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Jan Minorowitsch . Ein Häftling im GorLag

Goschuw Welkopolski, 1990
(Fragment)

Jan Minorowitsch wurde 1922 in der Ortschaft Wolkow, Pustomytowsker Kreis, Region Lwow, geboren. Bis zum Krieg studierte er am Geistlichen Seminar in Lwow, nach Beginn der sowjetischen Okkupation kehrte er nach Wolkow zurück, denn die Besetzer hatten das Seminar geschlossen.

In der Nacht zum 12.06.1940 wurde er (wegen seiner Mitgliedschaft im Kirchenchor), verhaftet und am Morgen ins Untersuchungsgefängnis in Pustomyty gebracht, wo er einige Tage einsaß und Schlägen ausgesetzt war. Anschließend kam er ins Lwower „Brigidki“-Gefängnis.

Am 01.12.1940 wurde er mit einer Etappe von Lwow ins Starobelsker Lager geschickt (heute Lugansker Gebiet), wo man ihm im März 1941 den Beschluß der Sonder-Beratung des NKWD verkündete: 10 Jahre gemäß § 54- 2, 10, 11 („Mitgliedschaft in einer konterrevolutionären, aufständischen Organisation und antisowjetische Agitation“).

Im Juni 1941 schickte man ihn mit einer Etappe von Starobelsk nach Krasnojarsk. Am 3. Juli 1941 hielt der Gefangenentransport an der Station Bugatsch, am 5. Juli wurden die Gefangenen an der Station Jenissej ausgeladen. Aufgrund einer Erkrankung kam Jan Minorowitsch nicht mit auf die folgende Etappe nach Norilsk, sondern blieb in einer Wirtschaftsbrigade im Durchgangslager, wo er in der Wäscherei tätig war.

Am 27.07.1941 wurde er aufgrund der „polnischen Amnestie“ (als polnischer Staatsbürger) freigelassen und zur Station Balaj, Kreis Ujar geschickt und von dort zum Ton-Tagebau

40 km nördlich der Ortschaft Nikolskoje. Er weigerte sich dort zu bleiben und begab sich (zusammen mit einigen anderen polnischen Staatsbürgern) zur Balajsker Schweinezucht-Sowchose, Zweigstelle Prochorowka, 3 km von der Station Balaj entfernt.

Er arbeitete in dem Schweinezucht-Betrieb und ließ polnischen Bürgern aus Ujar durch den Bevollmächtigten des polnischen Konsulats Josef Gerlach (der am 10.02.1940 aus Polen deportiert worden war und nach seiner Verhaftung und Verurteilung wahrscheinlich im April 1944 in der Atschinsker Landwirtschaftskolchose ums Leben kam) humanitäre Hilfe zukommen.

Er wurde am Morgen des 13.04.1943 (durch Major Sorokinaus der Sondertransport-Abteilung der UNKWD) verhaftet und ins innere UNKWD-Gefängnis der Stadt Krasnojarsk gebracht. Die Verhöre wurden von Hauptmann Iwanow durchgeführt.

Er wurde am 16.10.1943 vom Krasnojarsker Gebietsgericht in einem Gruppenfall ( unter den insgesamt 8 polnische Staatsbürger fielen, die alle „auf 10 Jahre Besserungsarbeitslager entlassen“ wurden) verurteilt. Mit Beschluß vom 12.11.1943 ließ der Oberste Gerichtshof der RSFSR das Urteil ohne jegliche Abänderungen bestehen (das Verfahren wurde erst am 29.07.1961 vom Obersten Gericht der UdSSR eingestellt, und alle Verurteilten erhielten die Rehabilitation).

Ab Oktober 1943 saß Jan Minorowitsch im 1. Lagerstützpunkt der Verwaltung der Besserungsarbeitslager und -kolonien, Region Krasnojarsk (ein Lager regionaler Unterstellung, das zur Anlage der Zellulosefabrik in Krasnojarsk gehörte, am rechten Flußufer gelegen, unweit des Dorfes Ladejka und in der Nachbarschaft einiger anderer Lager)ein. Dort arbeitete er in der Schneiderwerkstatt und begegnete seiner zukünftigen Ehefrau Wassa Michejewa.

Im März 1945 wurde er in die Sykowsker „Massenarbeitskolonie“ verlegt (ebenfalls ein Lager regionaler Unterstellung), das der Ziegelei an der Station Sykowo, östlich von Krasnojarsk, angeschlossen war (ein Begleitsoldat führte ihn in einem zweistündigen Fußmarsch von der Zellulosefabrik dorthin). In der Sykowsker Kolonie arbeitete er ebenfalls in der Schneiderei.

Am 15.10.1945 wurde er mit einem Gefangenentransport von der Station Sykowo aus, den Jenissej abwärts, ins JenissejLag verschickt. In der Ortschaft Jepischino, gegenüber von Jenissejsk, wurde der Zug ausgeladen und die Häftlinge zufuß ins Nord-Jenissejsker Gebiet getrieben. Ein Teil der Strecke wurde auf Lastwagen zurückgelegt.

Jan Minorowitsch kam zum Lagerpunkt Teja, von wo zuvor japanische Kriegsgefangene abtransportiert worden waren. Dort war er als Verwalter der Schneider-Werkstatt tätig.

Ende 1947 wurde die Strafe um eineinhalb Jahre erhöht, nachdem man einen weiteren Fall wegen Diebstahl, laut § 107, aus der Luft herbeigegriffen hatte. Man schickte ihn zur Kolonnenarbeit in die Holzbeschaffung und verlegte ihn im Dezember 1947 zum Lagerpunkt Uwolga (am Zufluß des Teja); der Fußmarsch dorthin dauerte eineinhalb Tage. Dort arbeiteten alle12 Stunden täglich in der Holzfällerei, ohne freie Tage.

Im Mai 1948 schickte man ihn zum Lagerpunkt Teja zurück (ihn allein, von einem Begleitsoldaten bewacht und auf einem Floß schwimmend). In Teja arbeitete er als Brigadeführer in der Schneiderei.

 

SIEBEN JAHRE SPÄTER KEHRTE ICH INS LAGER AN DER STATION JENISSEJ ZURÜCK

Es war Ende August, als man mir im Vertrauen die Worte eines Offiziers übermittelte, daß ich erneut in ein anderes Lager überstellt werden sollte, aber wohin genau, das wußte derjenige nicht. Ich erzählte niemandem davon, bereitete mich aber allmählich darauf vor, und als sie mich dann tatsächlich zur Etappe aufriefen, war ich dafür bereits gerüstet.

Zusammen mit mir wurden scheinbar noch vier weitere aus dem Lager verschickt, darunter zwei Frauen. Alle waren nach einem politischen Paragraphen und zu einer Haftdauer von 10 Jahren verurteilt worden. Sie ließen uns unter dreifacher Bewachung von Begleitsoldaten auf einen Lastwagen steigen und brachten uns nach Nord-Jenissejsk. Dort wurden wir vor dem Lager „Sowrudnik“ abgeladen, aber direkt in die Zone wurden wir nicht hineingeführt.

Wir übernachteten in einer Unterkunft für die Wachmannschaft, und am Morgen trieben sie uns, zusammen mit anderen Häftlingen, insgesamt etwa 30 Mann, zum Aerodrom und ließen uns in ein Flugzeug einsteigen. Es handelte sich um ein Frachtflugzeug ohne jegliche Sitzgelegenheiten. Wir mußten, wie schon im Lastwagen, wieder auf dem Boden sitzen: jeder hatte zwischen seinen gespreizten Beinen einen anderen Häftling sitzen. Unter uns befanden sich vier Frauen, die getrennt von uns sitzen mußten. Wir waren begleitet von fünf Wachsoldaten und einem Offizier mit Dokumenten. Das war der erste Flug in meinem Leben. Und so transportierten sie uns nach Krasnojarsk.

Nach der Landung wurden wir zu fünft aufgestellt und dann durch die Straßen von Krasnojarsk getrieben. Der Weg endete am Tor eines Lagers, das, wie sich später herausstellte, als Transitpunkt für die Lager des „Jenissejsoloto“-Systems diente (Anmerkung der Übersetzerin: Hier gibt es eine gewisse Ungenauigkeit, aber das JenissejLag der SGU Sonderhauptverwaltung für Buntmetallurgie war tatsächlich mit dem „Jenissejsoloto“-Trust „zusammengewachsen“, ebenso wie das NorilLag mit dem Norilsker Kombinat. Seine Transitzone befand sich offensichtlich in dem Stadtteil, wo das Krasnojarsker Gefängnis stand).

Außer uns befanden sich in diesem Lager noch etwa 70 Gefangene. Nach einer Woche wurden allle hinausgerufen, durchgezählt, aufgestellt, ihre Familien-, Vor- und Vatersnamen, Geburtsjahr, Paragraphen und das Strafmaß mehrmals überprüft. Nach dieser sorgfältigen Kontrolle ließen sie uns in Fünfergruppen antreten und trieben uns zur Bahnstation, wo ein Häftlings-, bzw. „Stolypin“-Waggon stand, wie er von den Häftlingen genannt wurde.

