Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

Maks Minz: „Es ist nicht leicht, die schwere Last zu tragen; vieles übersteigt einfach deine Kräfte ...“

Brief von der Front an die Verwandten

31.07.41
Meine Lieben!

Ich bin schon nicht mehr in der Lage, dieses quälende Warten auf Nachrichten von irgendjemandem zu ertragen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sehr man an der Front of Briefe von seinen Lieben wartet, und immerhin habe ich noch keinen einzigen bekommen. Das ist für mich noch viel schlimmer, weil ich nicht weiß, wo Telja sich im Augenblick befindet und ob sie im Kriegskommissariat Geld erhält. Das Geld habe ich an einen Empfänger in Moskau angewiesen, aber vielleicht ist sie gerade in Poltawa; dann sitzt sie ohne Geld da.

Ich weiß, was bei euch los ist, daß es auf Moskau vier Angriffe gegeben hat; ich bin sehr beunruhigt über die Folgen. Wie geht es Mama, Papa, Telja, Lewotschka, meinem Söhnchen?

Vor ein paar Tagen habe ich euch und auch nach Poltawa erneut Telegramme mit der Rückadresse „postlagernd“geschickt. Einer der nach Gomel gefahren ist, hat sie mitgenommen; er sollte gleich eine Antwort mitbringen, aber heute ist er zurückgekommen und hat nichts in der Hand gehabt. Sicher könnt ihr euch vorstellen, wie mir zumute ist. Jedesmal schreibe ich an zwei Adressen gleichzeitig.

Bei uns ist alles in Ordnung. Ich hoffe, daß wir uns bald wiedersehen, - der faschistische Satan wird bei uns sein Graben finden. Tag für Tag werfen sie Flugblätter ab, die sich gegen die Kommunisten und „Schwächlinge“ richten, und die Unverschämtheit dieser Flugblätter ist beispiellos.

Habt ihr die 1.100 Rubel erhalten?

Liebe Grüßen an alle.Sagt allen, daß ich gewissenhaft meine Pflicht vor der Heimat erfülle.

Bleibt gesund. Küßt Lewotschka tausendmal von mir.

Euer Sohn, Mann und Vater Maks.

_____________________________

Bei der Veröffentlichung dieser Materialien wurden Stil und Form der Originaltexte weitestgehend beibehalten. Geringfügige redaktionelle Korrekturen wurden lediglich an den Stellen vorgenommen, deren Sinn sonst vom Leser nicht richtig verstanden werden könnte. Fälle unterschiedlicher Aussprache von Eigennamen wurden von mir durch entsprechende Fußnoten ergänzt. (Anm. d. Red.).


Brief an die Verwandten auf dem Weg in Stalins Lager

28.07.48

Meine liebe Mama, Papa, Lida, Sarra, Lewotschka und all meine lieben Angehörigen und Nahestehenden!

Ich schreibe zum vierten Mal und werde den Brief nachher durch die Ritze in der Waggontür schieben, in der Hoffnung, daß irgendjemand ihn aufhebt und in den Postkasten wirft.

Wir nähern uns Krasnojarsk, von wo aus sie uns aller Wahrscheinlichkeit nach nach Norilsk schicken werden, das liegt den jenisej noch weiter flußabwärts, im Norden.

Dieses Jahr, das kann ich ohne weiteres sagen, war eines der schwierigsten in meinem Leben, besonders in seelischer Hinsicht. Ich hätte niemals geglaubt, daß man mich verhaften würde, denn ich habe keinerlei Verbrechen begangen.

Lewotschka, du sollst wissen, daß dein Vater niemals irgendein Verbrechen begangen hat und daß sein Gewissen rein ist. Als ich im Gefängnis saß, war mir so furchtbar schwer ums Herz, daß ich meinem Leben schon selbst ein Ende setzen, mir mit den Zähnen die Venen durchbeißen wollte, aber sie haben mich dabei gestört, und jetzt bin ich froh, daß mein Versuch nicht von Erfolg gekrönt war. Um euretwillen werde ich leben, um meines Sohnes willen. Er wird sich selbst überzeugen können, wer sein vater war. Zweimal trat ich für lange Zeit in einen Hungerstreik – micht hat kein Gericht verurteilt, sondern eine Sondertrojka in meiner Abwesenheit. Jetzt fühle ich mich gut.

Lidotschka, du hast die Freiheit zu tun und zu lassen, was du willst, aber ich bitte dich darum, noch ein wenig zu warten; diesbezüglich habe ich dir gegenüber keine Zweifel. Wenn deine Entschlußkraft ausreicht, dann kannst du zu mir kommen. Ich werde von Ort und Stelle einen Brief schreiben. Falls die Möglichkeit besteht, schickt mir nach Erhalt des Briefes Zwiebeln, Knoblauch und Fleisch, aber nicht so viel, daß ihr dabei selbst zu Schaden kommt.

Macht euch bitte keine Sorgen. Alles wird gut. Alles, was geschieht, wird zum besten geraten. Ich bin sehr beunruhigt über Mamas Verfassung, denn ich weiß, wie es um ihre Gesundheit bestellt ist. Wie gern würde ich euch alle wiedersehen! Mama, leb in der Hofnung, daß du mich noch einmal wiedersiehst!

Ich danke euch für die Sendungen und das Geld.

Wartet auf meinen Brief aus dem Lager.

Bleibt gesund. Grüße an alle Verwandten und Bekannten.

Euer Sohn, Ehemann, Vater und Bruder Maks.

Brief an einen Kriegskameraden

1957

Lieber Henri!

Viel Wasser ist den Berg hinunter gelaufen, seit wir beide uns getrennt haben. Unsere letzte Begegnung hat sich sehr tief in mein Gedächtnis eingeprägt, und dir ist es wahrscheinlich genauso ergangen, obwohl wir uns gerade bei diesem Zusammentreffen voneinander losgesagt haben. Wir haben das getan, damit unsere Freundschaft noch fester würde. Wenn du dich noch erinnerst, fand dies im Rahmen einer Gegenüberstellung bei der Gestapo in Wolfenbüttel, in Deutschland, statt. Scheinabr sind ähnliche Umstände in einer wahren Freundschaft einmalig, wenn Freunde einander begegnen, als wären sie einander völlig fremd, wenn das Verlangen aneinander um den Hals zu fallen im Keim erstickt wird, bloß um eine allgemein wichtige Sache zu retten, für die man als Freunde gekämpft hat. Und bei uns beiden gab es etwas zu retten, und die Sache, die wir nicht in Gefahr bringen durften, war so eine allgemein wichtige – trotz der Tatsache, daß du in Belgien geboren bist und ich in Rußland. Hätte ich nicht so ein großes Glück an der Front des Großen Vaterländischen Krieges gehabt, in dem Sinne, daß ich bei den Faschisten in Gefangenschaft geriet, dann bin ich der Meinung, daß mir das Schicksal im weiteren Verlauf eigentlich einen sehr groén Dienst erwies, und zwar deswegen, weil unsere Wege sich kreuzten. Und nachdem wir einander begenet waren, konnten wir einfach nicht wieder auseinander gehen, denn die Liebe zur Heimat und der Haß auf den Feind brachten uns auf den Weg des Kampfes gegen den Faschismus. Auf diesem Weg trafen wir so viele Freunde aller Nationalitäten, daß unser Untergrundkampf gegen den Feind auf seinem Boden, hinter seinen Schlössern und Riegeln und hinter seinem Stacheldraht Früchte zu tragen begann, auf die alle diejenigen stolz sein könnten, die an internationale Freundschaftglauben - und an die Kraft der Vereinigung von Menschen mit gutem Willen. Es kommt mir so vor, als ob unser internatinales Fallingbosteler Untergrund-Komitee für den Kampf gegen den Faschismus dies in hinreichendem Maße deutlich gemacht hat.

