerksfachschule, und der Direktor schickte ihn nach Jakutsk, wo er den ganzen Krieg über als Funker arbeitete (der Direktor hatte Mitleid mit ihm, weil er ein so fleißiger und disziplinierter Bursche war). Der Bruder schrieb auch gar nicht schlecht Gedichte und schickte sie an die Zeitung. Sonst wäre er an die Front gekommen. Während des ganzen Krieges befanden sich zwei unserer älteren Brüder an der Front. Sie wurden verwundet, kehrten jedoch lebend zurück. Auch der Ehemann der Schwester sowie die Bruder unseres Vaters kämpften an der Front. Vom Onkel erhielten wir einen Brief, den er noch vor dem Kampf geschrieben hatte. Darin schrieb er, daß ein heißer Kampf bevorstünde, und er verabschiedete sich sogar von allen Verwandten. Und tatsächlich folgte diesem Brief dann die Benachrichtigung über seinen Soldaten-Tod.

Mein ältester Bruder war Untersuchungsrichter, er arbeitete damals in der Straße der Diktatur des Proletariats No. 23 . Als man den Vater verhaftet hatte, bemühte er sich ein gutes Wort für ihn einzulegen und zu beweisen, daß unser Vater ein aufrichtiger Mensch war, ein Werktäti-ger, daß er kein Volksfeind oder ähnliches sein könnte. Den Bruder verhafteten sie auch. Er saß in unserem Gefängnis ungefähr ein Jahr (10 Monate), dann entließ man ihn, denn es gab kein einziges Beweisstück gegen ihn. Später erzählte er, wie sie mit den Gefangenen ihren Spott getrieben hatten: entweder stießen sie ihnen Nadeln unter die Fingernägel, ließen sie nackt mit dem Steißbein auf scharfeckigen Hockern sitzen oder befahlen ihnen, bekleidet mit Filzstiefeln, Pelzmantel und Mütze vor dem glühenden gußeisernen Ofen zu stehen. Der Mensch steht so lange, bis er auf den Ofen fällt. Und man schlug sie - egal womit und egal wohin, und ließ sich auch noch eine Reihe anderer Greueltaten den Gefangenen gegenüber einfallen.

Über das Schicksal des Vaters haben wir seit dem Tag seiner Verhaftung nie wieder etwas erfahren. Nur einmal, das erinnere ich, es war in den ersten Monaten, erlaubten sie uns, ihm ein kleines Päckchen mit Lebensmitteln zukommen zu lassen. Auf dem Platz vor dem Gefängnis (dort, wo es auch heute noch steht, in der Straße der Republik) hatte sich eine große Menschenmenge versammelt, alle mit Paketen für die ihnen Nahestehenden. Aber die berittene Miliz jagte uns mit Peitschenhieben auseinander. Das ist mir an den "Blutigen Sonntag" in der Erinnerung geblieben. Ich war sehr bescheiden, ruhig, und weiß gar nicht mehr, wie es mir passieren konnte, daß ich mich plötzlich vor den Gefängnistüren befand. Ich sehe noch das kleine Schalterfenster, zu dessen beiden Seiten ein Milizionär stand. Das Fensterchen wurde geöffnet, und eine Militärperson fragte mich: "Für wen haben Sie das Paket gebracht?" Ich antwortete, daß es für den Vater wäre, nannte seinen Familien-, Vor- und Vatersnamen. Man nahm mir das kleine Säckchen weg und sagte: "Warte hier!" Nach 5 Minuten zeigten sie mir ein Stück Papier, auf dem ich die Unterschrift meines Vaters las, mit der er bestätigte das Päckchen erhalten zu haben.

1956 begannen die Leute davon zu reden, daß das NKWD den Familien derjenigen, die als Volksfeinde verhaftet worden waren, Dokumente aushändigen würden. Mama stellte einen Antrag und bekam eine Bescheinigung über den Tod des Vaters, aus der hervorging, daß er am 7. November 1943 an Bluthochdruck gestorben war. Aber wo er bestattet worden war - das stand dort nicht. Mama erhielt außerdem eine einmalige finanzielle Hilfe (an die Summe kann ich mich nicht mehr erinnern). Sie wollte sie nicht annehmen, aber dann hat irgendwer sie überredet, das Geld doch zu nehmen. Gleichzeitig wurde ihr mitgeteilt, daß der Vater rehabilitiert worden sei. "Verzeihen Sie - wir haben uns geirrt"! Mama wurde schlecht. Man mußte sie ins Bewußtsein zurückholen.

Unsere tiefen Wunden, die mit den Jahren etwas weniger schmerzhaft geworden waren, wurden wieder aufgerissen. Und sie schmerzen bis heute. Und so lange wir am Leben sind, werden sie nicht verheilen


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