Das war ein Waggon für Passagiere , allerdings mit vergitterten Fenstern, und in jedem Abteil befanden sich vierstöckige Pritschen, die so niedrig waren, daß es nicht möglich war, auf ihnen zu sitzen. Man konnte darauf nur liegen. In solche Abteile wurden jeweils 20 Mann hineingestopft. Das hat mir große Angst eingeflößt: mußten wir denn wirklich unter solchen Bedingungen 10 Tage und Nächte, wenn nicht sogar noch mehr, fahren? Aber wir waren überhaupt nicht lange unterwegs – etwa nach einer halben Stunde wurde uns befohlen auszu-steigen. Ich bemerkte, daß die Frauen nicht mehr unter uns waren, und als ich so umherblickte, da las ich auch den Namen der Station: Jenissej. Das heißt, nach 7 Jahren hatte mich das Schicksal wieder an diesen Ort geführt.

Ich erkannte die Straßen wieder, auf denen sie uns ins Lager getrieben hatten; hier hatte sich nur eines verändert: beim Lagertor war ein großes, neues Gebäude für Offiziere und Wachpersonal errichtet worden.

Nachdem uns die Lagerwache in Empfang genommen hatte, saßen wir bei den Toren noch lange auf der Erde. Und schließlich, nachdem noch einmal unsere Nachnamen, Paragraphen und Haftdauer überprüft worden waren, schlossen sich die Tore, und der Kommandant (ein Gefangener) nahm uns in Empfang.

Er führte uns ins Lager und brachte uns in einer der Baracken unter. In den vergangenen sieben Jahren war das Lager größer geworden. Alle Baracken waren eingeschossig und aus Holz, aus dicken Kiefernstämmen. In jeder dieser Baracken konnten bis zu 600 Mann Platz finden. Es gab 20 Baracken, nicht eingerechnet die Küche, die Bäckerei und die Verwaltungs- und Wirtschaftsgebäude. Es gab sehr viele Menschen im Lager. Die Ankündigung der Essens-ausgabe in der Kantine nach Brigaden-Nummern erfolgte über Lautsprecher.

Unsere Brigaden-Nummer habe ich inzwischen schon vergessen, aber am Morgen wurden uns Brot und Suppe ausgegeben.

Aus einem zufälligen Gespräch hatte ich erfahren, daß die gesamten Insassen dieses Lagers nach Norilsk geschickt werden sollten.

Na, wie soll man da nicht an das Schicksal glauben? Noch im Jahre 1941 hatten sie mich in dieses Norilsk führen wollen, aber sie waren nicht ganz bis dort gekommen. In so vielen Orten war ich schon, aber nun führt mich mein Lebensweg erneut dorthin.

Ich überlegte lange, was das wohl für ein Ort ist? Und weshalb er für die Sowjetmacht eine solche Bedeutung besaß, daß sie soviele Menschen dorthin brachten?

Ab 12 Uhr begannen sie durch die Lautsprecher zu verkünden, daß alle sich an der Wachstation versammeln sollten, wo wir nach Familiennamen aufgerufen würden und registriert würden. Dieser namentliche Aufruf erfolgte ziemlich langsam, und da brachte man dann ein echtes Orchester aus dem Lager Nr. 4 des „Norilskstroj“ * (Anmerkung der Übersetzerin; offenbar gibt es hier eineUngenauigkeit: die Rede müßte eigentlich von der

8. Lagerabteilung des NorilLag sein, die sich in Krasnojarsk befand, ebenso wie die 4. Lagerabteilung sich in Dudinka befand). Ich hatte von dem Lager schon damals gehört, als ich bei der Zellulosefabrik inhaftiert war. Sie hielten dort alles in mustergültiger Ordnung, und es gab dort nicht nur ein eigenes Blasorchester, sondern sogar so etwas wie ein Theater. Auch waren verschiedene Werkstätten vorhanden, fast wie Fabriken. Dieses Lager versorgte sich mit allem selbst, es besaß sogar ein nutzbares Stück Land, Vieh und eine Schweinezucht-Farm.

Aber kehren wir zur Wachstation zurück, wo die namentliche Erfassung weiterging. Einige Offiziere waren vom Ausrufen der Nachnamen bereits heiser geworden. Die Nacht ist schon hereingebrochen, aber sie lassen uns nicht schlafen. Das Orchester spielt, Sänger singen. Nur Beifall gab es keinen: jeder dachte doch an das, was ihn in der Zukunft erwartete.

Meinen Familiennamen hörte ich gegen Morgen, ungefähr um vier Uhr. Ich trete an den Tisch heran und antworte auf die Fragen: Nachname, Vorname, Vatersname, Geburtsjahr, Paragraph, Haftdauer. Alles stimmt überein und der Wachmann führt mich durch das Lagertor, wo schon ungefähr hundert Menschen auf der Erde sitzen. Ich mußte mich zu ihnen setzen. Immer wieder brachten sie noch mehr Menschen, und das dauerte noch so bis 7 oder 8 Uhr morgens.

Anschließend brachten sie uns Brot, das heißt für jeden 1/4 von einem Laib („Ziegelsteine“), und Wasser („abgekochtes“). Wir wurden geweckt und erneut durchgezählt. Es war wohl schon 9 Uhr morgens, als man uns zu jener Anlegestelle trieb, an der ich sieben Jahre zuvor Lastkähne mit Zement beladen hatte. Etwa gegen zwölf Uhr mittags kamen wir an Ort und Stelle an, und wieder begann sich eben jenes Karussell zu drehen: das Aufrufen nach Familiennamen und wieder diesselben Fragen, die ich hier nicht noch einmal wiederholen will. Wieder setzten sich alle auf den Boden, diesmal aber näher ans Ufer, neben der Gangway eines Lastkahns, der dort festgemacht hatte.

Nachdem die Nachnamen von jeweils zwanzig Häftlingen verlesen worden waren, teilte man ihnen eine Nummer mit, und das war dann eine Brigade. Jede Brigade wurde von einem Wachmann auf das Lastschiff geführt, wo er ihnen dann ihren Platz in dem Gefängnis zeigte. Unten standen vierstöckige Pritschen in Dreierreihen. Der Lastkahn war breit, etwa 25 m lang und 6 m hoch. Fenster gab es in dem Gefängnis nicht, lediglich zwei Ausgänge zum Deck, die das Schiff in drei Bereiche unterteilten. Der Lastkahn war aus Holz – solche wurden ganz speziell für den Transport von Häftlingen gebaut. Die Ausgänge zum Deck waren mit dicken Gittern versperrt. Es gelang mir nicht ausfindig zu machen, was sich dort oben an Deck befand.

Das Verladen zog sich noch vom Vortag hin, weil wir im Gefängnis viele Menschen sahen.

Aber erst am dritten Tag war das Lastschiff vollständig beladen. Und während des Ladevorgangs gab man uns Brot aus und einen halben Liter Suppe aus irgendwelchen Graupen, die sogar recht dickflüssig war.

Am vierten Tag begann der Lastkahn hin und her zu schaukeln, und ich begriff, daß wir bereits abgelegt hatten. Da es in unserem Gefängnis keine Fenster gab, herrschte dort Halbdunkel, und jenes schwache Licht, das durch die beiden Ausgänge hindurchdrang, reichte nicht aus, um den gesamten Laderaum zu erhellen.

Am sechsten Tag machte das Lastschiff an irgendeinem Ufer fest. Es hatte den Anschein, daß unsere Reise sich dem Ende näherte.

Der Ort, an den sie uns gebracht hatten, hieß Dudinka. Das ist ein Flußhafen am Jenissej, hinter dem Polarkreis. Dorthin kommen auch Seeschiffe, die das Eismeer befahren.

Ans Ufer gingen wir bereits in Brigaden, und zwar in der Reihenfolge der Nummern. Zwischen zwei Brigaden war jeweils ein Abstand von zwei Metern. Wir wurden erneut durchgezählt und dann brigadenweise ins Durchgangslager geführt. Dort standen nur Baracken und außerdem noch Toiletten.

In diesem Lager warteten wir ungefähr sechs Stunden auf die Verladung in Waggons der Schmalspurbahn. Und nach weiteren zehn Stunden fanden wir uns in Norilsk wieder. Dies geschah am 18. September 1948.

NORILSK, „GORLAG“

Es lag noch kein Schnee, aber der Boden war bereits gefroren. Die Sonne ging tagsüber noch auf. Aber nach dem 15. Oktober tauchte sie für drei Monate nicht mehr am Himmel auf.

(Anmerkung der Übersetzerin: Als Beginn der Polarnacht in Norilsk zählt der 30. November; sie endet am 13. Januar).

Ich habe die Eindrücke von der Überfahrt auf dem Lastkahn nicht beschrieben, weil es davon auch nichts zu berichten gibt. Alle waren ausnahmslos politische Gefangene, alle trugen sie die schwere Last der Gedanken an ihr zukünftiges Schicksal, und in unserem Gefängnis herrschte völlige Stille. Niemand spielte Karten, und ich konnte nur selten sehen, daß zwei oder drei sich zusammengesetzt hatten; niemand wollte den Verdacht erregen, daß es zwischen ihnen irgendwelche Gemeinsamkeiten gab. Offenbar hatte man uns, wie man so sagt, gründlich durcheinander gewürfelt. Und im Zug, in den kleinen, engen Waggons, gab es noch nicht einmal Bänke zum Hinsetzen. Wir dämmerten zehn Stunden dahin, auf dem Boden sitzend, und wurden erst dann wach, als der Waggon anfing von einer Seite auf die andere zu schleudern. Wie sich herausstellte, waren die Schienen der Schmalspurbahn auf einen provisorischen Bahndamm verlegt worden.