Lieber Freund, ich will dich nicht an etwas erinnern, das auch für dich selbst unvergeßlich bleibt. Ich will einfach für den Anfang, sozusagen in dem ich die Luft schlucke, die wir damals einatmeten, in aller Kürze mitteilen, was von dem Augenblicl an geschah, als Adam Sten und ich auf beschluß des internatonalen Komitees aus der faschistischen Gefangenschaft fliehen sollten – als Serben, die aufgrund von Krankheit aus dem Lager entlassen worden waren. Wie du weißt, konnten solche „wegen Krankheit Entlassenen“ in Deutschland nur in die Zone des Stalag verlegt werden, aus dem sie zur zivilen Ansiedlung in die dem betreffenden Stalag unterstellten Siedlungen entlassen worden waren. Nach deinem bemerkenswerten Plan sollten die „Serben“ Milan Sawitsch (ich) und Mirko (Adam Sten) mit Erlaubnis des Stalags ihre Brüder suchen, die sich in irgendeinem Arbeitskommando befanden. Bis zur jugoslawischen Grenze gab es sieben Stalag-Zonen. Die Karte, mit der du uns ausgerüstet und in die du alle Grenzlinien dieser Zonen markiert hattest, war in diesem Punkt erstaunlich genau.

Alle gefälschten Dokumente für jede einzelne Zone und auch die Bescheinigungen über die Freilassung wegen Krankheit waren technisch dermaßen einwandfrei, daß sie den Zerreißproben zahlreicher Überprüfungen in sieben Lagerzonen tatsächlich standhielten. Drücke in meinem Namen die Hand des Kameraden, der sie angefertigt hat, dalls er noch gesund und am Leben ist, und teile mir seine Adresse mit. Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich sogar seinen Vornamen vergessen habe. Jener kleine Fehler in den von ihm gefälschten Dokumenten, der zu den traurigen Folgen führte, hängt nicht mit seiner meisterlichen Arbeit zusammen. Ich wiederhole, daß kein einziges Dienstsiegel, kein einziger Stempel auf allen Papieren bei den Kontrollen auch nur den geringsten Verdacht hervorrief.

Der Fehler, den wir bei der Ausfertigung der Dokumente zuließen, wäre sogar lachhaft gewesen, wenn wir dafür nicht so teuer hätten bezahlen müssen. Aber damals war es überhaupt nicht lustig ... Jetzt denke ich mit einem gewissen Humor daran zurück, daß nicht wir an dem Fehler schuld waren, sondern die Deutschen selbst, die die Tradition verletzten, von der wir fest geglaubten, dass sie sich daran halten würden und nach der wir dann auch unsere falschen Papiere ausfüllten. Wenn du dich noch daran erinnerst, daß man in jedem Ausweis, der immer nur für ein einziges Stalag gültig war, die genaue Anschrift des neuen Wohnortes des aus dem Lager „in die Freiheit Entlassenen“ angeben werden mußte. Die Adresse hatten wir natürlich aus der Luft gegriffen, aber unter Berücksichtigung des Umstandes, daß in Deutschland bei jedem Entstehen einer neuen Stadt sogleich auch eine Bahnhofstraße benannt wurde, machten wir uns dies, wie du weißt, auch für diese Adressen zunutze. Um die Anschriften etwas vielfältiger zu gestalten, benutzten wir auch die „Hitlerstraße“, mit der mit dem Moment von Hitlers Machtergreifung ebenfalls keine Stadt auskam. Auch das war noch etwas eintönig, konnte jedoch keinen Verdacht hervorufen, weil in jeder Stalag-Zone lediglich eine Adresse auftauchte. Und die Eintönigkeit der ausgedachten Straßen hätte einem nur dann auffallen können, wenn wir bereits in einer der ersten Lagerzonen aufgegriffen worden wären und man alle anderen Papiere, die für die nachfolgenden Zonen vorbereitet worden waren, bei der Durchsuchung gefunden hätte; aber bei einem Mißerfolg wäre das so oder so ohne Bedutung gewesen. Und da, lieber Henri, änderten die Deutschen zu unserem Unglück plötzlich ihre Tradition für eines ihrer Städtchen: die Stadt gab es wohl, aber es existierte dort leider keine Bahnhofstraße.

Das Vorhandensein zweier „Serben“, die in dieser Straße wohnten, und das gleichzeitige Fehlen der Straße an sich mußten natürlich bei den Polizeileuten das ganz natürlicheVerlangen hervorrufen, die Gründe für einen derart merkwürdigen Widerspruch herauszufinden ... Und alles weitere ist dann so traurig und eintönig wie das eintönige Gefängnis, die deutschen Fäuste und die deutschen, mit Eisen beschlagenen Stiefel. Unser Weg bis zur Gegenüberstellung mit dir führte uns über das Straflager in Würzburg, die Gefängnisse in Nürnberg und Bayreuth, das Konzentrationslager in Flossenbürg, ein Straflager in Weitenstadt und schließlich das Gefängnis in der Stadt Wolfenbüttel, wo wir beide unsere allerletzte Begegnung hatten, an die wir mit Bitterkeit zurückdenken, weil wir einander mit fremden Augen ansahen, als ob wir uns nie zuvor gesehen hätten; doch zugleich ist die Erinnerung an diese Begegnung auch eine frohe, eine erfreuliche, denn gerade sie hat bewiesen, wie viel uns unsere Sache wert war und – wieviel wir einander wert waren.

Einstweilen will ich dir nicht von unseren russischen Untergrund-Kameraden berichten, denn ich weiß nicht, an wen du dich noch erinnern kannst und über wen de etwas wissen möchtest. Sobald du also selber über jemanden nachfragst, werde ich dir schreiben, wer am Leben geblieben ist und wo er jetzt wohnt. Sehr herzlich möchte ich dich bitten, mich über das Schicksal von Marcel und seinen Kameraden zu informieren, der die Dokumente so meisterlich erstellt hat, die es uns gestatteten, völlig ungehindert sechs Stalag-Zonen im faschistischen Deutschland zu passieren.