An einer kleinen Bahnstation, am Fuße eines riesigen Berges, wurden wir ausgeladen. (Anmerkung der Übersetzerin: Der Berg Schmidta, in der Umgangssprache „Schmidticha“ genannt). Da wußte ich, daß diese Station Nulevoj Piket hieß. Ringsumher stand nicht ein einziges Wohnhaus, nur Lager-Wachtürme und Zäune mit Stacheldraht. Es wurde klar, daß man uns in ein großes Lager gebracht hatte.

Sie stellten uns zu Fünferreihen auf, zählten uns durch und trieben uns irgendwo hin, nachdem sie uns zuvor verkündet hatten, daß es verboten war, sich in dieser Formation zu unterhalten, daß das Wegtreten aus der Reihe als Fluchtversuch galt und der Begleitsoldat in einem solchen Fall ohne Vorwarnung schießen würde. Die Kolonne marschierte durch eine breite Straße. Ich befand mich etwa in der Mitte dieser Kolonne. Dann begann der Weg zum Berghang hin anzusteigen, wir sind die Windungen des Weges hinaufgeklettert, höher und höher, und schließlich konnten wir von oben aus ganz Norilsk übersehen.

Unten qualmten die Schlote von zahlreichen Fabriken, das ganze Hüttenkombinat, und drumherum zogen sich mir wohlbekannte Rechtecke hin, in deren Innerem sich Baracken befanden und an den Rändern Wachtürme. Immer höher wurden wir hinaufgetrieben, bis Nebel und Rauch das Panorama verschleierten. Endlich verlief der Weg wieder gerade und schien mir auch nicht mehr so steil zu sein, aber das kam mir nur so vor. Wie man mir später erzählte, waren wir auf diesem Weg von Nulevoj Piket bis auf eine Höhe von 1600 m aufgestiegen. Na und auf dieser Höhe befand sich das Lager – der Endpunkt unseres Aufstiegs.

MEDWESCHIJ RUTSCHEJ – LAGER NO. 1

Das Lager hieß „Medweschij Rutschej“ (Anmerkung der Übersetzerin: „Bärenbach“) und trug die Nummer 1. Es war dem GorLag angeschlossen, und seine vollständige Bezeichnung lautete – „Staatliche Lager mit besonderer Haftordnung“. In Norilsk selbst gab es einige solcher Zusammenschlüsse, und sie alle unterstanden dem „Norilstroj“. (Anmerkung der Übersetzerin: Tatsächlich waren in Norilsk und Umgebung wohl zwei Lager-Systeme in Betrieb, beide mit zentraler Unterstellung. Das NorilLag und das GorLag, und die offizielle Bezeichnung des GorLag lautete: „Berglager des Ministeriums für Innere Angelegenheiten der UdSSR) bzw.„Sonder-Kennung No. 2“. Das NorilLag und das GorLag unterstanden nicht dem Norilstroj, waren jedoch seine „Vertragspartner“, welche ihm die Arbeitskräfte, genauer gesagt – die Sklavenarbeiter, stellte. Sowohl das NorilLag als auch das GorLag waren in Lagerabteilungen unterteilt, und sogar in „Sub-Lagerpunkte“, sog. OLPs. Viele Lager-Abteilungen hatten in ihrem Bestand Lagerpunkte und Lager-Außenstellen. „Medweschij Rutschej“ oder, kurz gesagt „Medweschka“, ist der Lagerstützpunkt Nr. 1 des GorLag.)

Die Vereinigung des „GorLag“ bestand aus sechs Lagern. Im 1., 2. und 4. sowie im 5. (einem Frauenlager), das in zwei Bereiche geteilt war, wurden politische Häftlinge mit Haftstrafen von 10 bis 20 Jahren gehalten. Im 3. und 6. saßen ebenfalls politische Gefangene, allerdings mit einer Frist von 25 Jahren, zur Zwangsarbeit Verurteilte **. (Anmerkung der Übersetzerin: so eine genaue Aufteilung gab es im GorLag nicht. In der 3. und 6. Lagerabteilung saßen nicht wenige „Zehnjährige“, in der 5. befanden sich auch Männer. Im GorLag saßen ebenfalls tausende von „Kurzfristigen“ – mit einer Haftstrafe von 5 Jahren).

Das Lager Nr. 3 war ein Männerlager, im Lager Nr. 6 saßen Frauen ein. Jedes dieser Lager zählte 6 – 7 Tausend Gefangene, nur im 3. und 6. befanden sich weniger Inhaftierte.

Unser Lager förderte Nickel im Tagebau. Das zweite, etwas weiter von Norilsk entfernt, förderte Kohle, ebenfalls im Tagebau. Die Lager Nr. 4 und 5 bauten die Stadt sowie eine große Kupferschmelzerei; das 6. Lager führte die schwersten Arbeiten aus – es war mit dem Bau einer riesigen Fabrik beschäftigt; welcher Art diese war, wußten wir nicht.

In unserem Lager gab es keine Kriminellen, daher ging es immer ruhig zu. Niemand hatte Angst, daß irgendwelche seiner Sachen wegkamen oder daß er die festgesetzte Verpflegung nicht bekam.

Im großen und ganzen gab es in Norilsk sehr viele Lager, wahrscheinlich mehr als zwanzig. Einmal brachte man mich zum Röntgen ins Norilsker Zentral-Krankenhaus, und dort begegnete ich einem Häftling aus dem Lager Nr. 27.

Aber kommen wir wieder zu meinen Angelegenheiten zurück. Ich wurde in eine Brigade aufgenommen, die eine Schienenstrecke auf dem Berg verlegte, in einer Höhe von 1900 Metern.

Bis zu einer Höhe von ungefähr 1500 Metern waren die Gleise bereits gelegt, es waren schon einige Loren darauf in Betrieb. Nach Fertigstellung der Strecke sollte darauf Nickelerz für die Aufbereitungsanlage transportiert werden.

Die Arbeit war sehr schwer. In meiner Brigade gab es einen Polen aus der Umgebung von Grodno. Man hatte ihn bereits nach dem Krieg wegen seines Dienstes bei der Armija Krajowa

(Anmerkung der Übersetzerin:"Krajowa-Armee", „Heimat-Armee“) verhaftet und ihm 10 Jahre aufgebrummt. Er hieß Jan Berdowskij. Gemeinsam mit mir kehrte er nach Polen zurück und führt jetzt seine Wirtschaft in einem Dörfchen in der Nähe von Goschuw.

BABYLONISCHES DURCHEINANDER

In unserem Lager ließ sich wahrlich ein babylonisches Sprachengemisch beobachten. Russen und Ukrainer (sie waren in der Mehrzahl), Weißrussen, Armenier, Kirgisen, Tadschiken, Grusinier (Georgier; Anmerkung der Übersetzerin), Menschen aus fast allen sowjetischen Republiken. Und dann noch Leute aus jenen Ländern, die nach dem Kriege in diese riesige „Familie“ hineingeraten waren: Esten, Letten, Polen, Rumänen, besonders Moldawier, Karpaten-Ukrainer, Ungarn, Tschechen, Deutsche und aus dem Osten – Koreaner, Chinesen und Japaner. Hier war es erlaubt, Brigaden aus Vertretern einer Nation zusammen zu stellen, aber ich weiß, daß das NKWD * (Anmerkung der Übersetzerin: Ab 1946 – ;inisterium für Innere Angelegenheiten und Ministerium für Staatssicherheit) überall seine „Klopfer“ (Informatoren) sitzen hatte; sonst wäre die Existenz solcher Brigaden auch niemals zugelassen worden.

Den ganzen ersten Monat hindurch versuchte ich zu verstehen, wie das Lager organisiert war, worauf sich dort das Leben, die Arbeit und die Erholung gründen. Ebenso wie zur Zeit des Krieges wurde im Lager 10-12 Stunden täglich gearbeitet, ohne freie Tage. Nur die Schlosser, die die Wassertürme bedienten, und die Elektriker arbeiteten in drei Schichten.

„DIE ABKRATZER“

Ich bemühte mich, eine Arbeit in der Schneiderwerkstatt zu finden, aber nirgends klappte es. Die Schneiderwerkstatt wurde gerade erst organisiert, und ich verfügte nicht über die notwendigen Beziehnungen, um dorthin zu kommen.

Unterdessen hatte die Zeit der Polarnächte eingesetzt, mit starkem Frost, Wind bis 25 Meter pro Sekunde, Nordlichtern ... Wir waren zwar warm angezogen, aber es bringt ja nichts, wenn die Ernährung nicht die Kräfte wiederhergestellt hat, die von der schweren Arbeit in den rauhen klimatischen Bedingungen verbraucht worden sind! Die Kräfte in meinem Organismus schwanden dahin.

Dank eines Bekannten aus dem Lager gelang es mir, an der Station Sykowo in eine Brigade zu kommen, die sich „Abkratzer“ nannte. In ihr waren all jene, die aufgrund der kräftezehrenden Arbeit und der völlig unzureichenden Ernäherung am Rande der dystrophischen Erschöpfung angelangt waren. Diese Brigade erhielt eine Verpflegung mit einer höheren Kaloriennorm und durfte sich mit leichteren Arbeiten befassen. Als ich Meldung machte, daß ich Schneider von Beruf wäre, wiesen sie mir einen Arbeitsplatz in der Schneiderei zu. Zuerst mußte ich Kleidung ausbessern; später kam ich dann in die Maßschneiderei, in der Kleidung für Offiziere genäht wurde.

In dieser Schneiderwerkstatt arbeiteten viele Leute, unter ihnen auch zwei Polen: Stanislaw Suchak, der aus der Umgebung von Brest stammte, und Antoni Jaswinskij aus Baranowitschi.

Wir freundeten uns an.

Stanislaw Suchak war um einige Jahre jünger als ich und Antoni Jaswinskij um höchstens zehn Jahre älter. Staschek konnte gut nähen, und ich lernte viel von ihm. Antoni Jaswinskij war, in der Tat, weder Schneider noch Schuster: er erfüllte einfach ganz akkurat seine Pflichten. Er arbeitete bei der Annahme und Ausgabe der Kleidungsstücke und Schuhe, die er dann zum Ausbessern brachte.

TREFFEN MIT LANDSLEUTEN, WIR WURDEN WIE BRÜDER

Offenbar kam 1949 eine neue Etappe an. Ich erfuhr, daß auch ein Landsmann von mir dabei war. Seine Eltern wohnten in Schirawka, einem Dörfchen, das ganze zwei Kilometer von Wolkow entfernt lag. Es handelte sich um Wassil Grib (Gschib), einen Ukrainer. Wir freundeten uns an und verbrachten die gesamte verbleibende Haftzeit miteinander, und immer half einer dem anderen.

LAGERORDNUNG UND PSYCHISCHE UNTERDRÜCKUNG

Indessen waren die Lagerbehörden der Meinung, daß eine Verschärfung des Regimes unabdingbar wäre, um unser Leben möglichst noch mehr zu erschweren. Jedem Häftling wurde eine Nummer zugeordnet, die mit Farbe aufgemalt oder an verschiedenen Stellen aufgenäht war: rechts an der Mütze, hinten an der Matrosenjacke und auch noch auf dem Hemd, der Hose und der Unterhose. Ich bekam die Nummer D-509. Als die „Tschekisten“ den Einfall hatten, einen turnusmäßigen Appell durchzuführen, mußten alle Inhaftierten ihre Nummer nennen, dann den Familiennamen und alles andere.

Obwohl das Lager mit mehreren Reihen Stacheldrahtzaun eingegrenzt war und von außen bewacht wurde, wurden an den Barackenfenstern noch Gitter und an den Türen eiserne Riegel eingebaut, welche nun von den diensthabenden Wachleuten nachts vorgeschoben wurden. So wäre es wahrscheinlich auch geblieben, wenn nicht in einem anderen Lager die Baracken Feuer gefangen hätten, und bis das Wachpersonal endlich herbeigelaufen kam, waren alle drinnen bereits erstickt – insgesamt 150 Mann. Nach diesem Vorfall erging ein Erlaß, nach dem die Baracken nicht mehr zugesperrt werden durften. Aber während der Nacht, das heißt zwischen 22.00 Uhr und 5.30 Uhr, war es bei Todesstrafe verboten, die Baracken zu verlassen. Diese und andere ähnliche Neuerungen waren darauf gerichtet, uns noch schneller mürbe zu machen, zu erniedrigen und uns zu zeigen, daß wir für sie keine Menschen, sondern bloß eine Herde Sklaven waren, aus denen man den ganzen Saft durch die alle Kräfte übersteigende Arbeit heraussaugen mußte und auf solche Art und Weise die letzten Überreste ihres eigenen Willens brechen konnte.

POLITISCHE AUSEINANDERSETZUNGEN

Im Lager begannen politische Morde. Ihre Opfer waren die sogenannten „Klopfer“ oder jene, die bei den Verhören irgend jemanden verraten hatten. Die meisten dieser Morde fanden unter den Ukrainern, Litauern und Russen statt. Aber es geschahen auch gewöhnliche, rein kriminelle Morde, weil es, wie sich herausstellte, in unserem Lager auch Banditen gab, darunter auch solche, die bereits mehrere Morde anhängig hatten.

Das kulturelle Niveau im Lager war, wie mir schien, etwas besser als mittelmäßig. Hier saßen sehr viele Russen, die während des Krieges mit den Deutschen zusammengearbeitet hatten. Das waren sowohl Offiziere der Wlassow-Armee, als auch Offiziere der Armeen Krasnows und Semjonows, die von den Verbündeten in die Arme der Sowjets übergeben worden waren. Es waren Leute aus verschiedenen Ländern und Volksgruppen, die sich in ihrer Umgebung durch geistige, organisatorische oder schöpferische Fähigkeiten auszeichneten. Und so funktionierte dieses ganze System samt seiner „Kommando-Zentrale“, auf das sich dieses und andere Lager gründeten.

Später erfuhr ich, daß es mehrere solcher „Sonderlager“ gab, die sich in verschiedenen Ecken der Sowjetunion befanden. Diese Lager unterstanden direkt dem Ministerium des Hauptkomi-tees für Verteidigung, dem sogenannten KGB *(Anmerkung der Übersetzerin: Alle Sonder- und Besserungsarbeitslager unterstanden der Lager-Hauptverwaltung (GULag) des Mini-steriums für Innere Angelegenheiten der UdSSR).

Langsam zogen die Jahre sich dahin. Die Trauer um die Heimat, die Familie, über naheste-hende Menschen wird immer heftiger, aber auf der anderen Seite kriecht die Angst durchs Herz, daß all diese Träume unerfüllbar sind, daß die Zahnräder der Maschinerie, in die ich hineingezogen worden war, mich nicht zwischen ihren Zähnen herauslassen, sondern zu Pulver zermahlen würden. Und dieser Gedanke war der schlimmste von allen in dem sowieso schon schwierigen Leben, aber plötzlich ...

UNERWARTETE FREUDE, EIN HOFFNUNGSSTRAHL, DAS WIEDERSEHEN NACH SIEBEN JAHREN

Einmal, Anfang der fünfziger Jahre, wurde ich zur URTSch (Anmerkung der Übersetzerin: Registrierungs- und Verteilungstelle), so etwas wie eine Lager- Kaderabteilung, gerufen. Dort verkündete man mir, daß man mir auf Beschluß des Leiters des „Jenissejsolota“-Trustes wegen guter Arbeitsleistungen in der Holzfällerei im Lager Uwolga für einen Arbeitstag jeweils zwei angerechnet hatte, so daß meine Haftstrafe sich nun um 162 Tage verkürzen würde. Das machte mir sehr viel Mut. Voller Freude unterschrieb ich diese Benachrichtigung.

Aber mich erwartete auch noch eine andere freudige Überraschung. Als ich mich zum Ausgang begab, sah ich einen Offizier im Majorsrang, der mir entgegen kam, und ich wußte sofort: das war genau jener Offizier, dem ich sieben Jahre zuvor sein Geld mit einem Bügeleisen geplättet hatte. Auch er erkannte mich, ließ sich jedoch nichts anmerken, aber als wir uns auf gleicher Höhe befanden und ich auf die Straße hinaustrat, befahl er dem Begleitsoldaten mich in sein Amtszimmer zu bringen. Der Wachsoldat wunderte sich und fragte, woher der Major mich kannte? Und ich antwortete, daß ich vor nicht allzu langer Zeit einmal für ihn genäht hatte.

Nach einiger Zeit trat der Major ein, wies den Begleitsoldaten an, mich in dreißig Minuten wieder abzuholen, und hieß mich hinsetzen, und als vier dann unter vier Augen waren, mußte ich ihm meine ganze Geschichte nach meiner Versetzung aus dem Lager bei der Zellulosefabrik erzählen. Er sagte, daß er vor kurzem dort hingefahren wäre und die Leitung des Lagers übernommen hätte, allerdings lediglich auf administrativer Ebene, und daß über ihm noch ein anderer Leiter stehen würde, dem er also unterstellt war. Er erzählte mir ferner, daß er mit seiner Familie dorthin gekommen wäre, mit seiner Ehefrau und zwei Töchtern im Alter von 14 und 16 Jahren. Er erkundigte sich, wie ich hier lebte, und versprach, daß – falls ich irgend etwas benötigen würde – er im Rahmen seiner Möglichkeiten versuchen würde mir zu helfen.