Hast du in deiner Heimat oder hat vielleicht sonst jemand von den französischen Kameraden die Aufzeichnungen über die Arbeit des internationalen Untergrund-Komitees oder andere Dokumente veröffentlicht? Ich hoffe, daß du mir darüber etwas schreibst.

Über welche Materialien und Papiere aus der betreffenden Zeit verfügst du? Schreib mir auch, was aus unseren allerletzten Flugblättern geworden ist.

Schreib mr auch ein wenig genauer, wie sich die Aktivitäten des Komitees nach meiner Flucht entwickelt haben und was mit dir nach unserer Gegenüberstellung geschehen ist.

Ich und meine Kameraden werden mit Ungeduld auf deine Antwort warten.

Meine Anschrift lautet: Moskau-Stadt, 248, T. Schewtschenko-Kai, 3, Wohnung 22, Maks Grigorewitsch Minz. Wundere dich nicht, daß ich nicht Minakow heiße. Du bist den Gefangenen-Kameraden ja auch besser unter dem Namen Pit bekannt – und nicht Henri.

Kräftig drücke ich deine Hand. Dein Maks. Richte liebe Grüße an alle aus, die sich noch an mich erinnern können.

***

Es heißt, dass man den eigenen Zahnschmerz niemals als Unglück der gesamten menschheit ansehen darf. Aber wenn allen die Zähne wehtun, oder zumindest sehr vielen, dann ist es schon schwer zu sagen, ob man diesen Zahnschmerz in stolzer Einsamkeit ertragen soll oder nicht – genauso schwer ist es, jemanden davon zu überzeugen, dass ein Schmerzensschrei das Leiden der anderen leichter macht.

Der Schmerz, über den ich hier nach langem Schwanken, nach langer Unentschlossenheit erzählen will, wurde mir in der Hitlerschen Gefangenschaft verursacht – der Schmerz ist so unermeßlich groß, dass in mir auf immer und ewig jegliche Lebensfreude und jeglicher Sonnenschein erloschen sind, und selbst wenn ich mich gelegentlich doch einmal an ihnen erfreuen kann, dann auch nur äußerlich, denn mein Körper und meine Seele sind nicht mehr in der Lage sich an den alltäglichen Daseinsfreuden zu ergötzen: es ist für sie unerträglich.

Ich bin mir vollständig darüber im klaren, dass mein Los nicht schrecklicher war, als das Los von hundertausend anderen russischen Kriegsgefangenen auch, und die Leiden und Qualen, die ich ertrug, entsprachen dem Schicksal vieler Menschen, so dass es sehr schwierig ist jetzt darüber zu berichten, nachdem die Welt die ganze furchtbare und schändliche Wahrheit über den Alptraum des Faschismus bereits kennt. Der Abgrund des Leidens und des Kummers, in den das Hitler-Regime Millionen Menschen hinabstieß und wohin die zutiefst erregte Menschheit nach der Vernichtung mit Schrecken blickte, hat die Nerven und die Fähigkeit Gefühle zu zeigen dermaßen abgestumpft, dass meine Erzählung einfach zu spät kommt. Und trotzdem habe ich, wie ich bereits erwähnte, nach langem Zögern doch beschlossen damit zu beginnen.

Ich weiß, es gibt Menschen mit legendärer Furchtlosigkeit und Tapferkeit, es exisitieren Willenskraft und Durchhaltevermögen, über die man sich nur ehrfürchtig wundern kann, aber ich will hier vom ganz gewöhnlichen Los eines ganz gewöhnlichen sowjetischen Offiziers und Menschen erzählen, was mir nicht weniger notwendig und wichtig erscheint, dem unsägliches Leid widerfuhr und der den Schmerz nicht immer zu ertragen vermochte.

Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich nach einem weiteren Fluchtversuch, dem seinerzeit geltenden Reglement entsprechend, hingerichtet werden sollte. Ich bekam 10 Schläge mit der Peitsche. Sie sagten, dass man ins Peitschenende Bleikugeln eingearbeitet hätte und dass der Henker ein großartiger Meister seins Fachs wäre. Nachdem manmir die Hosen heruntergezogenhatte und ich den glühenden Schmerz des ersten Schlages verspürte und ihm standhielt ohne zu schreien, wartete ich mit panischer Angst und Abscheu auf den zweiten Hieb. Aber der Meister-Henker zögerte ihn hinaus, das Warten dauerte an und wurde endlos. Und da, als ich von der unsinnigen Anspannung des Wartens auf den nächsten Schlag und den durch ihn verursachten Schmerz müde geworden war und alles für den Bruchteil einer Sekunde schon ganz vergessen hatte, genau da erfolgte der zweite entsetzliche Hieb ... Und so setzte sich die Folter fort, jedes Mal, vor jedem Schlag dasselbe Warten, mit dem einzigenUnterschied, dass die innere Anspannung von Mal zu Mal zunahm, und es begann mir so vorzukommen, dass ich den Verstand verlieren würde und diesen schrecklichen Schmerz nicht mehr erwarten könnte, den ich mir nun sehnlichst wünschte.

Ich hielt es tatsächlich nicht aus, meine erschöpften und bis zum Zerreißen gespannten Nerven hielten nicht stand. Nach dem siebten Hieb entleerte sich spontan mein Darm ...

Mit grobem und zufrieden klingendem, schallendem Gelächter wurde die Exekution vorübergehend unterbrochen. Nur vorübergehend, denn die deutsche Gründlichkeit ist allgemein bekannt, und so durfte auch ich diesbezüglich keine Illusionen haben.

Ich möchte nicht über die endlosen Erniedrigungen und die Abscheu gegenüber der Welt sprechen, die so sinnlos gemein sein kann, nicht darüber, dass es unmöglich ist, mit seinem Verstand zu erfassen und zu begreifen, wie ein erwachsener, vernünftiger Mensch an einem anderen solche Gemeinheiten begehen kann, - darüber haben bereits ausgiebig und kunstvoll Menschen geschrieben, die, und vielleicht ist das auch ihr Glück, niemals geprügelt wurden und die möglicherweise gerade deshalb so klar und hochtrabend schönrednerisch darüber berichten, genau so, wie es demjenigen, der das durchgemacht hat, nicht gelingt, mit seinem von Schmerz und Wut getrübten Verstand Beispiele und Worte zu finden.