Im Lager gab es eine große Bibliothek, aber die Bücher waren nicht besonders, hauptsächlich sowjetische Literatur. Ich beschloß zu fragen, ob er mir nicht dabei behilflich sein könnte, mich mit der klassischen russischen Literatur bekannt zu machen. Ich machte aber sogleich Vorbehalte, denn natürlich mußte man dies so arrangieren, daß niemand mich verdächtigte, Verbindungen zur Lagerleitung zu haben. Er erwiderte, daß er seine Anzüge zum Reinigen und Aufbügeln schicken würde, mit der ausdrücklichen Anweisung, sie nur persönlich an mich auszuhändigen, und dann sollte ich sie selbst dorthin bringen. Er gab der Wache den Befehl mich durchzulassen. Was hätte ich mir noch wünschen können? Er rief den Wach-mann per Telefon an und schickte mich zurück ins Lager.

Auf diese Weise begann der mir bekannte Major mich mit Büchern aus der Lager-Bibliothek zu versorgen, die von der Ehefrau eines Offiziers geleitet wurde, und nur sie wußte, daß die Bücher für mich bestimmt waren. Und so kam es, daß es mir gelang ernsthafte Bücher durchzulesen, sogar solche, die für einfache Bürger in der Freiheit unzugänglich waren.

Wenn ich dem Major irgendetwas brachte oder zum Bügeln oder für die Maßschneiderei mitnahm, dann sprachen der Major und ich häufig über verschiedene Themen, sogar über solche, die ich nicht einmal in Unterhaltungen mit meinen Freunden berührt hätte. Er rechtfertigte das bestehende System , aber ich widersprach ihm und sagte, daß ein derartiges System sich nicht über Jahrhunderte halten könnte und daß sich darin irgendetwas ändern müßte, damit das möglich würde, was Lenin eingeführt hätte, aber das wäre ja scheinbar von allen schon in Vergessenheit geraten. Solche und ähnliche Gespräche führten wir während unserer nie lange währenden Begegnungen.

DIE WACHEN SCHLUCHZTEN – UND WIR FREUTEN UNS

Etwa eine Woche vor Stalins Tod rief mich der Major zu sich und erzählte mit tiefer Trauer, daß Stalin erkrankt wäre. Und darauf sagte ich: „Ich dachte schon, daß er niemals sterben würde, aber offensichtlich ist auch er nun an der Reihe!“ Der Major befahl mir Schweigen darüber zu bewahren.

Und einige Tage später meldeten die Radiostationen im Lager den Tod Stalins. Im Lager herrschten Freude und Fröhlichkeit, aber hinter der Umzäunung Trauer und Weinen.

Es verstrich ein wenig Zeit, und in unserem Lager geschah etwas Merkwürdiges, irgendwelche geheimen Gespräche hinter vorgehaltener Hand.

STREIK IM GORLAG

Einmal, so um 14 Uhr herum, erfuhren wir, daß niemand zur Arbeit gegangen war, daß sich im Lager ein Streik-Komitee gebildet hatte und alle Interessierten zu einer Zusammenkunft im Klub eingeladen worden waren.

Mein Freund Wasja und ich beschlossen uns ruhig zu verhalten und an dem Aufstand nicht teilzunehmen.Vielen war bekannt, daß ich bloß noch ein Jahr bis zum Ende der Haftzeit nach hatte, und deswegen verurteilten sie mich wegen meiner Entscheidung nicht.

Nun streikt das Lager bereits seit drei Tagen. Außer unserem streiken auch die 2., 4. und 5. Lagerabteilung sowie die Straflager Nr. 3 und 6.

Am vierten Tag kommt unter der Leitung von Oberst Kusnetzow per Flugzeug eine Kommission aus Moskau. Nach seinem Auftritt, bei dem er sich zu den Forderungen der Streikteilnehmer geäußert hatte, schlug er all denen, deren Haftzeit sich dem Ende näherte vor, das Lager zu verlassen. Ich ging als erster hinaus, und hinter mir kamen noch ein paar Mann. Sie führten uns ein Stück vom Lager weg und ließen uns dann auf dem Boden niedersitzen.

Anschließend sagte der Oberst den anderen noch irgend etwas, aber was genau, das konnten wir nicht hören. Schließlich und endlich gingen fast alle aus dem Lager, aber sie mußten getrennt von uns sitzen. Danach wurden die letzten noch übriggebliebenen Häftlinge hinausgeführt und setzten sich an einer dritten Stelle nieder. Das gleiche geschah mit jenen, die gerade während der Schicht von dem Streik überrumpelt worden waren; sie blieben in der Arbeitszone. Sie wurden ebenfalls in vier Gruppen unterteilt. Die erste und zweite Gruppe erhielt die Anweisung, ins Lager zurückzukehren. Als sie durch das Wachhäuschen gingen, bemerkten wir einen Häftling, der im Klub als „Kulturorganisator“ tätig war. Er betrachtete sich die Gesichter aller Eintretenden ganz genau. Aber anscheinend fand sich unter uns nicht ein einziger von denen, die er erkennen wollte. Aber dann wurden aus der dritten und vierten Gruppe viele aussortiert und nicht ins Lager hineingelassen. Das waren mehr als 1500 Menschen, und man trieb sie in erst kürzlich errichtete Häuser.

Bereits gegen Abend ging das Leben im Lager wieder seinen gewohnten Gang. Und da erfuhr ich von jenen, die auf der Arbeit geblieben waren, daß es nicht in allen Lagern so verlaufen war wie in unserem. Sehr viele Strafgefangenen waren ums Leben gekommen – sowohl Frauen als auch Männer. Von jenen, die man nicht ins Lager hatte zurückgehen lassen, wurde ein Etappe zusammengestellt und nach Norilsk abtransportiert. Ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört *. (Anmerkung der Übersetzerin: Die aktivsten Teilnehmer des Norilsker Streiks wurden ins Wladimirsker Zentralgefängnis gebracht und von dort auf verschiedene Lager verteilt).

Es stellte sich heraus, daß der Grund für den Aufstand eine Amnestie gewesen war, die sich nicht auf die politischen Häftlinge erstreckt hatte, sowie ein Fall von Amtsmißbrauch seitens der Lagerleitung. Den mir bekannten Major bekam ich dann auch nicht mehr zu sehen.

Mein guter Freund Wasja schlug mir vor, aus der Schneiderwerkstatt ins Kesselhaus überzu- wechseln, das von einem sehr guten Spezialisten, geleitet wurde, dem inhaftierten Russen Mosgo. Und so arbeitete ich die ganzen letzten Lagermonate und –tage in diesem Kesselhaus, und zwar an den Wassermeßgeräten, welche die Höhe des Wasserstandes in den Dampfkesseln anzeigten.

Bei meinem Bericht, vor allem bei dem Teil, in dem von Norilsk die Rede ist, handelt es sich um eine verkürzte Erzählung, die nur die bemerkenswertesten Ereignisse enthält.

Aber kehren wir zu meinem Leben im Lager, zu den letzten Jahren des Lagerlebens, zurück.

Durch meinen Freund Wasja machte ich die Bekanntschaft eines jungen Burschen von 22 Jahren, der bis zu seiner Verhaftung in Tscherepyn gelebt hatte. Das ist ein Dorf, das nur ganze 5 oder 6 km von Wolkow entfernt gelegen war. Ich war häufig mit Großmutter Scheremetaja dort gewesen, weil ihr Bruder, Tomasch Frantschuk, da gewohnt hatte. Und außerdem wohnten dort noch der Bruder und die Schwester des Großvaters. Diese Schwester hieß Rosalia – und mit dem Familiennamen Perdala. Ich kann mich noch gut daran erinnern, daß wir dort auf einem griechisch-katholischen Weihnachtsfest waren. Es war nämlich so, daß sowohl der Bruder der Großmutter als auch die Schwester vom Großvater, obwohl sie beide aus einer polnischen, römisch-katholischen Familie stammten, kirchlich geheiratet hatten und auf diese Weise zur griechischen-katholischen Konfession übergetreten und Ukrainer geworden waren.

Der junge Kerl hieß mit Nachnamen Maschtalasch (Maschtaler). Sie hatten ihn 1946 eingesperrt und ihm 25 Jahre aufgebrummt. Ich fragte ihn nach seinen Eltern und er erzählte, daß irgend jemand den Bruder meines Großvaters während der Osterfeiertage des Jahres 1946 verhaftet hatte; seitdem ist er spurlos verschwunden. Die Schwester, Rosalia, lebt noch, aber ihre beiden Söhne befinden sich in Kanada. Und ihr Ehemann kam beim Einfall der polnischen Partisanen in Tscherepyn ums Leben. Das war es, was er mir mit wenigen Worten erzählte.

Ich erriet, daß er mir noch nicht alles gesagt hatte, daß er etwas vor mir verbarg, aber das beunruhigte mich nicht. Ich war auch vor 1939 kein Nationalist gewesen und wurde auch nach all diesen Lagerjahren keiner, denn ich war aufs tiefste davon überzeugt, zu welchen Übeln und Niederträchtigkeiten der Nationalismus viele Völker bereits geführt hatte.

Da wir niemand schrieb, ich jedoch, wie jeder andere Häftling auch, das Recht besaß, einen Brief pro Jahr zu schreiben, entschloß ich mich ein Schreiben an Rosalia zu richten. Darin erklärte ich, wer ich sei und bat um Mitteilung, was ihr über meine Familie bekannt sei. Außerdem bat ich sie, mir auch Briefe zu schreiben, selbst wenn sie von mir noch keine Antwort auf den vorangegangen erhalten hätte, da sie den zweiten Brief ja erst ein Jahr später erhalten würde.

Etwa nach einem Monat kam eine Antwort von ihr. Sie teilte mit, daß sie aus Polen Briefe von meiner Großmutter bekommen hätte, daß es der Oma an dem neuen Ort nicht sonderlich gut gehe und der Großvater kaum mehr bei Verstand sei, weil er nicht die Kraft besaß, sich mit dem Verlust seiner Wirtschaft abzufinden, die er aufgrund der Zwangsrückführung in die Heimat verloren hatte. Über sich selbst schrieb sie, daß sie Witwe war, und daß zwei ihrer Söhne, wie man ihr mitgeteilt hatte, sich in Kanada befanden, usw.

Diesen und ihren nächsten Brief bekam ich, man kann wohl sagen, unmittelbar nacheinander.

Da man uns, den Gefangenen, ab 1948 eine winzige Summe für persönliche Aufwendungen zugestanden hatte, waren auf meinem Konto in zwischen 1500 Rubel angehäuft, und ich schrieb eine Antrag, daß 700 Rubel davon per Post auf den Namen von „Tante“ Rosalia über-wiesen werden sollten.

Dieser geringfügige Betrag erwies einen großen und unschätzbaren Dienst, wie sich bald herausstellte.

Rosalia erzählte allen der Reihe nach stolz, was sie für einen bemerkenswerten Verwandten hatte. Zuerst schrieb sie meiner Großmutter in Polen und teilte ihr in dem Brief meine Adresse mit. Zweitens erzählte sie allen Einwohnern von Wolkow, denen sie begegnete, von mir.

In Wolkow lebte auch eine Kusine meines Papas, Frantschischka Pikota, die ihre Wirtschaft nicht hatte aufgeben wollen und zusammen mit ihrem Sohn, Martschin Pikota, in Wolkow geblieben war.

Dessen Ehefrau Anna stammte aus einer Familie, die auf dem Einzelgehöft Tschelentze (Teljatsche) lebte, das zu dem Dorf Schirawka gehörte. Die Ehefrau Martschins war griechisch-katholisch, und die beiden hatten sich kirchlich trauen lassen – möglicherweise beeinflußte auch dies die Entscheidung Martschins zu bleiben und nicht nach Polen zu fahren.

Drei seiner Schwestern, die mit Polen verheiratet waren, fuhren mit ihren Familien nach Polen. Mein Papa war oft bei der Familie Pikota in Wolkow zu Gast, und von ihnen hatte er erfahren, daß ich noch am Leben war und mit Tante Rosalia in Briefwechsel stand. Beim nächsten Mal fuhr er geradewegs zu ihr. Und sie gab ihm dann meine Adresse.

Das war bereits im März 1954. Ein paar Tage später schrieb er mir einen Brief, und nachdem er von mir eine Antwort bekommen hatte, schickte er mir ein Paket mit Lebensmitteln. Aus Papas Brief wußte ich, daß er noch 1944 geheiratet hatte und mit seiner neuen Frau in der Straße der Dekabristen in Lwow wohnte, genau gegenüber dem Haus, in dem wir nach dem ersten Einmarsch der Russen in Lwow gewohnt hatten.

Und danach verrann die Zeit bis zum Tag der Freilassung sehr schnell.

Aber eines habe ich noch vergessen zu sagen. Von einer Frau, die bei der Postzensur arbeitete, wurde ich vertraulich darüber informiert, daß eine gewisse Wasja mich suchte; nur an den Familiennamen konnte sie sich nicht mehr erinnern, weil der Leiter der Zensur-Abteilung diesen Brief vernichtet hatte. Aber ich wußte genau, wer mich da suchte, und war sehr froh darüber, daß ASJA mich nicht vergessen hatte, denn sie war es doch die mich da suchte!

So kam es, daß sich das letzte Jahr meines Leidensweges für mich als das erfolgreichste all dieser Jahre erwies.

FREIGELASSEN UND VERURTEILT . MEIN ERSTER TAG IN FREIHEIT

Am 18. Juni 1954 wurde ich „wegen vollständiger Verbüßung meiner Haftstrafe“ in die Freiheit entlassen. Bei der Freilassung verkündete man mir, daß ich auf Beschluß des Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR Molotow * (Anmerkung der Übersetzerin: gemeint ist der Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR vom 21.02.1948) „zur ewigen Ansiedlung nach Norilsk verschickt“ werden sollte und verpflichtet war, einmal im Monat zur Registrierung ins Kontor des NKWD ** (Anmerkung der Übersetzerin: Sonder-Kommandantur, im hier vorliegenden Fall die Norilsker Stadtabteilung des Ministeriums für Innere Angelegenheiten). Ich unterschrieb, daß ich das zur Kenntnis genommen hatte. Das war also meine Freiheit. Aber du kannst eben nichts machen; immerhin war es besser, als weiter hinter Stacheldraht zu leben.

Vor Unruhe und Aufregung konnte ich mich nicht mehr an alle Einzelheiten dieser Freilassung erinnern und kann deswegen keine genaue Beschreibung dazu abgeben. Ich weiß aber noch, daß ich mit einem LKW zur NKWD-Verwaltung *** (Anmerkung der Übersetzerin: städtische Abteilung des Ministeriums für Innere Angelegenheiten) in Norilsk gebracht wurde, und dort unterschrieb ich eine Menge Papiere, darunter auch den oben erwähnten Beschluß Molotows. Anschließend hob ich vom Konto alle meine Ersparnisse ab und trat bereits ohne Begleitung von Wachsoldaten auf die Straße hinaus.

Dort erwartete mich Alexej Akimow, mit dem ich in Medweschka gut bekannt gewesen war – so wurde auch das Lager genannt, in dem wir unsere Strafe verbüßt hatten. Er brachte mich zu sich nach Hause, dorthin, wo er sich mit seiner Mitbewohnerin zusammen ein Zimmer bei irgendeiner Witwe genommen hatte.

Zu Ehren meiner Freilassung bereiteten sie ein bescheidenes Mittagessen, aber mit einer großen Menge Wodka.

So endeten diese Tage, die so aufregend waren, daß ich noch nicht einmal betrunken wurde, obwohl ich eine ordentliche Menge Wodka trank.

Bereits am nächsten Tag schrieb ich einen Brief an den Vater, um ihn über meine Freilassung zu informieren. Ich schrieb auch an Asjas Vater mit der Bitte, ihr den Brief auszuhändigen. Mit Ungeduld erwartete ich ihre Antwort, und als dies dann kam, freute ich mich riesig. Sie schrieb, daß sie sich bereits ein Jahr in Freiheit befand, daß man sie aufgrund einer Amnestie entlassen und ihr einen Paß ausgestellt hatte. Und daß sie jetzt als Buchhalterin und Wirtschaftswissenschaftlerin in einer Sowchose arbeitete.

Bereits in meinem zweiten Brief wiederholte ich noch einmal das, was ich ihr bereits neun Jahre zuvor gesagt hatte: ich wollte, daß sie meine Frau würde, und wenn sie sich nicht davor fürchtete, mit mir das Schicksal eines Verbannten zu teilen, dann sollte sie ihre Arbeit kündigen und zu mir kommen. In ihrer Rückantwort ließ sie mich wissen, daß sie ihre Kündigung bereits beantragt hatte.

Ich zog von Alexejs Wohnung in die Wohnung eines anderen Bekannten um, der für drei Monate auf Urlaub fuhr. Endlich hatte ich einen Wohnraum für mich alleine.

Arbeit fand ich in jenem Bergwerk, wo auch unser Lager arbeitete, und zwar in der elektromechanischen Werkstatt, die von meinem guten freund, einem Russen aus Magnitogorsk, Nikolaj Pawlowitsch Pawlow, geleitet wurde, der zu jener Zeit noch Gefangener war.

Dieser Mann hatte ein sehr gutes Herz, eigentlich war er sogar viel zu gutmütig; er stellte mich ein und versprach mir, mir das Umspulen von Elektromotoren auf Wechsel- und Gleichstrom beizubringen. Mir ist stets angenehm in der Erinnerung geblieben, wie er mir geduldig sein Wissen vermittelte. Ihm habe ich es zu verdanken, daß dieser Beruf mir seitdem auch große Befriedigung verschafft.

TREFFEN MIT ASJA ZEHN JAHRE NACH DER TRENNUNG.

EIN EIGENES HEIM. MEIN ERSTER GEBURTSTAG IN FREIHEIT

Bereits im August klopfte Asja an die Tür meiner vorübergehenden Unterkunft. Meine abgemagerte, liebe, liebe Asja!

Sie war mit dem Flugzeug gekommen, aber ihre Sachen hatte sie mit dem Dampfer geschickt, der vier Tage später in Dudinka eintraf.

An jenem Tag bat ich von der Arbeit fernbleiben zu dürfen, und wir fuhren zusammen nach Dudinka. Wir fuhren mit dem Zug, schon auf normalen Schienen, in einem Passagierwaggon, und ich erzählte Asja, wie ich das erste Mal von Dudinka nach Norilsk gefahren war.