Also – für den gewöhnlichen Menschen ist das keine leichte Zerreißprobe, sie geht über seine Kräfte hinaus. Und dennoch wußte ich, auf was ich mich da einließ, als ich mich auf diese Flucht begab, und ich war mir auch im klaren darüber, dass dieser Versuch im Vergleich zu den Mißhandlungen, die später auf mein Los entfallen würden, wenn sie unsere antifaschistische Untergrundorganisation aufgedeckt hätten – ein kindliches Vergnügen darstellte. Und trotzdem tat ich es, ebenso wie es hunderte meiner Kameraden auch taten.

Seitdem sind ungefähr 16 Jahre vergangen. Viele Ereignisse und Eindrücke jener Zeit sind inzwischen aus dem Gedächtnis der Menschen entschwunden und es scheint, als ob es nutzlos und unnötig ist, erneut am verbliebenen Kummer und Schmerz dieser Jahre zu rühren. Die Menschen genießen den Frieden und die Ruhe, bewahren sie eifersüchtig und behutsam vor schwarzen Kräften, der Willkür und Gewalt des Krieges und vielleicht sollte man diese mühsam erworbene, wohlverdiente Ruhe auch gar nicht verletzen.

Aber später wollte ich wenigstens für mich selber Klarheit gewinnen über den Urspung des Gefühls, das die Menschen unterschiedlicher Überzeugungen, Temperamente und geistiger Horizonte miteinander vereint und was sie, diese oft schwachen und zu Heldentaten bereiten Menschen, dazu veranlaßt, Handlungen zu begehen, die ihre Kräfte bei weitem übersteigen und sie dazu antreibt, andere zu foltern und sogar ihren Tod inkauf zu nehmen.

Es ist sehr schwer, mit dieser Last herumzulaufen, vieles übersteigt deine Kräfte, und trotzdem kamst du nicht umhin, dir das aufzubürden, und schon kannst du es nicht mehrabschütteln; vielleicht ist das viel schlimmer, als mit vollem Verstand und voller Willenskraft eine gemeine Tat zu begehen. Und weil mein Schicksal in unsrer Zeit zum Schicksal vieler werden kann, will ich, ein ganz gewöhnlicher Mensch, den anderen ganz gewöhnlichen, nicht sonderlich bemerkenswerten Menschen davon erzählen, welches Los mir zuteil wurde, wie schwer mir ums Herz war und warum ich diesen Weg gegangen bin; und mir ist es nicht einmal in den Kopf gekommen, dass man auch ganz anders leben kann, obwohl es fast unmöglich ist, das Leben der unendlichen Anspannung aller seelischen und physischen Kräfte des Organismus, weit jenseits der Grenzen meiner Möglichkeiten, das Leben, in dem ich mich mehr als drei Jahre lang befand, zu beschreiben .

Oft denke ich daran, dass unter üppigen und beunruhigenden Phrasen, in die manche hervorragenden, außergewöhnlichen menschlichen Taten eingehüllt werden, letzt endlich gerade das Gefühl verborgen liegt, das bei London so feinfühlig in der Erzählung „Die Liebe zum Leben“ dargestellt wird, - Dinge, für die Wladimir Ilitsch Lenin eine große Schwäche hatte. Und wahrscheinlich ist diese vom Licht des menschlichen Verstandes erleuchtete Liebe auch jener Ursprung, mit dem die Menschheit ihr begeistertes Werk in den Stunden des Schaffens nährt und aus dem sie die Kraft zum Kampf gegen die tödliche Bedrohung für ihre Existenz gewinnt.

Ich überließ meine Seele auf dem Boden der Kloake des Hitler-Lagers nicht diesen aufkeimenden Gedankengängen, stellte meinen gehobenen Intellekt nicht dem himmelschreienden Idiotismus der Kerkermeister entgegen, sondern kämpfte und floh, als es notwendig wurde, das Leben für den weiteren Kampf zu retten, und jedesmal, wenn sie mich wieder aufgriffen, noch während der Mißhandlungen für das begangene „Verbrechen“, dachte ich mir bereits den Plan für die nächste Flucht aus, denn mein Gehirn verweigerte die Anerkennung des Rechts, dessen sie mich, aus welchem Grunde auch immer, enthoben hatten, des Rechts, das mir durch meine Geburt selbst die Möglichkeit gab, die freie Luft zu atmen und mich in den Strahlen der Sonne zu wärmen, und so hielt ich nicht mich für einen verbrecher, sondern meine gemeinen und feigen Feinde.

Und da, erschöpft nach etlichen Monaten des Aufenthalts im dunklen Kellerloch, stehe ich mit dem Gesicht zur Wand in dem grellen, vom strahlenden Augustsonnenschein überfluteten Zimemr, blicke auf die Sonnenflecken an der Wand und frohe mich grenzenlos über diesen Festtag.

Sie hatten mich zur Gegenüberstellung mit Henri (so nannten sie ihn im Lager; die richtige Aussprache ist aber Anri) Cornille – einem belgischen Kommunisten, Führer des antifaschistischen Untergrunds im ausländischen Teil unseres Lagers in Fallingbostel, in die Amtsstube des Ermittlungsrichters gebracht. Ich weiß, dass ich um nichts in der Welt zugeben werde ihn zu kennen, obwohl die gemeinsame Untergrundarbeit und die Freundschaft mit diesem hellblonden, hochgewachsenen Mann mit dem bezaubernden Lächeln, eine der wertvollsten Errungenschaften meines Lebens sind,und seine Achtung und Sympathie mir gegenüber sind der Gegenstand meines ganz besonderen Stolzes; ich weiß, dass auch er nicht aufgeben und „sich spalten“ wird, und das erfüllt mein Herz mit Glück und Frohsinn. Ich empfinde ungemeine Genugtuung aus dem Bewußtsein, dass unsere bornierten Feinde sich verrechnet haben: sie werden nichts bekommen, aber Henri und ich sehen einander und die Sonne.

Und deswegen feiert meine Seele einen Festtag, und in meinem Herzen herrscht reine Freude. Das Fenster in meinem Rücken ist weit geöffnet, und die warme, wohlriechende Luft erfüllt das ganze Zimmer, und wenngleich ich total geschwächt bin, es mir schwerfällt aufrecht zu stehen, berausche ich mich an diesen ungewöhnlichen Empfindungen nach der muffigen Feuchtigkeit des dunklen Kellerlochs. Hinter meinem Rücken ertönt das liebliche, sehr heimische Lachen der hübschen (aus irgeneinem Grunde erscheint mir all dies jetzt schmuck und schön) Dolmetscherin, und ich kehre wieder in die Realität zurück. Mich ergreift ein Gefühl schmerzlichen Mitleids, vermischt mit Abscheu und Ekel vor diesem schönen Scheusal, und mit großer Bitterkeit denke ich daran, daß so eine im Grunde genommen liebreizende Erscheinung als widerliche Zuträgerin dient und sich selbst noch nicht einmal Rechenschaft darüber ablegt. Jemand klopft an er Tür. Der Aufseher und noch eine weitere Person treten ein. Hinter meinem Rücken fühle ich Henri, von dem ich mich nun werde lossagen müssen, wo ich ihm doch eigentlich um den Hals fallen und diesen bemerkenswerten und einzigen Freund unter all den uns umgebenden Feinden mit Küssen bedecken möchte. Der plötzliche Ausruf „Umdrehen!“ läßt mich erzittern, aber ich mich wende mich nicht um, denn ich fühle, daß ich meine Gesichtsmuskeln in diesem Augenblick noch nicht richtig unter Kontrolle habe. Sie wiederholen die Anklage. Langsam drehe ich mich um und sehe unmittelbar vor mir Henri ...

***

Es begann im Morgengrauen des 7. November 1941, als deutsche Soldaten mich aus dem eisigen Wasser zogen. Das Flüßchen stellte die Grenzlinie zwischen den deutschen und unseren Verteidigunglinien dar. Zu dieser Grenze hatten wir uns im Verlaufe vieler Tage einen Weg aus der deutschen Umzingelung gebahnt; an den Rastplätzen phantasierten wir während der kurzen Schlafpausen in unseren Träumen darüber, denn es gab für uns keinen anderen Ausweg oder Weg, als um jeden Preis durchzukommen – unter dem Schutz der verblutenden Mutter Heimat, und sie zusammen mit dem ganzen Volk in der schweren Zeit tödlicher Gefahr zu verteidigen.

Schon beinahe am Ziel, während des Übersetzens über den Fluß Nara, brach ich, verwundet, im Eis ein, und während ich hilflos zappelte und verzweifelt versuchte mich selbst herauszuarbeiten, rückten Deutsch zu mir heran und schleppten mich zu ihrem Standort. Das geschah in der Nacht zum 7. November, in der Morgendämmerung unweit des Dorfes Taschirowo. Sie sperrten mich in einen Schuppen, in dem Menschen festgehalten wurden, die aus dem in Frontnähe gelegenen Landesstreifen stammten: Männer und Frauen, Soldaten und Zivilpersonen – alle zusammen.

Alles war äußerst gewöhnlich, einfach und zudem schrecklich bedrückend. Später, als mich das Leben in die gemeinsten und muffigsten Winkel warf, wurde ich oft von diesem merkwürdigen Gedanken heimgesucht – dem Gedanken daran, daß die allerschrecklichsten Dinge im Leben bis zur Lächerlichkeit alltäglich und einfach und wahrscheinlich gerade deshalb noch schlimmer als die Muster und Beispiele sind, die sich seit unserer Kindheit unter dem Einfluß der Bücher, die wir darüber lasen, formiert haben. Ich war beispielsweise immer sehr belustigt darüber, daß die Gitter und Riegel in den Gefängnissen extrem schlampig und schlecht verarbeitet sind (obwohl stets übermäßig dauerhaft), denn ich stellte mir diese Attribute der Gewalt irgendwie ganz anders vor, grausamer und imposanter. Und jetzt sah ich durch die Ritzen der Scheune, wie auf der Straße deutsche Soldaten gingen, wobei sie ihre alltäglichen Angelegenheiten erledigten; in der Scheune roch es genauso wir vordem, bevor die Deutschen kamen und vor meiner Gefangenschaft und vielleicht sogar immer, nach Heu, und die Scheunenwände, baufällig und dünn, erinnerten in nichts an die mit Moos bedeckten, steinernen Gefängnismauern, und alles war ganz gewöhnlich und einfach. Und deswegen paßt der Gedanke überhaupt nicht ins Bewußtsein hinein, daß du nicht mehr aufstehen, nicht mehr dahin gehen kannst, wohin es erforderlich ist, daß es nicht einmal eine Möglichkeit gibt, seine Leiden von den dumpfen schmerzenden Wunden zu lindern; und das schuf den Eindruck einer alptraumähnlichen Irrealität. Dieses Gefühl suchte mich auch später noch sehr häufig heim, und ich bib niemals in der Lage gewesen, mich daran zu gewöhnen und mich mit meinem Zustand abzufinden. Am Abend wurde ich zum Verhör gerufen.

Und hier war alles überhaupt nicht so, wie ich selbst es mir vorgestellt hatte und wie Menschen es sich vorstellen, die so etwas nicht am eigenen Leibe erfahren haben. Inmitten eines Zimmers, das offensichtlich irgendwann einmal bewohnt gewesen sein muß, jetzt jedoch ziemlich verwüstet war, stand ein großer Tisch, an dem deutsche Offiziere saßen und Wodka tranken. Ich wurde nach meinem Familiennamen (hier nannte ich zum ersten Mal einen ausgedachten Nachnamen, mit dem ich anschließend viele Jahre lebte), der Nummer meines Truppenteils usw. Aber sobald sie sich davon überzeugt hatten, daß der Truppenteil, in dem ich diente, schon längst nicht mehr existierte, brachten sie mich wieder zurück in die Scheune. Dort mußte ich einige Tage verbringen, in deren Verlauf wir weder Essen noch Wasser bekamen. Die Menschen, Männer wie Frauen, die sich viele Tage und Nächte in der Scheune befanden, ohne auch nur einmal hinaus zu dürfen, verwandelten sie in eine ekelerregenden Kloake. Auf Klopfen gegen die Wände antworteten die Wachsoldaten mit Schüssen ... Endlich, nachdem sechs Tage und Nächte vergangen waren, schickten sie mich ins Hinterland. Das war der Beginn endloser Etappen und Lageraufenthalte. Zuerst auf unserem Territorium, anschließend in Deutschland. Während dieser Zeit grassierten Ruhr und Typhus, und es ereigneten sich unzählige Todesfälle unter den Kameraden in meiner unmittelbaren Nähe in den „Kranken“-Baracken, aber die Zahl derer, die die Deutschen unterwegs erschossen, wenn sie nicht mehr weiter konnten, war noch größer. Die nervliche Anspannung war derart groß, daß ich sogar meine leichten, im weichen Fleisch des Oberschenkels und in der Schulter befindlichen Verwundungen vergaß, und diese unterwegs irgendwie ganz von allein vernarbten und verheilten. Schließlich befand ich mich in West-Deutschland.

Wir waren 137 Mann, als wir im Stalag 11-B bei der MIAG-Fabrik (Mühlenbau und Industrie Aktiengesellschaft) in der Stadt Braunschweig eintrafen. Es handelte sich um eine große Panzerfabrik, in der in zwei Schichten Menschen arbeiteten, die man aus allen Ecken Europas zusammengeholt hatte. Es gab etwa 1000 Russen, 500 Mann morgens und fast genauso viele abends marschierten täglich die fünf Kilometer vom Lager bis zu ihrem Arbeitsplatz.