Wir bekamen die Sachen (einen Koffer und noch irgend etwas, an das ich mich nicht mehr erinnern kann) und fuhren wieder zurück. Obwohl wir bereits die zweite Nacht nicht geschlafen hatten, unterhielten wir uns unterwegs die ganze Zeit über und erzählten einander alles, was wir inzwischen durchgemacht hatten.

Aber schon stand auch der Winter vor der Tür. Auf meinen Rat hin fing Asja an als Kontrolleurin des Wasserturms im Schacht zu arbeiten.

Irgendwann gegen Ende August kehrte der Wohnungsinhaber aus dem Urlaub zurück. Wir mußten uns eine kümmerliche Ecke in einer „Holzbude“ nehmen – das ist so etwas ähnliches wie ein Gartenhäuschen, nur mit noch viel weniger Bequemlichkeiten. Die Leute, die uns dieses Eckchen zur Verfügung stellten, hielten in diesem Zimmer ein Ferkel. Das war überhaupt eine unvernünftige Familie: es verging kein Tag ohne Saufgelage und anschließender Schlägerei.

Und nirgends kannst du dich verstecken: die Bergwerksdirektion versprach immer wieder, eine Wohnung zu beschaffen, aber das war auch alles – nichts als leere Versprechungen.

Am 2. September fuhren wir mit dem Autobus zum Standesamt, um unsere bürgerliche Ehe registrieren zu lassen. Danach bezahlten wir 15 Rubel für die Ausstellung der Dokumente und traten mit unseren Trauzeugen und zwei Rubeln in der Tasche auf die Straße hinaus.

Wie sollten wir dieses Ereignis feiern, wenn es im Haus nichts weiter gab als Brot? Die Haus-wirtin gab zu ihren Glückwünschen noch einen Teller Borschtsch dazu, den wir mit großem Appetit aßen. Am nächsten Tag erhielt ich einen Vorschuß – den ersten Teil meines Monatslohns.

Gegen Ende September waren unserer verzweifelten Bemühungen von Erfolg gekrönt, und man stellte uns in einem Ziegelbau, zur Hälfte mit einer anderen Familie, ein Zimmer von etwa 16 qm zur Verfügung, mit einer Gemeinschaftsküche für drei Familien sowie gemeinsamer Toilettenbenutzung, ohne Badewanne.

Die Familie, die dieses Zimmer mit uns teilte, war auch ungefähr so wie wir. Der Mann, ein Finne aus Karelien, hatte zehn Jahre abgesessen, seine Frau sechs Jahre. Sie hatten bereits ein Kind, ein Mädchen von sechs Jahren. Wir lebten in Freundschaft zusammen und teilten miteinander, was wir konnten.

Papa schickte mir Geld für eine Nähmaschine. Ich kaufte eine Handnähmaschine und nähte alles, was man mir brachte, um etwas dazu zu verdienen. Und Asja war mir dabei behilflich.

Da unser Lohn ganz gut war, führten wir ein Sparbuch und begannen, einen Teil unseres Einkommens darauf anzulegen.

Und so leben wir in voller Eintracht und großer gegenseitiger Liebe – aber unser gemeinsamer Traum war – ein Kind. Mit Hilfe eines bekannten Arztes begibt Asja sich zur Untersuchung und zur Teilnahme an einem Kursus über Unfruchtbarkeit ins städtische Krankenhaus.

Und fast täglich, ohne Rücksicht auf das Wette, legte ich die 10 km zwischen unserer Siedlung in Medweschka und dem Krankenhaus zurück, um Asja zu sehen und mit ihr, wenn auch nur durch eine verglaste Tür hindurch, zu sprechen; und dann ging ich die selben 10 km wieder zurück. Aber auf dem Rückweg gelang es mir häufig, von einem Auto mitgenommen zu werden, welches die Arbeiter der zweiten Schicht zu unserem Bergwerk brachte. Irgendwann in der zweiten Woche wurde Asja entlassen. Wie war ich froh, daß wir wieder beisammen waren!

Es wurde Frühling. Wir begingen feierlich meinen Geburtstag. Ich lud viele Gäste ein. Alexej und viele andere Freunde kamen, der Wodka floß in Strömen, die Sektkorken knallten.

Der Tag verlief ganz fröhlich! Und im Mai sagte Asja mir, daß sie schwanger war. Ein Festtag nach dem anderen!

WIR DÜRFEN NACH POLEN FAHREN! DAS ERSTE TREFFEN MIT ASJAS ELTERN

Und damals im Mai erfuhr ich, daß ich die Erlaubnis zur Ausreise nach Polen beantragen konnte. Asja und ich beschlossen sofort, daß wir fortfahren würden, sofern sie uns beide ausreisen ließen.

Wir begaben uns zur NKWD-Verwaltung * (Anmerkung der Übersetzerin: Offenbar die städtische Abteilung des Ministeriums für Innere Angelegenheiten) und fragten dort, ob wir die Ausreise nach Polen beantragen konnten. Sie stellten nur eine einzige Frage: ob ich dort Verwandte hätte. Als ich ihnen sagte, daß mein Bruder, meine Oma, Tante und Onkel in Polen wohnten, versicherte der Offizier uns, daß unserem Plan dann nichts im Wege stünde.

Indessen erhielt ich einen Brief von meiner Kusine Bronislawa und ihrem Mann Franek Frantschuk sowie von meinem Bruder Sbyschek.

Asja und ich zählten unsere Ersparnisse zusammen und beschlossen im Urlaub zu ihren Eltern zu fahren. Ich erhielt vom NKWD die Erlaubnis, und im Juni fuhren wir auf einem luxuriösen Motorschiff, der „Matrosow“, in einer Kabine 1. Klasse, von Dudinka den Jenissej aufwärts bis nach Krasnojarsk. Asja bekamen die ersten Monate ihrer Schwangerschaft äußerst schlecht; sie mußte sich oft hinlegen, um sich auszuruhen. Und ich weidete mich am Anblick der Natur und der Erhabenheit des Jenissej, dem zweitgrößten sibirischen Fluß nach der Lena. Die Entfernung betrug mehr als 2000 km (Anmerkung der Übersetzerin: 1989 km), die wir in fünf Tagen und Nächten zurücklegten. In Krasnojarsk stiegen wir auf ein anderes Motorschiff um, mit dem wir bis zur Anlegestelle Nowosjolowo fuhren.

Dort holten uns Asjas Vater und ihre Schwester ab. Bis zu ihnen nach Hause waren es noch viele Kilometer. Dort begrüßte uns Asjas Mutter. Aber es war nicht ihre leibliche Mutter, denn die richtige Mutter und ihren Bruder hatte Asja bereits in ihrer Kindheit verloren.

Der Vater war jetzt in zweiter Ehe verheiratet, und diese Frau hatte ihm vier Mädchen geboren. Die älteste hieß Walja, die zweite Galina, die dritte Tamara und die jüngste Nadja.

In dem kleinen Häuschen gab es zwei Zimmer mit drei kleinen Fenstern und ganz schlichten Möbeln – ein sehr bescheidenes Haus. In einer Ecke des Zimmers stand eine Ikone der Mutter Gottes, ein nicht sehr großer Tisch und ein paar Bänkchen, ein großer Ofen, in dem das Essen zubereitet wurde und auf dem man sich zum Schlafen niederlegte. Und das war alles, was es in diesem Haus gab.

Asjas Vater, Iwan Michailowitsch Micheew, wurde 1896 geboren. Im ersten Weltkrieg wurde ihm das Georgskreuz 4. Klasse verliehen; er war auf polnischem Gebiet an der Front gewesen: in Lodz / Pommern. Nach der Revolution kehrte er in seine Heimat Sibirien zurück, wo sein Vater eine ziemlich große Wirtschaft unterhielt. Er heiratete Marjana Katzina. Sie hatten zwei Kinder – Asja und Sohn Viktor. Dann starb Asjas Mutter, der Vater wurde Witwer und heiratete Alexandra.

Während der Kollektivierung der Landwirtschaft wurde er Opfer der „Entkulakisierung“. Man sperrte ihn ein und verschleppte seine Ehefrau mit den Waisen aus dem geräumigen Elternhaus in alle vier Himmelsrichtungen. Sie hausten in einem Baderaum, danach in verschiedenen Scheunen. Viktor, Asjas Bruder, stirbt. Irgendein Bekannter von der Miliz teilt dem Vater unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit, daß man ihn zur Erschießung führen wird. Er flieht aus der Etappe, kehrt nach Hause zurück und bringt seine Familie an einen anderen Ort, etwa 40 km vom Heimatdorf entfernt. Dort gräbt er für sich, seine Frau und das Töchterchen eine Erdhütte aus. In dieser Erdhöhle werden nach verschiedensten Widrigkeiten des Schicksals auch dire vier Schwestern Asjas geboren.

Er war Saisonarbeiter, baute Flöße und brachte diese zur Holzfabrik nach Krasnojarsk,

300 km von Nowosjolowo entfernt. Im Winter arbeitete er als Zimmermann, wenn es gelungen war, Aufträge zu finden. Danach, vor dem Krieg, arbeitete er in einem Getreidespeicher.