Begriffe wie Humanität, Mitleid, internationale Normen, usw. ganz außer Acht lassend – von denen die Deutschen offenbar kein Verständnis hatten oder aus vielen Gründen auch gar nicht aufbringen wollten, deren Erforschung wir den Historikern überlassen wollen – war ich immer wieder über ihre Inkonsequenz hinsichtlich elementarer Zweckmäßigkeit und Eigennutz verwundert. EinennKriegsgefangenen oder einen beliebigen anderen Feind zur Arbeit tausende von Kilometern weit heranzuschaffen war für sie zweifellos nicht billig, und das wurde von ihnen auch mit berücksichtigt, denn der Mangel an Arbeitskräften war enorm hoch, aber gleichzeitig ergriffen sie keinerlei Maßnahmen, um diese Arbeitskraft zu erhalten. Stattdessen lieferten sie immer wieder neue Gefangenentransporte dort an, wo andere Menschen bereits durchn Hunger und Entbehrungen gestorben waren. In diesem Lager, in dem die Kriegsgefangenen zur Arbeit in einem der wichtigen Objekte bestimmt waren, bekamen sie Suppe aus ... Erbsenschoten. Sogar wir, die Hungrigen und bis zum Äußersten Erschöpften, konnte nicht eine einzige Schote herunterwürgen, und selbst wenn es möglich gewesen wäre sie zu schlucken, hätten sie den Organismus doch nicht ernährt. Und vor unseren Augen starben dutzende Menschen.

Woher nimmt der Mensch die Kraft sich täglich aufs neue von seiner Pritsche zu erheben, sich in Reih und Glied aufzustellen, diese Schreie zu hören, sich in hölzernen Schuhen, die in die mit Geschwüren übersäten Füße schnitten, durch die gesamte Stadt zu bewegen, den ganzen Tag unter der Kontrolle der Aufseher die angewiesene Arbeit zu verrichten, um dann am Abend erneut durch die ganze Stadt zurück ins Lager zu laufen? Und woher haben ebensolche Menschen, allerdings anderer Nationalität, diesen bestialischen Haß gegenüber diesen Sterbenden? Da geht unsere Formation an einer schon betagten Frau mit drei Kindern vorbei. Plötzlich drehen sich die Kinder auf Befehl ihrer Mutter alle mit dem Rücken zu uns, lassen die Hosen herunter und zeigen uns ihre nackten Hinterteile. Was hat diese Frau in dem Moment dazu veranlaßt? Und da – der junge Bursche, der plötzlich vom Bürgersteig losstürmt, seitlich auf die Kolonne zurennt und dem ersten Kriegsgefangenen, der ihm unter die Finger kommt, mehrmals mit der Faust ins Gesicht schlägt. Die Deutschen, die en wenig abseits stehen, und auch die Begleitwachen lachen sich freundschaftlich zu. Und wenn du das jeden Tag siehst, entsteht in deiner Seele ein ganzer Komplex von Gefühlen gegen Menschen, die nicht nur unmittelbar dich selbst mit Füßen treten, sondern gegen die ganze Welt, die all dem ruhig zusieht. nicht sofort dagegen einschreitet, um diesen Barbaren des 20. Jahrhunderts die Zügel anzulegen. Es entsteht der Eindruck, daß die Menschheit sich selbst plötzlich verloren hat und in einem Anfall von Wahnsinn in den Abgrund hineinfliegt.

In den ersten wenigen Wochen gewann ich die Gewißheit, daß das deutsche Volk eine Einheit ist, daß alle Deutschen sich ähneln, wie ein Tropfen Wasser dem anderen. Und dann war da plötzlich die Bekanntschaft mit einem jungen Dreher namens Helmut, die mich davon überzeugte, daß ich unrecht hatte. Es begann damit, daß er mich einmal, als ich mit einem schweren Rohling auf den Schultern an seiner Werkbank vorüberging, plötzlich anhielt und, noch einen schnellen Blick zur Seite werfend, mir ein Stück Brot zusteckte. Ich war schrecklich hungrig, aß das Brot jedoch nicht sofort – so sehr hatte mich das Verhalten des Deutschen verblüfft. Und als ich dann beschloß mit ihm ins Gespräch zu kommen, begriff ich, daß die Deutschen nicht alle gleich sind – und so verhält es sich auch grundsätzlich mit allen Menschen. Und noch mehr überzeugte mich das, als er mich nach einer Woche in einer anderen Werkstatt mit seinem Onkel bekannt machte, der sich als alter Kommunist erwies, und nach und nach noch mit weiteren Arbeitskameraden, die ich früher aus Furcht gemieden hatte. Wie groß war der Haß in den Worten des kleinen, mageren Hobelmannes, als er mir zuflüsterte: „Nazi nix gut; schlecht sind sie, die Nazis“. Und wieviel Stolz lag in den Worten des Alten, Helmuts Onkel, als er von seiner Bekanntschaft mit Kalinin erzählte und davon, daß er Lenins Rede gehört hatte.

Und da begriff ich dank dieser Leute, daß es im deutschen Volk noch progressive Kräfte gibt und daß sie sich im tiefsten Untergrund darauf vorbereiteten, im nötigen Augenblick von den Schultern der Völker Europas das schreckliche Ungeheuer abzuwerfen – den deutschen Faschismus.

Man darf nicht ein ganzes Volk, das der Welt so viele großartige Menschen und so fortschrittliche Ideen geschenkt hat, in nur wenigen Jahren in zivilisierte Wilde verwandeln, als die sie sich mir gegenüber nach den ersten Tagen meines Befindens in Deutschland zeigten.

Und als in mir der Gedanke aufkeimte aus dem Lager zu fliehen, da wußte ich, daß sie mir helfen würden. Und sie taten es tatsächlich. Helmut brachte Salz, ein Messer, Tabak, und – was das allerwichtigste war – er zeigt emir auf dem Werksgelände, an welcher Stelle ich mich am besten durch den Stacheldrahtzaun zwängen konnte. Ende Juni 1942 krochen Grigorij Klimow, Mischka aus Kujbyschew und ich während der Arbeitszeit in der Nachtschicht durch den Stacheldraht und machten uns auf den Weg nach Osten.

1956-1957

Nachwort
Erinnerungen von Aron Farberow

Ich lernte Maks Grigorewitsch Minz Ende 1954 oder wohl eher Anfang 1955 im Zentral-Krankenhaus des Oserlag kennen, das Djakow in seinem „Roman über das Erlebte“ beschreibt. Wie ich ins Krankenhaus gelangte und für mich selbst ganz unerwartet dort als Feldscher im Krankenblock für geschlossene Tuberkulose zu arbeiten begann, ist an sich schon interessant genug, hat jedoch mit Maks nichts zu tun. Der behandelnde Arzt im Block war ein gwisser Doktor Nussbaum, ein Jude aus Budapest, ein bemerkenswerter Mann. Die Ärzte wohnten außerhalb des Blocks, und einmal, alsi ich kurz zu ihm hereinschauen wollte, traf ich dort einen sitzenden Menschen an, der gleich meine gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog. Wir machten uns miteinander bekannt, und gingen nach kurzer Unterhaltung gemeinsam hinaus. Es stellte sich heraus, daß Maks im Therapie-Block tätig war, ein krankes Herz hatte und obendrein aus einer geheimnisvollen Lagerzone ins Krankenhaus geraten war, in der sich aufständische Häftlinge aus Norilsk befanden. Über diese Lagerzone gab es vielfältige Gerüchte: daß es kein gewöhnliches Lager war – eher ein Isoliergefängnis, dessen Insassen nicht zur Arbeit gingen, daß man bemüht war, sie nicht mit anderen Häftlingen zusammenzubringen, um sie nicht mit dem aufwieglerischen Geist anzustecken.

Von diesem Tag an begannen wir uns regelmäßig jeden Abend zu treffen, nachdem ich meine Feldscher-Pflichten erledigt hatte. Wir spazierten durch die öde, menschenleere Zone, und von Zeit zu Zeit gelang es mir, zwischen all dem Alltagsgerede, von Maks mal diesen, mal jenen Bericht über seine Vergangenheit zu hören.

Man muß dazu sagen, daß dieser ruhige, beherrschte Mann, von dem so eine große innere Stärke ausging, nicht gerade bestrebt war von sich zu berichten. Deswegen ist das Bild, das in meiner Erinnerung auftaucht und Maks’ Vergangenheit beschreibt, auch nur fragmentarisch. Außerdem sind seitdem 43 Jahre vergangen, alles ist verschwommen, und das Herz wird dir schwer, wenn du plötzlich an das Vergangene mit unerwarteter Klarheit zurückdenkst und und der heftige Schmerz des Verlustes dich durch und durch erfüllt, ohne dir die Möglichkeit zu geben dich auf irgendetwas zu konzentrieren. Dieser Schmerz ist wohl einer der Gründe, der mich unbewußt dabei stört, mich richtig zu erinnern. Ich will mich bemühen das, was mir bekannt ist, in chronologischer Reihenfolge darzustellen.

In einem unserer Gespräche erfuhr ich, daß Maks als Offizier in Weißrußland gewesen war, wenn mich das Gedächtnis nicht im Stich läßt. Während er dort war, verwendete er viel Zeit auf körperliche Vorbereitung, befaßte sich mit Gymnastik und Geräteturnen. Während dieser Zeit lernte er auch seine erste Frau kennen, und sie bekamen einen Sohn namens Lew. Von dort gelangte er an die M.W.-Frunse-Militärakademie, die er kurz vor Ausbruch des Krieges beendete. Danach wurde er zum Stabsleiter des Artillerie-Regiments ernannt.

1941 wurde das Regiment eingekesselt und, soweit ich mich entsinne, faßten sie damals den Entschluß, den Kessel gruppenweise zu verlassen.

Eines nachts näherte sich Maks dem Fluß, der bereits mit Eis bedeckt war. Am gegenüberliegenden Ufer hörte er, wie Leute sich auf Russisch unterhielten, aber an seinem Ufer waren die Deutschen. Als er den Fluß überqueren wollte, brach er auf der noch dünnen Eisdecke ein, und zwar so, daß er sich nicht mehr bewegen konnte. Die russischen Worte waren deutlich zu hören, und so begann er laut zu schreien und um Hilfe zu rufen. Die Russen hörten ihn jedoch nicht, dafür aber die Deutschen – sie kamen, zogen ihn heraus, und Maks geriet in Gefangenschaft. Als Michail Minakow kam er in ein Kriegsgefangenenlager, in dem ein Artillerie-Leutnant für das Dolmetschen zuständig war, der mit ihm – als Artillerist – sympathisierte. Der höchste Polizeiangehörige in diesem Lager war ein Ukrainer, der nicht glauben wollte, daß Maks Russe war – er war fest davon überzeugt, daß er es mit einem Juden und Kommunisten zu tun hatte. Der Leutnant verteidigte ihn, und die Sache endete damit, daß ein deutscher Offizier, ein Spezialist für Rassenfragen, ins Lager kam. Zu Maks’ großem Glück hatte sich die Wunde nach seiner Beschneidung infiziert, er bekam eine dermaßen schlimme Entzündung, daß die Naht später völlig untypisch aussah. Das machte Maks die simple Erklärung möglich, daß er in seiner Kindheit eine schwere Vorhautentzündung erlitt, die eine Operation erforderlich machte, bei der die Vorhaut entfernt wurde. Im Gespräch mit dem Deutschen stellte sich irgendwie heraus, daß Maks in seiner Jugend, ebenso wie sein Vater, Vegetarier gewesen war. Dieser Tatbestand entschied über sein Schicksal: der Spezialist für Rassenfragen erklärte, daß ein Jude nicht Vegetarier sein kann, denn das würde der jüdischen Religion widersprechen. Maks blieb im Lager. Aber der ranghöchste Polizeiangehörige blieb dabei, daß Maks ein Jude sein mußte. Am schwierigsten war der Gang ins Badehaus, denn dort mußte man sich ausziehen. In diesem Lager lernte Maks Adam Sten (heute – Adam Zur) kennen, einen polnischen Juden, der ihm zum guten Freund wurde.

Sie konnten sich beide nicht mit der Notwendigkeit ihres Lageraufenthaltes abfinden und beschlossen zu fliehen.

Maks floh insgesamt sechsmal aus Kriegsgefangenen- Lagern. In meinem Gedächtnis ist nur eine bruchstückhafte Erinnerung an seine Erzählungen über die Fluchtversuche zurückgeblieben. Ich habe schon gesagt, daß er sich nicht groß über seine Heldentaten ausließ. Ich weiß noch, daß sie sich während einem dieser Fluchtversuche nur von gefrorenen Kartoffeln ernährten, daß Bauern ihn mit Hilfe von Hunden in einem Dorf stellten, in dem er versucht hatte sich zu verstecken. Nach jeder Ergreifung brachten sie ihn in Lager, die immer weiter gen Westen lagen. Während einer anderen Flucht zwang ihn die Morgendämmerung sich in die Parkanlage einer deutschen Stadt zu begeben, wo er sich in einer Schlucht verbarg. Ein Kind von etwa drei-vier Jahren, das dort am Rande des Abgrunds spielte, sah ihn und begann zu schreien: „Mama, Mama, da ist ein Mann!“ – Die Mutter, hatte panische Angst, daß der Kleine hinabstürzen könnte, und befahl ihm zu ihr zurückzukommen.