Asja beendete zehn Schulklassen und erhielt ihr Reifezeugnis. Es gab zu wenig Lehrkräfte, und so wurde sie als Lehrerin an der Grundschule angenommen. Aber es war unmöglich, von dem niedrigen Lehrerinnengehalt den Lebensunterhalt zu bestreiten; deswegen ging sie als Wiegemeisterin zur „Sagotserno“ (Anmerkung der Übersetzerin: Getreidebeschaffung), wohin das Getreide aus der Kolchose und der Sowchose gebracht wurde. Der Direktor, ein Jude, war nach Kräften bemüht davon zu stehlen und sorgte so für den Lebensunterhalt befreundeter Familien und ihm nützlicher Leute, wobei er die entstandenen Fehlmengen einigen ortsansässigen Mädchen und auch Asja anhängte, die keinerlei Verdacht schöpfte.

Es dauerte auch gar nicht lange und das NKWD legte eine Akte darünber an.

Zu jener Zeit waren neben den Gerichtsverfahren gegen Politische auch Gruppenanklagen aufgrund von Wirtschaftsvergehen in Mode, und da beschloß man einen Aufsehen erregenden Prozeß gegen Diebe zu veranstalten. Asja und die anderen Mädchen wurden auf Beschluß des Obersten Sowjet vom 7. August 1938 verurteilt. Diese Entscheidung wurde im Volksmund auch „sieben-acht“ * (Anmerkung der Übersetzerin: gemeint ist das „Gesetz“ vom 07.08.1932, auch bekannt geworden als „Gesetz über die 3 Ähren“). Das Urteil lautete für alle gleich: 10 Jahre Lagerhaft. Das ist im großen und ganzen die Geschichte meiner Ehefrau und ihrer Familie.

Aber kehren wir zum Jahr 1955 zurück, als Asja und ich in Urlaub gefahren waren. Der Vater, die Mutter und Asjas Schwestern, einfache und ordentliche Leute, nahmen uns mit offenen Armen auf. Sie bemühten sich, uns mit schmackhaftem Essen zu bewirten, obwohl sie selbst äußerst bescheiden lebten. Als wir ihnen erzählten, daß Asja ein Kind erwartete und daß wir uns entschieden hatten nach Polen zu gehen, segneten Vater und Mutter uns und wünschten uns von ganzem Herzen Glück und Erfolg.

DIE ANKUNFT MEINES PAPAS IN NOWOSJOLOWO. UNSERE RÜCKKEHR NACH NORILSK

Inzwischen hatte ich meinen Vater in Lwow angerufen und ihn eingeladen, uns hier in Sibirien einmal zu besuchen. Ein paar Tage später holte ich Papa vom Krasnojarsker Bahnhof ab. Er war mit dem Zug gekommen.

Wir hatten uns schon fünfzehn Jahre nicht mehr gesehen, und nach den ersten Umarmungen fand unsere Unterhaltung kein Ende mehr. Wir bestiegen den Dampfer und erreichten nach 24 Stunden die Anlegestelle Nowosjolowo, wo wir an Land gingen. Papa mochte meine Asja sehr. Auch die Gastfreundschaft ihrer Eltern gefiel ihm, aber er war entsetzt, unter was für Bedingungen und Umständen sie dort lebten. In Wolkow war es ihnen vor vierzig Jahren schon so schlecht gegangen, und nun ganz zu schweigen von ihrem Leben in Lwow.

Asjas Eltern bereiteten uns einen feierlichen Abschied und luden zahlreiche Nachbarn ein. Und nun ging unser Urlaub bereits dem Ende zu.

And da ist auch schon der Abschied herangerückt, mit Tränen – wie das immer so üblich ist. Sie begleitetetn uns zur Anlegestelle. Wir bestiegen den Dampfer und fuhren wieder zurück nach Krasnojarsk. Dort brachten wir Papa zum Bahnhof und setzten ihn in den Zug nach Moskau, und wir selber kauften für uns wieder Fahrkarten für die „Matrosow“, in einer Luxus-Kabine, und schwammen nach Dudinka.

Ich will jetzt nicht diese Fahrt beschreiben: es gab dort so viele Eindrücke, so viele herrliche Landschaften, daß es sich lohnen würde, ihnen ein gesondertes Kapitel zu widmen – aber das mache ich ein anderes Mal.

Nun, da sind wir in Norilsk angekommen, wo uns ebenfalls die Freunde herzlich empfangen.

DER FORTGANG AUS SIBIRIEN – GANZ ANDERS ALS DIE HINFAHRT.

LWOW – BEGENUNG MIT DEM VATER, DANN DER GRENZÜBERTRITT UND DIE ANKUNFT IN POLEN

Wir gingen wieder zur Arbeit, denn wir hatten alles ausgegeben, was wir innerhalb eines Jahres zusammengespart hatten. Erneut fingen wir an, Geld zurückzulegen, und als uns mitgeteilt wurde, daß wir uns zur Ausreise vorbereiten sollten, packten wir eilig unsere Sachen, nur das Allernötigste, erhielten im Bergwerk unsere Entlassungspapiere, gaben die

Wohnung zurück (ab Mai hatten wir bereits ein separates Zimmer besessen). Und mit dem ersten Flugzeug flogen wir nach Krasnojarsk, damit unser Kind, Gott bewahre, bloß nicht in Norilsk geboren wurde.

All das ging, wie denn auch sonst, unter der Überwachung des NKWD vonstatten, jetzt allerdings ohne Begleitsoldaten.

In Krasnojarsk wurden wir in einem NKWD-Hotel untergebracht, gegenüber von jenem Sonder-Gefängnis, wo ich gesessen hatte, nachdem man mir 1943 eine „Strafakte zusammengenäht“ hatte. Aber reden wir nicht davon.

Asja ist schon ganz rund, die Geburt konnte jeden Augenblick losgehen. Wir beteten, daß dies nicht mehr in Rußland geschah.

Am 16. Dezember setzte sich der Zug in Bewegung. In den beheizten Passagierwaggons, mit allen Bequemlichkeiten ausgestattet, fahren wir nach Polen. Auf den großen Bahnhöfen bringt man uns sehr gute Verpflegung und soviel Brot wie wir wollen. Nicht ein einziges Mal sahen wir dort solche Heringe, wie ich ihnen unablässig auf der Fahrt nach Sibirien begegnet war.

Ich kann mich nicht daran erinnern, an welchem Tag genau wir in Moskau ankamen, aber wahrscheinlich war es schon ziemlich gegen Ende der gesamten Reise. In Moskau wurden Asja und ich zum Obersten des NKWD vorgeladen, der uns noch einmal fragte, ob wir wirklich nach Polen und welche Staatsbürgerschaft wir annehmen wollten. Asja antwortete, daß sie die polnische annehmen werde, da auch ihr Mann dies wünschte.

Er sagte mir, daß ich nicht die Kränkungen von Seiten der sowjetischen Regierung mit mir herumtragen sollte – an allem wäre ein historischer Irrtum schuld. Ich antwortete, daß ich keinerlei Ansprüche hegte und verstehen würde, was das für eine Situation war. Was konnte ich schon sagen, wo ich mich doch schon so lange auf dem Territorium der UdSSR befunden hatte? Und in meiner Seele regten sich trotzdem Zweifel, ob man jenem Oberst wirklich trauen konnte.

Als der Zug nach Kiew abbog begriff ich, daß wir durch Lwow fahren wurden, und ich irrte mich nicht. In Ternopol stieg ich in den Schnellzug um und kam zwei Stunden früher in Lwow an. Ich nahm ein Taxi und war bereits wenige Minuten spätere in der Wohnung meines Vaters.

Freude, Tränen; sie hatten zu Weihnachten eine Tanne geschmückt ... Aber zum Erzählen war keine Zeit. Wir fahren zum Bahnhof und warten auf den Zug, mit dem Asja ankommt.

Wieder eine äußerst freudige Begegnung. Die Unterhaltung wechselt von einem Thema zum nächsten, wird gelegentlich jäh durch Ratschläge, gute Wünsche und ähnliches unterbrochen. Wir verabschieden uns und nähern uns gegen Abend der Grenze in Mostiski. Noch einmal werden die Papiere kontrolliert, und an einem wunderbar warmen Morgen überqueren wir die Grenze. Wir fahren durch Przemysl, und steigen an der Station Schurawitza im klaren Sonnenschein, bei einer Temperatur von über null Grad, in polnische Waggons um. Der Kalender zeigt den 28. Dezember 1955.

 

Nach der Repatriierung ließ Jan Minorowitsch sich in Schlesien nieder, in Goschow Welkopolskom (Goschuw Wlkp.), wo er auch heute noch mit seiner Ehefrau, den Kindern und Enkeln lebt. Er wurde aufgrund der „Strafsache“ von 1943 am 29.07.1961 vom Gerichtskollegium für Strafrechtsangelegenheiten des Obersten Gerichts der UdSSR rehabilitiert. Seit 1990 führt er den Vorsitz über die städtische Organisation „Bund der Sibirier“.


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