Nach einer weiteren Flucht fand sich Maks in einem Kriegsgefangenenlager wieder, das sich in Deutschland befand. In diesem Lager wurde er, zusammen mit dem zukünftigen Sekretär des Zentralkomitees der Belgischen Kommunistischen Partei, einer der Anführer des organisierten Untergrund-Widerstandes. Ich weiß nicht mehr, aus welchem Grund die Anführer des Widerstandes beschlossen hatten, die Flucht für ihn und Adam Sten zu organisieren. Jedenfalls war sie sehr gut organisiert, und Maks und Adam schafften es fast bis nach Jugoslawien zu kommen. Unterwegs fiel der aufmerksame Blick der Gendarme, die die Passagiere im Zug überprüften, auf ihre nagelneuen Koffer. Das war gegen Kriegsende sicher eine ungewöhnliche Erscheinung. Sie wurden verhaftet. Einer der Verhörenden war aus der Stadt gebürtig, zu deren Einwohnern Maks angeblich zählte, und es gelang ihm recht schnell zu beweisen, daß Maks diese Stadt überhaupt nicht kannte. Sie wurden verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Nach einer Reihe schrecklicher Verhöre wegen mehrfacher Fluchtversuche und wohl auch wegen illegale Tätigkeiten wurde Maks zur Todesstrafe verurteilt.

Die Alliierten befreiten den Bezirk, in dem Minz bis zum eigentlichen Inkrafttreten des Urteils im Gefängnis saß, und er blieb am Leben. An einem der ersten Tage nach der Befreiung machte Maks ausfindig, wo sein Ermittlungsrichter wohnte. Er suchte ihn zuhause auf, in der Absicht ihn zu töten, falls er ihn dort antreffen würde. Als er an der Tür klopfte (oder klingelte), machte der Untersuchungsrichter ihm selber die Tür auf. Aufgrund des Lärms kamen auch seine Frau und sein kleiner Junge angelaufen. Während die Frau förmlich erstarrte, fragte der Kleine unaufhörlich: „Wer ist der Mann?“ – Maks konnte den Ermittlungsrichter nicht vor den Augen seiner Frau und seines Kindes umbringen.

Während seiner Rückkehr nach Hause lernte Maks Lida kennen; meiner Meinung nach war sie Krankenschwester, die an seinem Schicksal wesentlich beteiligt war. Man muß anmerken, daß, Maks, wenngleich er keine buchstäbliche Schönheit war, bei den Frauen Erfolg hatte. Mit Lida, die seine zweite Ehefrau wurde (die erste verließ ihn, während er sich in Kriegsgefangenschaft befand), kehrte er nach Moskau zurück, wo er als Leiter beim Bau der Gas-Pipeline Moskau – Omsk tätig war.

1947, als viele von denen festgenommen wurden, die in Kriegsgefangenschaft gewesen und, wie das Ministerium für Staatssicherheit meinte, aus verdächtigen Gründen am Leben geblieben waren, verhafteten sie auch Maks. Man beschuldigte ihn der Komplicenschaft mit den Deutschen. Als er darum bat, doch den Sekretär des Zentralkomitees der Belgischen Kommunistischen Partei als Zeugen zu befragen, verkündete der Untersuchungsrichter, daß jener ebenfalls mit den Deutschen zusammengearbeitet hätte und sie ihn auch noch kriegen würden. Maks wurde auf Beschluß eines Sonderkollegiums in die Norilsker Lager geschickt.

Er bekam 15 Jahre. Er schrieb Lida, daß sie nicht auf ihn warten und einen anderen heiraten sollte. In seinen Erzählungen über diesen Zeitraum beschrieb Maks insbesondere die schweren Wetterbedingungen in Norilsk. Er sagte mir aber nichts über seine Rolle während des Aufstandes und die Gründe, die den Widerstand ausgelöst hatten. Aber vielleicht hat er auch ein wenig darüber berichtet, ohne die Ereignisse hervorzuheben, und ich kann mich nur nicht mehr daran erinnern.. Ich weiß bloß noch, daß er ziemlich wenig sprach und daß ehemaliger Norilsker (Lagerinsassen; Anm. d. Übers.) – West-Ukrainer - während seines Aufenthaltes im Krankenhaus zu ihm kamen und einen Ratschlag darüber einholen wollten, was sie mit einem ihrer Landsleute machen sollten, den sie der Homosexualität überführt hatten; und Minz wurde von ihnen Batko (Väterchen; Anm. d. Übers.) genannt.

Im Sommer 1955 wurde Maks abgeschrieben. Er kehrte nach Moskau zurück. Man nahm ihn wieder in die Partei auf, gab ihm seine Armee-Titel zurück und entließ ihn anschließend aus der Armee zur Reserve. Erneut begann er beim Bau der Gas-Pipeline zu arbeiten. Als Lida, die inzwischen geheiratet und einen Sohn bekommen hatte, von seiner Rückkehr erfuhr, wollte sie zu ihm zurückkehren, aber Maks konnte sie dazu überreden, nicht ihre Familie zu zerstören.

Er selbst lernte eine jüdische Frau namens Nadja kennen, mit der er dann auch die Ehe einging. Sie gebar ihm seinen zweiten Sohn – Arthur. Bald darauf war er sich ganz sicher, dass Nadja ihn betrog, und so verließ er sie.

Etwas später machte er, ein zweifellos talentierter Mann, seinen Doktor auf dem Gebiet der Bauwissenschaften und arbeitete dann am Bau-Institut als wissenschaftlicher Mitarbeiter im gehobenen Dienst. In dieser Zeit heiratete Maks ein weiteres Mal. Seine Frau Doba, eine Geologin, mit der er bis zum Ende seines Lebens zusammenblieb, schenkte ihm seinen dritten Sohn – Viktor.

Maks Minz ist ein legendärer Mann mit einem ungewöhnlichen Schicksal, ein hochanständiger treuer Freund und Kamerad. Er war ein guter Jude und Zionist. Er war es, der mich mit Michail Margulis zusammenführte, als er von meinen erfolglosen Versuchen erfuhr, eine Einladung zur Ausreise nach Israel zu erhalten. Margulis organisierte diese Einladung für mich. Michail Magulis schrieb über Minz’ Verbindungen mit Aktivisten in Moskau. M.G. Minz’ zionistisches Wesen kann ich, der ich ihn selbst und seinen Vater kannte, bezeugen, wobei ich mich auf Gespräche mit ihm beziehen und stützen kann. Er wollte nach Israel gehen, konnte dies jedoch aufgrund familiärer Umstände nicht tun. Zum letzten Mal sah ich ihn auf dem Flughafen am Tag meines Abflugs nach Israel – trotz einer Lungenentzündung und Fieber war er gekommen, um uns zu verabschieden.

Mögen wir ihn in dankbarer Erinnerung behalten!

Aus dem Buch
„Gefangen unter Hitler und Stalin“
Jerusalem, 1999


Zum Seitenanfang